Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 13.04.2000

OVG NRW: geistige behinderung, unterricht, diagnose, zusammenarbeit, gutachter, training, kunst, werken, hindernis, sonderschule

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 B 333/00
Datum:
13.04.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 B 333/00
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 2 L 1689/99
Tenor:
Der Antrag wird auf Kosten der Antragstellerin abgelehnt.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 4.000,-- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der Antrag hat keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen für die Zulassung der
Beschwerde (§ 146 Abs. 4 und 5 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 VwGO) nicht vorliegen.
2
Von den Zulassungsgründen des § 124 Abs. 2 VwGO macht die Antragstellerin mit
ihren Darlegungen in der Antragsschrift zwar ohne ausdrückliche Bezeichnung, in der
Sache aber noch hinreichend deutlich sinngemäß lediglich den Zulassungsgrund des
Bestehens ernstlicher Zweifel an der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124
Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend. Aus den von der Antragstellerin dargelegten Gründen, die
den Rahmen der gerichtlichen Prüfung abstecken, weil die Gründe, aus denen die
Beschwerde zuzulassen ist, in dem Antrag darzulegen sind (§ 146 Abs. 5 Satz 3
VwGO), bestehen aber solche ernstlichen Zweifel nicht.
3
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruht zunächst auf der Überzeugung, dass
die durch den Bescheid des Antragsgegners vom 5. Juli 1999 gemäß § 7 Abs. 4 des
Schulpflichtgesetzes, §§ 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1, § 6 der
Verordnung über die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die
Entscheidung über den schulischen Förderort (VO-SF) getroffene Feststellung eines
durch eine geistige Behinderung bedingten sonderpädagogischen Förderbedarfs der
Antragstellerin zutreffend ist. Das Verwaltungsgericht stützt sich dabei auf die vom
Antragsgegner eingeholten Gutachten: Im Gutachten der am Gemeinsamen Unterricht
an der K...schule beteiligten Lehrkräfte vom 10. November 1998 wird mit ausführlicher
Begründung von einem Förderschwerpunkt wegen geistiger Behinderung
ausgegangen. In der Stellungnahme vom 17. Januar 2000 hat der Schulleiter der
K...schule festgestellt, bei dem von Jahrgang zu Jahrgang steigenden Anspruchsniveau
seien deutliche Merkmale einer geistigen Behinderung hervorgetreten. Nach dem
4
Gutachten der H......-S......-Schule, Schule für Geistigbehinderte, vom 18. Oktober 1999
liegen die Leistungen der Antragstellerin in den durchgeführten Tests im Bereich der
geistigen Behinderung bzw. an der Grenze zur Lernbehinderung. Im Bericht vom 10.
Juni 1999 hat der Leitende Arzt der Kinderklinik des St. V......- Krankenhauses in P. , Dr.
med. K. , eine "mittelgradige geistige Behinderung" diagnostiziert; ferner hat das
Verwaltungsgericht dessen ergänzende Stellungnahme vom 5. November 1999
herangezogen.
Hiergegen sind in der Antragsschrift keine Aspekte vorgebracht worden, die ernstliche
Zweifel begründen könnten. Soweit die von Dr. K. gestellte Diagnose einer
"mittelgradigen geistigen Behinderung" als "untechnisch" benutzte Begrifflichkeit eines
nicht fachspezifischen, psychologischen oder "schulrechtlich qualifizierten" Arztes
hingestellt wird, ist die Aussagekraft der Diagnose und ihre rechtliche Relevanz nicht in
Frage gestellt. Zweifel an der fachlichen Qualifikation des Arztes sind mit dieser
pauschalen, durch nichts untermauerten Behauptung nicht in einer den
Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 5 Satz 3 VwGO genügenden Weise
aufgezeigt. Daher kann nicht festgestellt werden, dass die Diagnose für die Feststellung
einer geistigen Behinderung (§ 6 VO-SF) schon im Allgemeinen keinen Aussagegehalt
hätte; erst recht sind im Hinblick auf die detaillierten, zahlreiche Einzelbefunde
auswertenden Ausführungen in dem ärztlichen Bericht vom 10. Juni 1999 keine
durchgreifenden Zweifel an dessen Aussagegehalt begründet. Auch sonst fehlen
Anhaltspunkte dafür, dass die Diagnose im Hinblick auf die Art des
sonderpädagogischen Förderbedarfs missverständlich ausgedrückt wäre. Insofern wird
bereits verkannt, dass im Bericht vom 10. Juni 1999 eindeutig "übliche
Fördermaßnahmen für geistig behinderte Kinder" empfohlen werden, und ferner, dass
nicht allein die fachärztliche Aussage die streitige Feststellung des Förderbedarfs trägt.
