Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.02.2000

OVG NRW: treu und glauben, abschiebung, unmöglichkeit, ermessen, hauptsache, auflage, aussetzung, staatsangehörigkeit, vollstreckung, erfüllung

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 B 2497/98
Datum:
21.02.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 B 2497/98
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 24 L 3667/98
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der
Streitwertfestsetzung geändert.
Dem Antragsgegner wird aufgegeben, der Antragstellerin vorläufig - bis
zur Rechtskraft einer etwaigen Entscheidung in einem
Hauptsacheverfahren - eine Duldung zu erteilen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden
Rechtszügen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Die Beschwerde hat Erfolg.
2
Der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ist begründet. Dabei geht
der Senat zugunsten der Antragstellerin davon aus, dass sich das
Rechtsschutzbegehren auf die Erteilung einer Duldung beschränkt und nicht zusätzlich
auf die Ausstellung eines Ausweisersatzes nach § 39 Abs. 1 AuslG gerichtet ist. Für
einen dementsprechenden weitergehenden Antrag bestünde nämlich kein Bedürfnis
angesichts der Praxis des Antragsgegners, unter den gegebenen Umständen eine
Duldung - wenn überhaupt - ohnehin stets in Form eines Ausweisersatzes nach § 39
Abs. 1 AuslG zu erteilen.
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Für den so verstandenen Antrag hat die Antragstellerin sowohl einen
Anordnungsanspruch (A.) als auch einen Anordnungsgrund (B.) glaubhaft gemacht (§
123 Abs. 3 VwGO iVm §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
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A. Der Anordnungsanspruch folgt aus § 55 Abs. 4 Satz 1 iVm Abs. 2 AuslG. Diese Norm
ist einschlägig für die Erteilung einer Duldung, wenn rechtskräftig entschieden ist, dass
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die Abschiebung eines Ausländers zulässig ist. Dies ist u. a. der Fall, wenn eine
asylverfahrensrechtliche Abschiebungsandrohung im Klageverfahren rechtskräftig
bestätigt worden ist.
Vgl. Senatsbeschluss vom 23. März 1992 - 18 B 1164/92 -.
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Diese Voraussetzungen liegen vor, nachdem die Klage gegen die
asylverfahrensrechtliche Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 13. Juni 1996 aus dem vorangegangenen
Asylverfahren der Antragstellerin durch Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom
22. Januar 1998 rechtskräftig abgewiesen worden ist.
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Nach § 55 Abs. 4 Satz 1 iVm Abs. 2 AuslG kann der Ausländer eine Duldung u. a. dann
beanspruchen, wenn seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen
unmöglich ist. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Abschiebung der
Antragstellerin ist unmöglich (I.). § 55 Abs. 4 Satz 1 AuslG verpflichtet die
Ausländerbehörde im Falle der Unmöglichkeit der Abschiebung zur Erteilung einer
Duldung und räumt ihr kein Ermessen ein (II.). Der Verpflichtung der Ausländerbehörde
zur Erteilung einer Duldung korrespondiert ein Duldungsanspruch des Ausländers (III.).
Dem Duldungsanspruch steht auch im Falle der Unmöglichkeit der Abschiebung
aufgrund einer Identitätstäuschung des Ausländers weder § 41 Abs. 1 AuslG (IV.) noch
der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen (V.).
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I. Die Abschiebung der Antragstellerin ist - davon gehen die Beteiligten
übereinstimmend aus - unmöglich, weil ihre Identität und ihre Staatsangehörigkeit
ungeklärt sind. Ob dies ein Fall der Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen
oder aus tatsächlichen Gründen ist, bedarf angesichts der jeweils identischen
Rechtsfolgen keiner Entscheidung des Senats.
