Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 12.10.2005

OVG NRW: wichtiger grund, schule, eltern, kindeswohl, besuch, ausnahme, ermessen, integration, facharzt, vorrang

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 B 1679/05
Datum:
12.10.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 B 1679/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 2 L 588/05
Tenor:
Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten der Beschwerdeverfahren.
Der Streitwert im Beschwerdeverfahren 19 B 1679/05 beträgt 2.500
EUR.
Gründe:
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Die Beschwerde 19 E 1250/05 gegen die Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz ist unbegründet. Das
Verwaltungsgericht hat den Antrag zu Recht abgelehnt. Die Rechtsverfolgung bietet aus
den im Wesentlichen zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses und den
nachfolgenden Gründen nicht die gemäß § 166 VwGO iVm § 114 ZPO erforderliche
hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Die Beschwerde 19 B 1679/05 gegen die Ablehnung des Antrags, den Antragsgegner
im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kinder N. und B. der
Antragsteller (vorläufig) weiter in der Grundschule I. zu beschulen, ist ebenfalls
unbegründet. Die Prüfung des Senats ist auf diejenigen Gründe beschränkt, die die
Antragsteller innerhalb der einmonatigen Begründungsfrist (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO)
dargelegt haben (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Diese Gründe rechtfertigen es nicht, den
angefochtenen Beschluss zu ändern und die beantragte einstweilige Anordnung zu
erlassen.
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Der Senat lässt dahin stehen, ob der in der Sache nach § 39 Abs. 3 Satz 1 SchulG
geltend gemachte Anspruch auf Gestattung des Besuchs der Grundschule I. anstelle der
infolge Umzugs in ihren Schulbezirk zuständig gewordenen Grundschule In den C.
bereits daran scheitert, dass die Antragsteller die Ablehnung ihrer Anträge vom 4. April
2005 durch Bescheide des Antragsgegners vom 13. Juni 2005 in der Gestalt der
Widerspruchsbescheide vom 11. August 2005 haben bestandkräftig werden lassen,
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indem sie hiergegen Klage nicht erhoben haben; Folge davon ist, dass der
Antragsgegner - wenn nicht Gründe für ein Wiederaufgreifen der Verwaltungsverfahren
nach § 51 Abs. 1 VwVfG NRW vorliegen, wofür nichts ersichtlich ist, und zulässiger
Weise geltend gemacht werden (§ 51 Abs. 2 und 3 VwVfG NRW) - gemäß § 49 Abs. 1
VwVfG NRW nach Ermessen darüber entscheiden kann, ob er an der Ablehnung ohne
erneute Sachprüfung festhält und die Antragsteller eine neue Sachentscheidung nur bei
einer entsprechenden Ermessensreduzierung, wofür ebenfalls nichts ersichtlich ist,
beanspruchen können.
Ungeachtet dessen haben die Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen eines
wichtigen Grundes, aus dem der Antragsgegner nach Ermessen gestatten kann, dass
ihre Kinder N. und B. weiterhin die Grundschule I. besuchen, auch mit dem
Beschwerdevorbringen nicht glaubhaft gemacht. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 39
Abs. 3 Satz 1 SchulG, der die Gestattung des Besuchs einer anderen als der
zuständigen Schule ermöglicht, ist dann gegeben, wenn es aufgrund der konkreten
Umstände des Einzelfalls, d. h. nach der individuellen Situation des um die Gestattung
nachsuchenden Schülers und seiner Eltern, nicht gerechtfertigt erscheint, dass sie die
(nachteiligen) Folgen hinnehmen müssen, die mit der aus § 39 Abs. 1 SchulG sich
ergebenden Pflicht zum Besuch einer bestimmten Schule einhergehen. Ob und unter
welchen Voraussetzungen dies anzunehmen ist, ist nicht ausschließlich danach zu
beurteilen, welcher Art die Nachteile im Einzelnen sind; dies würde dem Zweck der
Festlegung eines Schulbezirks im Sinne der §§ 39 Abs. 1, 84 Abs. 1 SchulG nicht
gerecht werden, im Interesse der Allgemeinheit für eine möglichst gleichmäßige
Auslastung der - worauf es hier ankommt - Grundschulen im Bereich des Schulträgers
zu sorgen. Erforderlich ist deshalb eine Abwägung des öffentlichen Interesses an der
Durchsetzung der Schulbezirksfestlegung mit dem schutzwürdigen Individualinteresse
an einer Ausnahme hiervon.
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OVG NRW, Beschluss vom 16. Oktober 2003 - 19 B 1902/03 -, zu § 6 Abs. 3 SchPflG a.
F., m. w. N.
