Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 04.03.2009

OVG NRW: wiedereinsetzung in den vorigen stand, zustellung, bekanntgabe, ende der frist, die post, geschäftsjahr, fristberechnung, vollstreckung, begriff, irrtum

Oberverwaltungsgericht NRW, 5 A 924/07
Datum:
04.03.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 A 924/07
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 9 K 2347/06
Tenor:
Das auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2007 ergangene
Urteil des Verwaltungsgerichts Köln wird geändert.
Der Beitragsbescheid des Beklagten vom 25. Oktober 2004 in der
Gestalt seines Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2006 wird
insoweit aufgehoben, als mit ihm für das Geschäftsjahr 2004 monatliche
Beiträge von mehr als 401,96 EUR festgesetzt worden sind.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der
Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden
Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 7.227,48 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
I.
2
Der Kläger ist Mitglied des Beklagten und entrichtet an diesen einkommensbezogene
Beiträge. Mit Bescheid vom 16. Februar 2004 wurde sein Beitrag für das Geschäftsjahr
2004 vorbehaltlich des Einkommensnachweises für das Jahr 2002 durch Vorlage des
entsprechenden Einkommensteuerbescheids vorläufig festgesetzt. Da der Kläger den
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Einkommensbescheid für das Jahr 2002 in der Folgezeit trotz Aufforderung nicht
vorlegte, setzte der Beklage den Beitrag des Klägers mit Bescheid vom 25. Oktober
2004 auf den Regelpflichtbeitrag in Höhe von monatlich 1.004,25 EUR fest. Die dem
Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung - soweit hier von Interesse - lautet:
"Gegen diesen Bescheid können Sie innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe
Widerspruch erheben". Der Bescheid wurde entsprechend der Anordnung im Adressfeld
mit Einschreiben gegen Rückschein an die Kanzleiadresse des Klägers übersandt. Der
Kläger betreibt seine Einzelkanzlei in Räumen des elterlichen Wohnhauses. Frau F. C. ,
die Mutter des Klägers, bestätigte den Empfang des Bescheids unter dem 27. Oktober
2004. Im Rückschein ist sie als Ehefrau des Empfängers vermerkt.
Am 4. April 2005 legte der Kläger gegen den Bescheid Widerspruch ein und beantragte
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte er aus, er habe den
Beitragsbescheid nicht auffinden können. Er müsse daher davon ausgehen, den
Bescheid nicht erhalten zu haben. Er habe von dem Beitragsbescheid erst am 21. März
2005 durch ein entsprechendes Telefax des Beklagten Kenntnis erhalten. In der Sache
trug er vor, der festgesetzte Höchstbeitrag entspreche nicht den Einnahmen. Den
Einkommensnachweis werde er nachreichen.
4
Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit am 5. April 2006 zugestelltem
Bescheid vom 16. Februar 2006 als unzulässig zurück, weil der angefochtene Bescheid
durch Aushändigung an die Ehefrau am 27. Oktober 2004 zugestellt worden,
Widerspruch aber erst am 4. April 2005 eingelegt worden sei. Gründe für eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht vorgetragen worden.
5
Am 5. Mai 2006 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat im Wesentlichen geltend gemacht,
der angefochtene Bescheid sei nicht von seiner Ehefrau entgegen genommen worden;
er sei nicht verheiratet und habe keinen Empfangsbevollmächtigten. Ihm sei daher
Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist zu gewähren. Der Bescheid vom 25. Oktober
2004 habe zumindest nicht an seine Mutter übergeben werden dürfen, da sie nicht seine
Zustellungs- oder Postempfangsbevollmächtigte sei. Auch sei sie nicht in seinen
rechtsanwaltlichen Bürobetrieb eingebunden. Im Übrigen beziehe er sich auf den mit
Schriftsatz vom 25. Juli 2006 übersandten Einkommensteuerbescheid für das Jahr
2002, der am 7. Oktober 2003 ergangen sei.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Beitragsbescheid vom 25. Oktober 2004 und den Widerspruchsbescheid vom 16.
