Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.06.1998

OVG NRW (getrennt lebende ehefrau, ewg, antragsteller, ausländerrecht, ausweisungsgrund, aufenthaltserlaubnis, verwaltungsgericht, sozialhilfe, verhalten, ausländer)

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 B 3137/96
Datum:
03.06.1998
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 B 3137/96
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 24 L 1566/96
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für die Beschwerdeinstanz auf 4.000,- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet.
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Das Verwaltungsgericht hat dem Aussetzungsantrag zu Recht stattgegeben.
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Aufgrund der sich nach Aktenlage darstellenden Sach- und Rechtslage ist bei
summarischer Prüfung davon auszugehen, daß der Antragsteller einen Anspruch auf
Verlängerung der begehrten Aufenthaltserlaubnis hat. Demzufolge überwiegt das
Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der kraft Gesetzes (§ 72 Abs. 1 AuslG)
vollziehbaren Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. März 1996.
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Der Antragsteller hat allerdings keinen Anspruch auf Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis nach den Bestimmungen des Ausländergesetzes. Ein Anspruch
nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 iVm Abs. 2 Satz 2 AuslG scheidet nach Auflösung der ehelichen
Lebensgemeinschaft aus. Der Antragsteller kann sich auch nicht auf ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG in der Fassung vom 29. Oktober
1997 (BGBl. I 2584) berufen. Insoweit sind Anhaltspunkte für das Vorliegen einer
außergewöhnlichen Härte im Sinne der Vorschrift weder dargetan noch sonst
ersichtlich.
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Bei summarischer Prüfung kann der Antragsteller jedoch einen Anspruch auf Erteilung
der Aufenthaltserlaubnis aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 herleiten. Dessen
Voraussetzungen sind nach Aktenlage gegeben. Der Antragsteller war im
maßgeblichen Zeitpunkt des Ablaufs der zuletzt erteilten Aufenthaltserlaubnis am 30.
Oktober 1995 unstreitig seit November 1993 bei dem selben Arbeitgeber ohne
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Unterbrechung mit entsprechender Arbeitserlaubnis - und damit länger als ein Jahr -
beschäftigt. Demzufolge hat der Antragsteller, der rechtzeitig seinen
Verlängerungsantrag gestellt hat und auch weiterhin bei seinem Arbeitgeber beschäftigt
ist, einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erlangt.
Dem Anspruch steht nicht - wie der Antragsgegner meint - entgegen, daß die vom
Antragsteller getrennt lebende Ehefrau in der Vergangenheit Hilfe zum Lebensunterhalt
bezogen hat und gegebenenfalls noch bezieht.
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Zutreffend hat das Verwaltungsgericht die Anwendbarkeit des vom Antragsgegner
herangezogenen Versagungsgrundes nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 AuslG auf Ansprüche nach
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verneint. Dies folgt ungeachtet gemeinschaftsrechtlicher
Bestimmungen schon daraus, daß diese Bestimmung auf gesetzliche Ansprüche im
Sinne des § 6 Abs. 1 AuslG keine Anwendung findet.
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Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 7 AuslG Rdnr. 13; Kanein/Renner, Ausländerrecht,
6. Auflage, § 7 AuslG Rdnr. 11 und Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen
Ausländergesetz, S. 53.
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Ein gesetzlicher Anspruch ist nur gegeben, wenn das Gesetz die Behörde unmittelbar
verpflichtet, bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen eine
Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen; ist die Erteilung in das Ermessen der
Ausländerbehörde gestellt, begründet auch eine Ermessensreduzierung auf Null keinen
gesetzlichen Anspruch.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 9.95 -.
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Der Anspruch aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 ist ein gesetzlicher Anspruch
in diesem Sinne. Liegen dessen Voraussetzungen vor, hat der türkische Arbeitnehmer
einen Anspruch auf Erteilung bzw. Verlängerung der begehrten Aufenthaltserlaubnis,
ohne daß der Ausländerbehörde Ermessen eingeräumt wäre.
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Vgl. EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1992 - Rs.C-237/91 (Kus) -, InfAuslR 1993, 41;
BVerwG, Urteil vom 24. Januar 1995 - 1 C 2.94 -, InfAuslR 1995, 223 und Urteil vom 29.
April 1997 - 1 C 3.95 -, EZAR 029 Nr. 6.
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Der Einordnung dieses Anspruchs als gesetzlicher Anspruch im Sinne des § 6 Abs. 1
AuslG steht nicht entgegen, daß dieser seine Grundlage außerhalb des
Ausländergesetzes hat. Denn auch auf dem Völkervertragsrecht beruhende Ansprüche
können gesetzliche Ansprüche sein.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 9.95 -, InfAuslR 1997, 355; Bay. VGH, Urteil
vom 2. Dezember 1997 - 10 B 97.1948 -, InfAuslR 1998, 164 (166).