Diese findet vielmehr ihre Grundlage auch in den teilweise auf eine lange Beobachtung
der Antragstellerin in der schulischen Lernsituation gestützten Gutachten bzw.
Stellungnahmen der schulischen Lehrkräfte; diesen kommt deshalb besonderes
Gewicht zu, weil bei der Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht
abstrakt auf die Beeinträchtigungen im Bereich der intellektuellen Funktionen
abzustellen ist, sondern auf das Maß der im schulischen Unterricht konkret einsetzbaren
Intelligenz. Auch die ergänzende Stellungnahme von Dr. K. vom 5. November 1999
bietet bei allen Schwierigkeiten im Einzelfall, eine Lernbehinderung im Sinne von § 5
Abs. 1 VO-SF von einer geistigen Behinderung abzugrenzen, keinen hinreichenden
Anhalt, den bei der Antragstellerin festgestellten Förderbedarf in Frage zu stellen. In
dieser Stellungnahme ist der Gutachter nicht von der Diagnose und der Empfehlung im
ärztlichen Bericht vom 10. Juni 1999 abgerückt; er zeigt vielmehr eine Differenzierung
zum Grad der geistigen Behinderung nach allgemeinen Zuordnungskriterien auf, die die
Behinderung der Antragstellerin nicht eindeutig aus dem Bereich der geistigen
Behinderung herausnimmt; sie rückt sie allenfalls in einen Grenzbereich zwischen
geistiger und Lernbehinderung. Dementsprechend schließt der Gutachter als Förderort
auch nicht eine Schule für Geistigbehinderte aus; er geht vielmehr davon aus, dass die
als erforderlich erachtete intensive sonderpädagogische Förderung nicht
notwendigerweise in einer solchen Schule erfolgen müsse, sondern auch im Rahmen
eines intensiven sonderpädagogischen Förderunterrichts in kleinen Gruppen im
Rahmen eines integrativen Förderunterrichts gewährleistet werden könne.
5
Vor dem Hintergrund dieser sachverständigen Erkenntnisse und Stellungnahmen
ergeben sich schließlich ernstliche Zweifel an dem festgestellten sonderpädagogischen
Förderbedarf und der Schule für Geistigbehinderte als geeignetem Förderort nicht aus
6
dem schulpsychologischen Untersuchungsbericht der regionalen Schulberatung des
Kreises P. vom 8. März 2000. Dieser mag, obschon nach Ablauf der Antrags- und
Darlegungsfrist des § 146 Abs. 5 VwGO vorgelegt, für die Prüfung des geltend
gemachten Zulassungsgrundes herangezogen werden, weil er in der Antragsschrift
bereits im Vorgriff in Bezug genommen worden und eine rechtzeitige Vorlage ersichtlich
nicht möglich gewesen ist.
Zwar wird in diesem Bericht ein differenziertes, tendenziell positiveres Bild von den
Leistungsmöglichkeiten und intellektuellen Fähigkeiten der Antragstellerin als in den
oben angeführten Gutachten und Stellungnahmen der schulischen Lehrkräfte
gezeichnet. Im Kern stimmen aber die Untersuchungsergebnisse insbesondere in den
Leistungsbereichen, in denen die Antragstellerin erhebliche "Schwächen" zeigte und
die den besonderen Förderbedarf begründen, mit den Erkenntnissen in den von den
schulischen Lehrkräften erstellten Gutachten bzw. Stellungnahmen weitgehend überein,
nämlich etwa unter den Aspekten Lernrhythmen und Lerntempi, habituelle Langsamkeit,
Konzentration, operative Flexibilität im Gedankenablauf, kognitive Umstellungsfähigkeit,
soziales Erfassen und sachliches Reflektieren, Assoziieren und Abstrahieren sowie
Perseveration. Insofern ist nicht ersichtlich, dass durch den Untersuchungsbericht vom
8. März 2000 die vorstehend erörterte Einschätzung in Frage gestellt wird; vielmehr
entsprechen die angeführten Einschränkungen und Beeinträchtigungen, wie in der
Stellungnahme des Leiters und der Sonderschullehrerin der H......-S......-Schule vom 23.