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Gemessen daran ist ein wichtiger Grund im Sinne des § 39 Abs. 3 Satz 1 SchulG nicht
glaubhaft gemacht. Entgegen dem Beschwerdevorbringen kann nicht angenommen
werden, dass allein der Verbleib der Kinder N. und B. in der Grundschule I. dem
Kindeswohl dient und der Besuch der für ihren Wohnsitz zuständigen Grundschule In
den C. dem Kindeswohl schadet. Die mit dem Zwang, das gewohnte und „geschätzte"
schulische Umfeld an der Grundschule I. verlassen zu müssen, einhergehenden
Nachteile ergeben nicht, dass der Wunsch der Antragsteller und ihrer Kinder N. und B. ,
an dieser Schule zu bleiben, das mit der Schulbezirksfestlegung verfolgte öffentliche
Interesse überwindet. Es kann im Allgemeinen erwartet werden, dass Schulkinder im
Alter der Kinder der Antragsteller, die die 2. und die 3. Klasse besuchen, den Verlust
des gewohnten und „geschätzten" schulischen Umfeldes - Lehrkräfte, Mitschüler und
Schulgebäude - verkraften, sich an der für sie neuen Grundschule verhältnismäßig
schnell eingewöhnen und hier in Verbindung mit dem neuen Wohnumfeld in
unmittelbarer Nähe der Schule neue soziale Kontakte knüpfen. Darauf haben bereits die
Widerspruchsbehörde und das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen.
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Dass dies ihren Kindern N. und B. nicht gelingen wird, haben die Antragsteller nicht
glaubhaft gemacht. Aus dem vorgelegten ärztlichen Gutachten des Facharztes für
Kinder- und Jugendheilkunde Dr. med. X. vom 24. August 2005 kann Gegenteiliges
nicht geschlossen werden. Soweit darin ausgeführt wird, die Kinder litten „psycho-
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vegetativ unter der geplanten Umschulung und beantworteten diese mit
Bauchschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen sowie aggressiver Verhaltensstörung", hat
der Facharzt schon nicht hinreichend aufgezeigt, aufgrund welcher diagnostischer
Methoden und Erkenntnisse die angeführten Symptome auf den Schulwechsel
ursächlich zurückgeführt werden können. Zudem ist - die angeführte Symptomatik
unterstellt - nicht in nachvollziehbarer Weise verdeutlicht worden, dass die psycho-
vegetativen Beeinträchtigungen der Kinder so schwer und langdauernd sind, dass sie
nicht nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung in das neue schulische Umfeld
wieder abklingen und nicht durch eine freundliche Aufnahme in der neuen Schule und
durch verständnisvolle Begleitung ihrer Eltern aufgefangen werden können, wozu auch
diese aufgefordert sind (§ 42 Abs. 4 Satz 1 SchulG). Es ist weiter nicht hinreichend
nachvollziehbar, dass es, wie in dem ärztlichen Gutachten vom 24. August 2004
ausgeführt, dringend indiziert ist, die Kinder nach ihrer schwierigen Integrationszeit in
ihrer gewohnten Schulumgebung zu belassen. Da die Kinder der Antragsteller seit 1997
und 1998 in der Betreuung des Facharztes sind, spricht Alles dafür, dass sie in
Deutschland geboren sind, jedenfalls seit frühester Kindheit hier leben, und sich in die
hiesigen Lebensverhältnisse kindgemäß integriert haben. Besondere Schwierigkeiten
bei der Integration sind demgegenüber nicht aufgezeigt und nicht ersichtlich.
Entgegen dem Beschwerdevorbringen wird nicht lediglich dem „Beharren auf
Einhaltung von formellen Zuständigkeitsvorschriften" der Vorrang eingeräumt vor dem
Kindeswohl oder dem Wunsch der Antragsteller, ihre Kinder N. und B. weiter die
Grundschule I. besuchen zu lassen. Vielmehr geht es um die schulrechtliche Pflicht
gemäß § 39 Abs. 1 SchulG, die für ihren (neuen) Wohnsitz zuständige Grundschule zu
besuchen. Ihre grundsätzliche Beachtung dient dem mit der Festlegung der
Schulbezirke verfolgten öffentlichen Interesse, eine möglichst gleichmäßige Auslastung
der Grundschulen im Bereich des Schulträgers zu gewährleisten. Dieses setzt sich
grundsätzlich gegenüber dem Interesse der Eltern und Schüler durch, wenn - wie hier -
kein wichtiger Grund (§ 39 Abs. 3 Satz 1 SchulG) etwa zur Wahrung des Kindeswohls
eine Ausnahme rechtfertigt. Solange die genannten gesetzlichen Vorschriften gelten,
kommt dem mit ihnen verfolgten öffentlichen Interesse bei der Anwendung des § 39 Abs.
3 Satz 1 SchulG Gewicht zu. Es wird nicht bereits dadurch gemindert, dass es
schulpolitische Überlegungen gibt, in der Zukunft die Bildung von Schulbezirken nicht
mehr vorzusehen, zumal nicht abzusehen ist, wann und wie es dazu kommt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1
Satz 4 GKG).
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