Februar 2006 insoweit aufzuheben, als mit ihm für das Geschäftsjahr 2004 Beiträge von
mehr als 401,96 Euro festgesetzt worden sind.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat geltend gemacht, die Mutter des Klägers habe in einem Zeitraum von über zehn
Jahren immer wieder die Post für den Kläger entgegen genommen. Eine
Neufestsetzung des Beitrags aufgrund des nunmehr vorgelegten
Einkommensnachweises für 2002 komme wegen der Bestandskraft des
Beitragsbescheids nicht mehr in Betracht.
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Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und
zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der mit einer ordnungsgemäßen
Rechtsbehelfsbelehrung versehene Beitragsbescheid sei bestandskräftig. Der Bescheid
sei dem Kläger gemäß § 1 Abs. 1 Landeszustellungsgesetz - LZG NRW - i.V.m. § 4 Abs.
1 Verwaltungszustellungsgesetz - VwZG - (in der bis zum 31. Januar 2006 geltenden
Fassung) am 29. Oktober 2004 wirksam zugestellt worden. Der Kläger müsse die
Übergabe der Einschreibesendung an seine Mutter am 27. Oktober 2004 gegen sich
gelten lassen, weil die Mutter Empfangsberechtigte im Sinne der Allgemeinen
Geschäftsbedingungen der Post sei. Wiedereinsetzungsgründe seien weder
vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden.
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Durch Beschluss vom 28. November 2008 hat der Senat die Berufung zugelassen. Zur
Berufungsbegründung vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen und trägt
ergänzend vor: Die Rechtsbehelfsbelehrung habe die Widerspruchsfrist nicht in Gang
gesetzt, weil sie fehlerhaft gewesen sei. Gerade bei Zustellung mittels
eingeschriebenen Briefs könnten Zustellung und Bekanntgabe auseinander fallen.
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Der Kläger beantragt,
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unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach seinem Klageantrag erster Instanz zu
erkennen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und führt ergänzend aus: Die
Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheids sei fehlerfrei gewesen. Zwar sei
die Bekanntgabe mit der Zustellung nicht gleichzusetzen, sondern der umfassendere
Begriff. Der angefochtene Bescheid habe jedoch lediglich bekannt gegeben werden
müssen und anders als ein Widerspruchsbescheid keiner Zustellung bedurft. Die
Bekanntgabe sei hier in der besonderen Form der Zustellung erfolgt. Zudem seien im
konkreten Fall Bekanntgabe und Zustellung zeitlich zusammen gefallen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug
genommen.
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II.
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Der Senat kann gemäß § 130 a Satz 1 VwGO über die Berufung durch Beschluss
entscheiden, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gemäß §§ 130a Satz 2, 125 Abs. 2 Satz
3 VwGO gehört worden.
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Die Klage hat Erfolg.
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1. Sie ist zulässig. Das Vorverfahren ist ordnungsgemäß durchgeführt worden. Der
Kläger hat gegen den Beitragsbescheid vom 25. Oktober 2004 am 4. April 2005
fristgerecht Widerspruch erhoben. Der Widerspruch konnte gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1
VwGO innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung eingelegt
23
werden, weil die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig ist.
Fehlerhaft ist eine Rechtsbehelfsbelehrung dann, wenn sie die in § 58 Abs. 1 VwGO
zwingend geforderten Mindestangaben nicht enthält oder wenn diesen Angaben ein
unzutreffender oder irreführender Zusatz beigefügt ist, der sich generell eignet, die
Einlegung des Rechtsbehelfs zu erschweren.
24
Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1990 - 8 C 70.88 -, NJW 1991, 508.