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II. Bei der gegebenen Unmöglichkeit der Abschiebung verpflichtet § 55 Abs. 4 Satz 1
AuslG die Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung. § 55 Abs. 4 Satz 1 AuslG
räumt der Ausländerbehörde kein Ermessen ein. Mit der dort verwendeten Formulierung
"kann ... nur erteilt werden" wird vielmehr eine ausländerbehördliche Befugnis mit strikt
verpflichtendem Inhalt zum Ausdruck gebracht, sodass bei Vorliegen der
tatbestandsmäßigen Voraussetzungen eine Duldung zu erteilen ist,
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vgl. Senatsbeschluss vom 9. Februar 1995 - 18 B 544/95 -; Fraenkel, Einführende
Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 293 (oben); ebenso der Entwurf der
Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz (AuslG-VV) Nr. 55.3.4 f.; a.
A. Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage 1999, § 55 Rdnr. 5.
11
Diese mit dem Gesetzeswortlaut zu vereinbarende Auslegung folgt zwingend aus der
Gesetzessystematik, dem Gesetzeszweck und den Gesetzesmaterialien.
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§ 55 Abs. 4 AuslG schränkt die durch § 55 Abs. 2 und 3 AuslG eröffnete Befugnis der
Ausländerbehörde zur Erteilung von Duldungen ein. In den Fällen des § 55 Abs. 4
AuslG ist die Erteilung einer Duldung nach Ermessen gemäß § 55 Abs. 3 AuslG
ausnahmslos ausgeschlossen. Zugleich modifiziert § 55 Abs. 4 Satz 2 AuslG die
Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG insoweit, als die
Duldung aus den in § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG genannten Gründen nur zulässig ist,
soweit sie in der Abschiebungsandrohung vorbehalten worden ist.
13
Unberührt lässt § 55 Abs. 4 Satz 1 AuslG dagegen die Regelung in § 55 Abs. 2 Var. 1, 2
und 4 AuslG. Die Bestimmung des § 55 Abs. 4 Satz 1 AuslG ist deshalb dahin zu
verstehen, dass nach rechtskräftiger Entscheidung über die Zulässigkeit der
Abschiebung die Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung in den Fällen des § 55 Abs.
2 (Var. 1, 2 und 4) AuslG uneingeschränkt erhalten bleibt. Damit ist für eine
Ermessensduldung kein Raum.
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Nach der Gesetzessystematik kommt als ausländerrechtliche Reaktion allein die
Erteilung einer Duldung in Betracht, wenn die Abschiebung des Ausländers - aus
welchen Gründen auch immer - unmöglich ist. Denn das Gesetz geht davon aus, dass
ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder aber zumindest eine
Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher
Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das
Gesetz nicht vor.
15
BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 9.97 -, InfAuslR 1998, 12, 13.
16
Nach § 49 Abs. 1 AuslG ist ein ausreisepflichtiger Ausländer unter der - hier gegebenen
- Voraussetzung abzuschieben, dass die Ausreisepflicht vollziehbar ist und ihre
freiwillige Erfüllung nach § 42 Abs. 3 und 4 AuslG nicht gesichert oder aus Gründen der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich
erscheint. Bei Bestehen eines derartigen faktischen Vollstreckungshindernisses darf die
Vollstreckung (vorübergehend) nur unterbleiben aufgrund einer förmlichen Aussetzung
der Abschiebung (Duldung). Abgesehen von den Fällen der gesetzlichen Duldung des
§ 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG regelt § 55 AuslG abschließend die Voraussetzungen für die
Erteilung einer Duldung nach dem Ausländergesetz. Denn nach § 55 Abs. 1 AuslG kann
die Abschiebung eines Ausländers nur nach Maßgabe der Abs. 2 bis 4 zeitweise
ausgesetzt werden. Eine stillschweigende Aussetzung der Abschiebung an Stelle der
nach § 66 Abs. 1 Satz 1 AuslG der Schriftform bedürftigen Duldung kommt mithin nicht
in Betracht.
17
BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - a.a.O. -, 12, 13.
18
In diesem Sinne stellt die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 4 Satz 1 AuslG die
rechtliche Situation eines Ausländers klar, dessen Ausreisepflicht nicht durchgesetzt
werden kann. Die Duldung verleiht dem Ausländer - im Gegensatz zu den in § 5 AuslG
aufgeführten Arten der Aufenthaltsgenehmigung - kein Aufenthaltsrecht. Vielmehr erfüllt
sie - entsprechend ihrem systematischen Standort im Ausländergesetz in dessen 4.