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Zu diesen Ansprüchen zählt auch Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80, weil der
Assoziationsratsbeschluß einen integrierenden Bestandteil der
Gemeinschaftsrechtsordnung bildet.
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Vgl. EuGH, Urteil vom 20. September 1990 - Rs.C-192/89 (Sevince) -, InfAuslR 1991, 2.
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Das Verwaltungsgericht hat darüber hinaus auch zu Recht das Vorliegen eines
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Versagungsgrundes im Sinne des § 7 Abs. 2 Nr. 1 iVm § 46 Nr. 6 AuslG verneint. Nach
§ 7 Abs. 2 Nr. 1 AuslG wird die Aufenthaltsgenehmigung in der Regel versagt, wenn ein
Ausweisungsgrund vorliegt. Ein Ausweisungsgrund kann sich aus § 46 Nr. 6 AuslG
ergeben, wenn der Ausländer u. a. für sich oder seine Familienangehörigen, die sich im
Bundesgebiet aufhalten und denen er allgemein zum Unterhalt verpflichtet ist,
Sozialhilfe in Anspruch nimmt. Bereits der Wortlaut der Norm legt es nahe, ihren
Anwendungsbereich auf ausländische Familienangehörige und sonstige
Unterhaltsberechtigte zu beschränken. Zwar erfaßt die uneingeschränkte Formulierung
"seine Familienangehörigen" vom Ansatz her auch deutsche Ehegatten. Doch wird
durch den sich anschließenden Halbsatz der Anwendungsbereich der Norm auf
Familienangehörige begrenzt, die sich im Bundesgebiet aufhalten. Da aber der
gewöhnliche Aufenthalt des deutschen Familienangehörigen im Bundesgebiet
anspruchsbegründend ist (vgl. § 23 Abs. 1 und 3 AuslG), der deutsche
Familienangehörige, von dem der Ausländer sein Aufenthaltsrecht ableitet, sich deshalb
ohnehin regelmäßig im Bundesgebiet aufhält, ergäbe die Anknüpfung an den Aufenthalt
im Bundesgebiet in § 46 Nr. 6 AuslG bezogen auf den deutschen Familienangehörigen
keinen Sinn.
Diese einschränkende Interpretation des § 46 Nr. 6 AuslG entspricht auch dem in den
Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Zweck der Norm. Die amtliche
Begründung zu § 46 Nr. 6 AuslG
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- vgl. BT-Drucks. 11/6321, abgedruckt bei Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches
Ausländerrecht, 3. Auflage vor § 46 -
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nennt einleitend als Ausweisungsgrund die Sozialhilfebedürftigkeit der durch "ein
Aufenthaltsrecht".... "Begünstigten". Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß nur der
Sozialhilfebezug ausländischer Familienangehöriger als Ausweisungsgrund in Betracht
kommen kann. Die vom Antragsgegner zur Begründung seiner gegenteiligen
Auffassung herangezogene Passage der Begründung ("Die Sozialbedürftigkeit betrifft
den Ausländer selbst und alle Familienangehörigen, denen gegenüber er
unterhaltsverpflichtet ist...") ist mit den einleitenden allgemeinen Ausführungen im
Zusammenhang zu sehen. Dies wird besonders deutlich durch die nachfolgende
Gleichstellung der unterhaltsberechtigten Angehörigen mit solchen Personen, "deren
Aufenthaltsgenehmigung auf der Unterhaltsgewährung durch den Ausländer beruht."
Schließlich kann in Fällen der vorliegenden Art - worauf das Verwaltungsgericht
zutreffend hingewiesen hat - der auf § 46 Nr. 6 AuslG gestützte Ausweisungsgrund auch
nicht seine eigentliche Funktion erfüllen. Die Ausweisung wegen Inanspruchnahme von
Sozialhilfe dient dem Schutz der öffentlichen Haushalte vor dauernden finanziellen
Belastungen. Dieser Schutzzweck kann aber nicht erreicht werden, wenn die
Sozialhilfebedürftigkeit des deutschen Familienangehörigen durch die
Aufenthaltsbeendigung des selbst nicht Sozialhilfe beziehenden Ausländers nicht
beseitigt wird.
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Vgl. VG Düsseldorf, Beschluß vom 19. August 1993 - 24 L 2782/93 -, InfAuslR 1993,
344; Heilbronner, Ausländerrecht, § 46 AuslG, Rdn. 59, Gemeinschaftskommentar zum
Ausländerrecht, § 46 AuslG, Rdn. 119.