März 2000 zu dem Untersuchungsbericht nachvollziehbar hervorgehoben wird, dem
Lernverhalten eines geistigbehinderten Kindes. Soweit in dem Untersuchungsbericht im
Hinblick auf die Leistungsbereiche, in denen die Antragstellerin in den durchgeführten
Tests "Stärken" gezeigt hat, ausgeführt ist, dass von einer geistigen Behinderung nicht
durchgängig ausgegangen werden könne, vielmehr eine differenzierende Beurteilung
angezeigt sei, kann dahinstehen, ob die Testergebnisse aus den Gründen der
Stellungnahme vom 23. März 2000 nicht (hinreichend) aussagekräftig sind. Denn indem
der Untersuchungsbericht zu der Schlussfolgerung gelangt, der Ausprägungsgrad der
Behinderung der Antragstellerin schwanke abhängig vom jeweils geforderten
Leistungsmerkmal zwischen "geistiger Behinderung" und unterem "Normalbereich der
Intelligenz", wird damit festgestellt, dass in wesentlichen Leistungsbereichen die
Merkmale einer geistigen Behinderung gegeben sind. Damit wird der streitige
sonderpädagogische Förderbedarf also nicht in Frage gestellt, vielmehr im Einklang mit
den oben erörterten Gutachten und Stellungnahmen unterstrichen, was letztlich auch in
der Stellungnahme der H......-S......-Schule vom 23. März 2000 und in derjenigen des
Schulleiters der K...schule vom 23. März 2000 zu den dort herausgearbeiteten
Leistungsmerkmalen bzw. Lernbereichen bestätigt wird.
7
Soweit das Verwaltungsgericht, indem es eine geistige Behinderung im Sinne von § 6
VO-SF bejaht hat, zugleich auch vom Vorliegen der sonstigen rechtlichen
Voraussetzungen einer geistigen Behinderung und damit insbesondere auch davon
ausgegangen ist, dass die Antragstellerin zu ihrer selbständigen Lebensführung aller
Voraussicht nach lebenslange Hilfen benötigen wird -
8
vgl. zu den Voraussetzungen des § 6 VO-SF Senatsurteil vom 30. August 1996 - 19 A
800/96 - und Senatsbeschluss vom 8. Oktober 1997 - 19 A 4865/96 -,
9
sind in der Antragsschrift ernstliche Zweifel nicht ansatzweise dargetan worden.
10
Aus den von der Antragstellerin dargelegten Gründen bestehen auch keine ernstlichen
11
Zweifel daran, dass der Antragsgegner eine Schule für Geistigbehinderte als
schulischen Förderort bestimmt hat. Alle sachverständigen Aussagen stimmen darin
überein, dass die Antragstellerin einer umfassenden bzw. intensiven
sonderpädagogischen Förderung in kleinen Gruppen, möglichst ohne Wechsel der
Lehrperson, bedarf. Dies hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zu Grunde
gelegt. Es hat ferner darauf abgestellt, dass die Antragstellerin unter Berücksichtigung
ihres umfänglichen Förderbedarfs nicht annähernd weiter im Gemeinsamen Unterricht
an der K...schule gefördert werden kann und dass sie an der jetzt von ihr besuchten
Schule entsprechend ihrem Förderbedarf in der gebotenen Weise gefördert wird.