Abschnitt "Beendigung des Aufenthalts" - lediglich eine vollstreckungsrechtliche
Funktion und führt nach § 55 Abs. 1 AuslG zu einer Aussetzung der Abschiebung für
eine bestimmte Zeit. Die Ausreisepflicht des Ausländers bleibt hiervon unberührt (§ 56
Abs. 1 AuslG); die Duldung wird nach § 56 Abs. 5 AuslG widerrufen, wenn die der
Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen. Einer erneuten
Abschiebungsandrohung und Fristsetzung bedarf es grundsätzlich nicht (§ 56 Abs. 6
Satz 1 AuslG).
19
BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - a.a.O. -, 12, 13.
20
Das Entfallen der Strafbarkeit des illegalen Aufenthalts des Ausländers als Folge der
Duldung (§ 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) spricht ebenfalls nicht gegen die zwingende Erteilung
21
einer Duldung im Falle der Unmöglichkeit der Abschiebung.
BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - a.a.O. -, 12, 13.
22
Abgesehen davon, dass das Fehlen strafrechtlicher Sanktionen angesichts der nur
fragmentarischen Natur des materiellen Strafrechts ohnehin keine durchgreifenden
Bedenken gegen das gefundene Auslegungsergebnis des § 55 Abs. 4 AuslG wecken
könnte, werden strafwürdige Verhaltensweisen eines Ausländers im Zusammenhang
mit der Erteilung einer Duldung jedenfalls teilweise erfasst. Geht die Unmöglichkeit der
Abschiebung nämlich auf ein vorwerfbares Verhalten des Ausländers zurück, so macht
er sich damit unter den Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG strafbar.
23
Ein Verständnis des § 55 Abs. 4 Satz 1 AuslG als Ermessensnorm widerspräche auch
dem in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers,
nach dem die unverzügliche Durchsetzung der Ausreisepflicht nach dem
Ausländergesetz grundsätzlich eine nicht mehr im Ermessen stehende gesetzliche
Pflicht der Ausländerbehörde ist und jedes weitere Ermessen ausgeschlossen ist, wenn
keine rechtlichen Zweifel mehr an der Zulässigkeit der Abschiebung bestehen (BT-Drs.
11/6321, S. 66 zu § 55 Abs. 4 AuslG).
24
III. Muss nach § 55 AuslG eine Duldung erteilt werden, so folgt aus der Verpflichtung der
Ausländerbehörde ein entsprechender Rechtsanspruch des Ausländers. Dagegen
spricht nicht die Begründung des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens
(Neufassung des § 50 AuslG) in der es heißt, dass der Verzicht auf die Abschiebung im
Falle ihrer Unmöglichkeit kein Recht des Ausländers sei, sondern lediglich faktische
Folge der gegebenen tatsächlichen Verhältnisse (BT- Drs. 12/2062, S. 44). Nach der
Ausländer nicht ausnehmenden prinzipiellen Ordnung des Verhältnisses des Einzelnen
zum Staat im Grundgesetz ist nämlich bei gesetzlichen Begünstigungen im Zweifel ein
rechtlich geschütztes Individualinteresse zu bejahen. So liegt es auch hier. Die Duldung
vermittelt dem Ausländer eine Begünstigung. Sie stellt einen ihn begünstigenden
Verwaltungsakt dar,
25
BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 3.97 -, InfAuslR 1998, 12, 14.