25
Die hier zu beurteilende Rechtsmittelbelehrung ist irreführend. Sie belehrt darüber, dass
die Widerspruchsfrist mit der "Bekanntgabe" des Bescheids beginne. Diese
Formulierung war geeignet, die Einlegung des Rechtsbehelfs zu erschweren, weil der
Bescheid auf behördliche Anordnung per Einschreiben mit Rückschein zugestellt
wurde. Zwar ist der Widerspruch gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO innerhalb eines
Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben. Mit der Anordnung der
Bekanntgabe durch Zustellung unterliegt die Bekanntgabe jedoch in gleicher Weise den
Regelungen des Zustellungsrechts wie in den Fällen, in denen die Zustellung
gesetzlich vorgeschrieben ist (vgl. § 1 Abs. 2 LZG NRW).
26
Dazu auch Sadler, VwZG, 6. Aufl. 2006, § 1 Rn. 14 f.
27
Die Rechtsbehelfsbelehrung weist hierauf nicht hin, sondern belässt es bei der
allgemeinen Formulierung "Bekanntgabe" anstatt "Zustellung". Zwar erfolgte die
Bekanntgabe im konkreten Fall gerade im Wege der Zustellung (§ 41 Abs. 5 VwVfG
NRW). Auch ist es nicht erforderlich, in einer Rechtsbehelfsbelehrung auf sämtliche
Modalitäten einer Fristberechnung hinzuweisen.
28
BVerwG, Urteil vom 14. Juni 1983 - 6 C 162.81 -, Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 132;
BayVGH, Beschluss vom 2. Februar 1977 - 685 VII 76 -, BayVBl. 1977, 341.
29
Das Risiko einer Falschberechnung kann dem Empfänger aber nur insoweit zugemutet
werden, als ihm die für die Fristberechnung notwendigen Fakten, insbesondere der
Anfangszeitpunkt der Frist, entsprechend den gesetzlichen Vorschriften angegeben
werden und er anhand dieser Angaben die Frist berechnen kann.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 1972 - XI B 518/70 -, NJW 1973, 165, 166.
31
Diesen Anforderungen wird die hier in Rede stehende Rechtsbehelfsbelehrung nicht
gerecht. Indem sie nicht auf die tatsächlich eingeleitete Zustellung hinwies, die wegen
ihrer behördlichen Anordnung für den Lauf der Widerspruchsfrist maßgeblich war,
konnte die Belehrung einen Irrtum des Adressaten über den Beginn der
Rechtsbehelfsfrist hervorrufen und dadurch die rechtzeitige Widerspruchserhebung
unzumutbar erschweren. Anders als bei der Zustellung mit Zustellungsurkunde oder
gegen Empfangsbekenntnis ist die Zustellung durch Einschreiben zumindest nach der
hier noch maßgeblichen Regelung in § 4 Abs. 1 VwZG in der bis zum 31. Januar 2006
geltenden Fassung (im Folgenden: VwZG a. F.) aus Sicht des Empfängers nicht
zweifelsfrei stets zugleich die Bekanntgabe. Nach dieser Vorschrift wird die Zustellung
am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post fingiert. Demgegenüber ist für den Adressaten
unklar, ob die Bekanntgabe, auf die die Rechtsbehelfsbelehrung hinweist, davon
abweichend schon im Zeitpunkt des Zugangs im Sinne des entsprechend anwendbaren
§ 130 BGB erfolgt.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1994 - 4 B 212.93 -, Buchholz 316 § 41 Nr. 2;
von diesem Bekanntgabezeitpunkt geht das BVerwG auch aus in seinem Urteil vom 27.
April 1990 - 8 C 70.88 -, NJW 1991, 508, und seinem Beschluss vom 31. Mai 2006 - 6 B
65.05 -, NVwZ 1006, 943; so auch OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 1972 - XI B
518/70 -, NJW 1973, 165.