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So aber liegt es hier. Anders mag es sich hingegen verhalten, wenn der
Sozialhilfebezug des deutschen Familienangehörigen auf einer
Unterhaltspflichtverletzung des Ausländers beruht. In einem solchen Fall kann der
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Ausweisungsgrund des § 46 Nr. 2 AuslG erfüllt sein. Daß ein solcher Fall hier vorliegt,
hat der Antragsgegner selbst nicht geltend gemacht. Dafür ergeben sich nach Aktenlage
auch unter Berücksichtigung der Höhe des Einkommens des Antragstellers keine
greifbaren Anhaltspunkte, so daß etwaige Unklarheiten im Sachverhalt zu Lasten des
Antragsgegners gehen.
Darüber hinaus ist der hier in Rede stehende Sozialhilfebezug der Ehefrau des
Antragstellers schon unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts ohnehin nicht geeignet,
die sich aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 ergebende Rechtsposition des
Antragstellers in Frage zu stellen.
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Die sich aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ergebenden Rechte stehen allein unter dem
Vorbehalt des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Inhaltlich deckt sich nach der
Senatsrechtsprechung
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- vgl. Beschluß vom 29. April 1993 - 18 B 4386/92 -, InfAuslR 1993, 288 -
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Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem Vorbehalt in Art. 48 Abs. 3 EGV, der in der Richtlinie
Nr. 64/221 des Rates der EWG seine Ausprägung gefunden, die ihrerseits durch § 12
AufenthG/EWG ihre Umsetzung in nationales Recht erhalten hat. Danach können
aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen gegenüber einem Freizügigkeitsberechtigten im
Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG/EWG nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung,
Sicherheit oder Gesundheit im Sinne des Art. 48 Abs. 3, 56 Abs. 1 EGV ergriffen werden
(vgl. § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG). Der Aufenthalt eines Freizügigkeitsberechtigten darf
nur beschränkt werden, wenn dessen weitere Anwesenheit oder sein Verhalten eine
tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung
darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
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Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Mai 1989 - Rs 249/86 -, Slg. 1989, 1286 (1291); Hailbronner,
Ausländerrecht, Kommentar, § 12 AufenthG/EWG Rdnr. 16.
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Ob der Bezug von Sozialhilfe durch EG-Angehörige bei Beibehaltung ihrer
Arbeitnehmereigenschaft die vorstehenden Voraussetzungen erfüllt,
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vgl. dazu (verneinend) Groeben/ Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag,
5. Auflage, Art. 48 Rdnr. 103; Hailbronner, a.a.O., Rdnr. 51 f., Bay.VGH, Beschluß vom
9. Mai 1983 - Nr. 10.B-2212/79 -, InfAuslR 1983, 242 (243),
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bedarf hier keiner Entscheidung. Denn es fehlt jedenfalls an der weiteren
Voraussetzung für den Erlaß aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegenüber den
Freizügigkeitsberechtigten im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG/EWG. Nach Art. 3
Abs. 1 der Richtlinie 64/221 des Rates der EWG, die durch § 12 AufenthG/EWG in
deutsches Recht umgesetzt worden ist, darf bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung
oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen
ausschlaggebend sein (vgl. § 12 Abs. 3 AufenthG/EWG). Dementsprechend kann der
Sozialhilfebezug des deutschen Familienangehörigen allenfalls dann
aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen, wenn die Sozialhilfebedürftigkeit
auf einem zurechenbaren Verhalten des Freizügigkeitsberechtigten beruht. Dafür
ergeben sich nach den vorstehenden Ausführungen aber keine Anhaltspunkte. Mit Blick
darauf kann offen bleiben, ob fiskalische Gründe, zu denen die Inanspruchnahme von
Sozialhilfe gerechnet werden kann, unter die Verbotsklausel des Art. 2 Abs. 2 der
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Richtlinie 64/221 (§ 12 Abs. 2 AufenthG/EWG) des Rates der EWG fallen können,
vgl. dazu Groeben/Thiesing/Ehlermann, a.a.O., Rdnr. 102, 103; Hailbronner, a.a.O.,
Rdnr. 51 f.; Bay. VGH, Beschluß vom 9. Mai 1983 - Nr. 10.B-2212/79 -, InfAuslR 1983,
242 (244).
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Mangels vollziehbarer Grundverfügung hat das Verwaltungsgericht auch zu Recht die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die
Abschiebungsandrohung verfügt.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 154 Abs. 2 VwGO, §§ 20 Abs. 3 iVm 13 Abs. 1
GKG.
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Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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