26
IV. Der danach gegebene Duldungsanspruch der Antragstellerin wird nicht durch § 41
Abs. 1 AuslG ausgeschlossen. Nach § 41 Abs. 1 AuslG sind bei - wie hier -
bestehenden Zweifeln über die Person des Ausländers die zur Feststellung seiner
Identität erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn dem Ausländer u. a. eine Duldung
erteilt werden soll. Diese Bestimmung steht weder nach ihrem Wortlaut, noch nach der
Systematik oder dem Gesetzeszweck einem Duldungsanspruch nach § 55 Abs. 4 AuslG
bei ungeklärter Identität des Ausländers entgegen. § 41 Abs. 1 AuslG regelt lediglich
Aufgaben und Befugnisse der Ausländerbehörde zur Identitätsfeststellung des
Ausländers sowie - dies in § 41 Abs. 4 AuslG - eine dem korrespondierende
Duldungspflicht des Ausländers. Aus dieser Bestimmung ist dagegen nicht zu folgern,
dass eine Duldung zu versagen wäre, wenn die Identitätsermittlung ohne Erfolg
geblieben ist,
27
ebenso VG Bayreuth, Beschluss vom 15. Oktober 1998 - B 3 E 98.734 -, InfAuslR 1999,
204; a. A. Bay. VGH, Beschluss vom 9. Juni 1998 - 10 CE 98.797 -, InfAuslR 1998, 432
mit ablehnender Anmerkung von Rittstieg, InfAuslR 1998, 432.
28
Das Ergebnis der Wortlautinterpretation wird bestätigt durch einen
gesetzessystematischen Vergleich mit den Versagungsgründen für die Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung.
29
Gegen eine Funktion des § 41 Abs. 1 AuslG als unmittelbar geltender Versagungsgrund
für die Erteilung einer Duldung spricht insoweit § 8 Abs. 1 Nr. 4 AuslG. Danach wird
eine Aufenthaltsgenehmigung (§ 5 AuslG) auch bei Vorliegen der Voraussetzungen
eines Anspruchs nach diesem Gesetz versagt, wenn die Identität oder
Staatsangehörigkeit des Ausländers ungeklärt ist und er keine Berechtigung zur
Rückkehr in einen anderen Staat besitzt. Aus § 8 Abs. 1 Nr. 4 AuslG ist deshalb zu
schließen, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruches nach diesem
Gesetz allein die ungeklärte Identität oder Staatsangehörigkeit eines Ausländers die
Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung noch nicht rechtfertigen kann. § 41 Abs. 1
AuslG ist danach auch für Aufenthaltsgenehmigungen nicht ohne weiteres als
Versagungsgrund konzipiert.
30
Nach der Rechtsprechung des beschließenden Senats kommt § 41 Abs. 1 AuslG im
Falle der Identitätstäuschung dagegen mittelbar Bedeutung zu für die Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung etwa im Rahmen von § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG oder bei
Ermessensentscheidungen: Senatsbeschluss vom 5. Februar 1999 - 18 A 1765/94 -;
Urteil vom 9. Februar 1999 - 18 A 5156/96 -, AuAS 1999, 159 = DVBl. 1999, 1222.
31
Ebenso wenig ist deshalb § 41 Abs. 1 AuslG als Versagungsgrund anzusehen im
Hinblick auf die gleichrangig neben der Aufenthaltsgenehmigung erwähnte Duldung. Es
kommt hinzu, dass nach der Regelungstechnik des Ausländergesetzes hinsichtlich der
Aufenthaltsgenehmigung Regelversagungsgründe (§ 7 AuslG) und zwingende
Versagungsgründe (§ 8 AuslG) sowie Ausnahme hiervon (§ 9 AuslG) im Interesse der
Rechtsklarheit jedenfalls ausdrücklich als solche formuliert sind. Das Fehlen
dementsprechender Versagungsgründe für die Duldung spricht deshalb dafür, dass die
Voraussetzungen für deren Erteilung - positiv wie negativ - abschließend in §§ 55, 56
AuslG geregelt sind.
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V. Dem Duldungsanspruch steht auch nicht - wie das Verwaltungsgericht angenommen
hat - der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen.