Hiergegen sind in der Antragsschrift Aspekte, die ernstliche Zweifel begründen könnten,
nicht aufgezeigt. Die pauschale Behauptung, die Antragstellerin erfahre keine sinnvolle
Beschulung, dafür verfüge die H......-S.....t-Schule nicht über ausreichendes Personal
und sächliche Mittel, genügt dafür nicht; sie ist in tatsächlicher Hinsicht nicht hinreichend
untermauert. Angesichts des Unterrichtsangebots, wie es in dem Gutachten der H......-
S......-Schule vom 18. Oktober 1999 und deren Stellungnahme vom 20. Dezember 1999
dargelegt ist, findet im Rahmen projektorientierten Unterrichts in den Bereichen
Menge/Zahl, Sprache/Schrift, Sachunterricht, Werken/Kunst, Hauswirtschaft/
Lebenspraktisches Training eine individuelle, an den Bedürfnissen, Interessen,
Erfahrungen und Ansprüchen des Schülers ausgerichtete Förderung statt; die
Behauptung, die Antragstellerin fühle sich unter Kindergartenniveau zurückversetzt,
entbehrt damit jeglicher Grundlage.
Auch bei Berücksichtigung des schulpsychologischen Untersuchungsberichts vom 8.
März 2000 sind derzeit hinreichende ernstliche Zweifel an der Bestimmung des
Förderorts nicht ersichtlich. Soweit darin der Umstand, dass die Antragstellerin durch die
Zusammenarbeit mit ihrer Zwillingsschwester in der Grundschule Anregung und
Förderung erfahren habe und dies ein ausgesprochen bedeutsames
Entwicklungspotenzial dargestellt habe, gegen die Zuweisung der Antragstellerin an die
H......-S......-Schule angeführt wird, hat dieser kein entscheidungserhebliches Gewicht.
Denn auch an der K...schule wurden die Schwestern in unterschiedlichen Klassen
unterrichtet, hat es also eine Zusammenarbeit im Unterricht nicht gegeben. Davon
abgesehen findet der Wunsch der gemeinsamen Beschulung der Schwestern bzw. das
damit einhergehende Förderpotenzial an dem andersartigen sonderpädagogischen
Förderbedarf, der - wie hier - unterschiedliche Förderorte bedingt, im Interesse einer für
beide Schwestern angemessenen Förderung seine Grenzen. Soweit schließlich als
Hindernis einer angemessenen Nutzung von Ressourcen für die Förderung das Fehlen
von Akzeptanz für die getroffene Entscheidung im Elternhaus angeführt wird, ist darauf
zu verweisen, dass insofern Einsicht und Mitwirkung des Elternhauses gefordert sind.
12
Aus den vorstehenden Gründen des Zulassungsrechts ist der Senat an einer Zulassung
der Beschwerde gehindert. Er sieht jedoch in Würdigung der vorliegenden Gutachten
und Stellungnahmen, insbesondere der Stellungnahme von Dr. K. vom 5. November
1999 zum Vorliegen einer grenzwertig mittelgradigen bzw. einer leichten
Intelligenzminderung und des letzten Absatzes des schulpsychologischen
Untersuchungsberichts vom 8. März 2000, wonach die Antragstellerin voraussichtlich -
zumindest in Teilbereichen - über die Lernziele der Schule für Geistigbehinderte hinaus
zu einer gewissen Selbständigkeit in der späteren Lebensbewältigung gelangen könne,
Veranlassung darauf hinzuweisen, dass hinreichender Grund besteht, den festgestellten
sonderpädagogischen Förderbedarf im Widerspruchsverfahren auch unabhängig von
der Zeitbestimmung in § 14 Abs. 1 VO-SF zu überprüfen. Hierbei sollten die
Voraussetzungen des § 6 VO-SF, nämlich dass u. a. "hochgradige Beeinträchtigungen
13
im Bereich der intellektuellen Funktionen" vorliegen müssen mit der Folge, dass die
Antragstellerin "zu ihrer selbständigen Lebensführung aller Voraussicht nach
lebenslange Hilfen" benötigt, verstärkt in den Blick genommen werden. Ferner sollte der
Frage nachgegangen werden, ob anstelle der bis zum Schuljahr 1999/2000 erfolgten
Beschulung im Gemeinsamen Unterricht einer integrativen Klasse als einziger
angemessener Förderort eine Schule für Geistigbehinderte in Betracht kommt oder nicht
eher - hier als Zwischenstufe - eine Sonderschule für Lernbehinderte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1, 14 des Gerichtskostengesetzes (GKG).
14
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).
15