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Die Unklarheit wird nicht dadurch bereinigt, dass ein Adressat durch den Hinweis in der
Rechtsbehelfsbelehrung auf die Regelungen über die Bekanntgabe von
Verwaltungsakten, insbesondere auf § 41 Abs. 2 VwVfG NRW, stoßen und wegen der
dort geregelten Fiktion, die § 4 Abs. 1 VwZG a. F. entspricht, zufällig den Fristablauf der
Sache nach zutreffend ermitteln könnte. Denn § 41 Abs. 2 VwVfG NRW gilt nur für die
Bekanntgabe mit einfacher Post im allgemeinen Briefverkehr und ist gerade wegen der
gewählten Bekanntgabeform der Zustellung nicht anwendbar.
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Vgl. Hennecke, in: Knack, VwVfG, 8. Aufl. 2004, § 41 Rn. 18; zu weiteren möglichen
Unklarheiten in diesem Zusammenhang BSG, Urteil vom 6. Dezember 1996 - 13 RJ
19/96 -, NVwZ 1998, 109 und VG Oldenburg, Gerichtsbescheid vom 10. September
2008 - 7 A 533/07 -, juris, Rn. 28.
35
Da der Begriff "Zustellung" weder im Bescheid noch in der Rechtsbehelfsbelehrung
erscheint, wird der Empfänger dagegen den Hinweis in § 41 Abs. 5 VwVfG NRW auf die
besonderen Vorschriften über die Bekanntgabe mittels Zustellung nicht ohne Weiteres
für einschlägig halten.
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Diese Unklarheiten für den Empfänger können sich auf die Einlegung des
Rechtsbehelfs auswirken. Eine Frist, die möglicherweise ab Zugang des Bescheids
läuft, kann bei der gebotenen generellen Betrachtung früher ablaufen als diejenige Frist,
die von dem fiktiven Zustellungszeitpunkt an rechnet. Dementsprechend kann die
irreführende Formulierung dazu führen, dass zum Ende der Frist die Einlegung eines
Widerspruchs in der durch die Rechtsbehelfsbelehrung ausgelösten fehlerhaften
Vorstellung unterbleibt, die Frist sei bereits abgelaufen, obwohl sie in Wirklichkeit noch
läuft.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25. Februar 2000 - 14 A 4921/99 -, NVwZ 2001, 212.
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Unerheblich ist, ob über den Fristablauf im Einzelfall nur deshalb kein Zweifel entstehen
kann, weil die Frist - etwa wegen der Berücksichtigung von Sonnabenden, Sonn- und
Feiertagen - bei allen denkbaren Fristberechnungen an demselben Tag endet. Für die
Fehlerhaftigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung kommt es allein auf die generelle
Eignung an, durch einen möglichen Irrtum die Einlegung des Rechtsbehelfs zu
erschweren. Ob eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft ist, kann deshalb nicht davon
abhängen, ob im konkreten Fall Zustellung und Bekanntgabe überhaupt auseinander
fallen und inwieweit sich dies gegebenenfalls auf die Fristberechnung auswirkt.
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Ähnlich OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 1972 - XI B 518/70 -, NJW 1973, 165, 166.
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2. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Beitragsbescheid ist rechtswidrig
und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit er für das Jahr 2004 einen
monatlichen Beitrag von mehr als 401,96 EUR festsetzt. Er hat gemäß § 30 Abs. 2 der
Satzung des Beklagten einen Beitrag gemäß dem Beitragssatz der gesetzlichen
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Rentenversicherung für das Jahr 2004 von 19,5 % zu zahlen, weil das für den Beitrag
des Jahres 2004 maßgebliche Einkommen des Klägers im Jahr 2002 die
Beitragsbemessungsgrenze nicht erreichte. Bei einem durch Vorlage des
Einkommensteuerbescheids nachgewiesenen zu versteuernden Einkommen von
24.736,-- EUR ergibt sich nach der zutreffenden Berechnung im Gerichtsbescheid vom
22. August 2006 ein monatlicher Beitrag von 401,96 EUR.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 3 GKG.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht
vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).
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