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Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt als allgemeiner Rechtsgedanke auch im
Verwaltungsrecht. Er wird aus § 242 BGB abgeleitet, der über seinen Wortlaut hinaus
das allgemeine Gebot der Beachtung von Treu und Glauben im rechtlichen Verkehr als
allgemeinen Maßstab enthält, unter dem das gesamte private und öffentliche Recht
steht. Der genannte Grundsatz bedarf wegen seiner Allgemeinheit der Konkretisierung.
Diese erfolgt durch Typisierung anhand von Fallgruppen. Im öffentlichen Recht spielt
vornehmlich die unzulässige Ausübung von Rechten eine Rolle, die dann gegeben ist,
wenn eine atypische Situation vorliegt, die die Geltendmachung eines an sich
vorgesehenen Rechts als missbräuchlich erscheinen lässt. Dabei kann die
Unzulässigkeit in der Rechtsausübung selbst liegen, etwa wenn eine Leistung
beansprucht wird, die sofort wieder zurückgewehrt werden müsste. Sie kann aber auch
gegeben sein, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs in missbilligenswerter
Weise begründet worden sind. Dieser Gedanke findet seinen gesetzlichen Ausdruck in
§ 162 Abs. 2 BGB.
34
BVerwG, Urteile vom 23. November 1993 - BVerwG 1 C 21.92 -, BVerwGE 94, 294, 298
35
f. m.w.N., und vom 30. September 1999 - BVerwG 3 C 35.98 -, Juris.
Gemeinsam ist diesen Fallgruppen die rechtliche Bewertung, dass der Eintritt der für
den Normalfall Kraft Gesetzes vorgesehenen Rechtsfolge aufgrund besonderer
Umstände unangemessen ist. Diese Bewertung hat stets anzuknüpfen an die vom
Gesetzgeber vorgefundene Interessenlage und die in seiner rechtlichen Regelung zum
Ausdruck kommende Interessenbewertung. Dem zufolge scheidet die Annahme einer
unzulässigen Rechtsausübung wegen missbilligenswerter Begründung eines
Anspruchs - daran könnte hier gedacht werden - aus, wenn die im Gesetz vorgesehene
Rechtsfolge unabhängig davon eintreten soll. In diesem Sinne kann die
Rechtsausübung bei einem überwiegenden öffentlichen Interesse am Eintritt der
vorgesehenen Rechtsfolge trotz Unredlichkeit des Berechtigten zulässig sein,
36
Palandt-Heinrichs, BGB, 57. Auflage 1998, § 242 Rdnr. 45; Roth, in: Rebmann/Säcker,
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2. Auflage 1985, § 242 Rdnr.
234.
37
So liegt der Fall hier. Die Erteilung einer Duldung ist im überwiegenden öffentlichen
Interesse vorgesehen auch im Falle der Unmöglichkeit der Abschiebung aufgrund einer
Identitätstäuschung durch den Ausländer. Wie oben schon dargelegt ist die Duldung
von der Ausländerbehörde zwingend zu erteilen in allen Fällen der Unmöglichkeit der
Abschiebung. Dies dient auch überwiegenden öffentlichen Interessen, denn für die
Erteilung einer Duldung bedarf es nicht einmal eines Antrags des Ausländers; vielmehr
ist die Duldung von der Ausländerbehörde auch ohne Antrag des Ausländers - also im
Einzelfall durchaus auch gegen dessen Willen - von Amts wegen zwingend zu erteilen.
38
BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 3.97 -, InfAuslR 1998, 12, 13.
39
Rechtlich unerheblich ist es in diesem Zusammenhang, dass im Falle der
Identitätstäuschung die Versagung einer Duldung wegen der damit verbundenen
weiteren Folgen für den Ausländer (z. B. Unzulässigkeit einer Erwerbstätigkeit,
Probleme bei der Bewilligung von Sozialhilfe und bei Kontrollen durch die
Ordnungsbehörden) einen faktischen Druck zum Verlassen des Bundesgebietes zur
Folge haben kann. Derartige Auswirkungen können nach der rechtlichen Ausgestaltung
der zwingend zu erteilenden Duldung im Ausländergesetz bei deren Erteilung oder
Versagung grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Die Versagung einer solchen
Duldung kann nicht durch Sanktionszwecke gerechtfertigt werden.
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Im Hinblick auf die rechtlich maßgebliche Interessenlage verbietet sich auch eine
Differenzierung in dem Sinne, dass bei Verschleierung der Identität durch den
Ausländer lediglich die objektiv-rechtliche Verpflichtung der Ausländerbehörde zur
Erteilung einer Duldung unberührt bleibt, das subjektive Recht des Ausländers auf
deren Erteilung aber entfällt. Denn die Erteilung einer Duldung dient neben dem - in
erster Linie maßgeblichen - öffentlichen Interesse immer auch dem subjektiven
Interesse des einzelnen Ausländers. Im Übrigen trägt die Gewährung eines subjektiven
Rechtes auch zur effektiven Erfüllung der objektiv-rechtlichen Verpflichtung durch die
Ausländerbehörde bei. Denn in vielen Fällen wird es gerade der Ausländer sein, der
sich auf einen gegebenen Anspruch auf Erteilung einer Duldung beruft und diesen - falls
die Behörde ihm nicht nachkommt - im Rechtswege durchzusetzen versucht.
41
B. Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die
42
Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung im Wege der einstweiligen Anordnung
erscheint schon deshalb zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig (§ 123 Abs. 1
Satz 2 VwGO), weil die vollziehbar ausreisepflichtige Antragstellerin sich ohne Besitz
der Duldung nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG strafbar machen dürfte und mit Freiheitsstrafe
bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden könnte. Das Risiko einer
Strafverfolgung und Bestrafung nach dieser Vorschrift ist einem Ausländer, der einen
Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung hat, jedoch nicht zumutbar,
VGH Mannheim, Beschluss vom 3. November 1995 - 13 S 2185/95 -, NVwZ-RR 1996,
356, 358; VG Sigmaringen, Beschluss vom 18. April 1997 - 7 K 279/97 -, InfAuslR 1997,
271, 273.
43
Dem lässt sich nicht entgegen halten, dass die Antragstellerin sich aufgrund ihres
bisherigen Aufenthaltes ohne Duldung möglicherweise schon gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1
AuslG strafbar gemacht hat,
44
vgl. zu diesem Gesichtspunkt VG Bayreuth, Beschluss vom 3. Februar 1998 - B 3 K
98.15 -, Juris.
45
Denn es kann der Antragstellerin nicht zugemutet werden, sich ggf. auch weiterhin
strafbar zu machen. Dass es ihr ohne Pass möglich und zumutbar wäre, freiwillig
auszureisen, ist weder ersichtlich noch vorgetragen. Die Konsequenzen einer derartigen
Konstellation für das Bestehen eines Anordnungsgrundes bedürfen deshalb keiner
Entscheidung des Senats. Ebenso kann offenbleiben, ob ein Anordnungsgrund schon
aus der Überlegung abgeleitet werden könnte, dass die Duldung ihrem Wesen nach nur
auf die zeitweise Aussetzung der Abschiebung gerichtet ist und dieser zeitlichen
Begrenzung einer Duldung die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung entsprechen
könnte,
46
vgl. VG Bayreuth, Beschluss vom 15. Oktober 1998 - B 3 E 98.734 -, InfAuslR 1999, 204,
205. Dafür dürfte auch BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 3.97 -,
InfAuslR 1998, 12, sprechen.
47
Jedenfalls im Hinblick auf die drohende Strafbarkeit der Antragstellerin ist es auch
gerechtfertigt, der Ausländerbehörde bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die
Erteilung einer Duldung aufzugeben und damit die Hauptsache (teilweise)
vorwegzunehmen. Zwar ist das Gericht gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO grundsätzlich
auf vorläufige Regelungen beschränkt und darf deshalb in der Regel die Entscheidung
in der Hauptsache nicht vorwegnehmen. Etwas anderes gilt ausnahmsweise aber dann,
wenn der nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Rechtsschutz in der Hauptsache nicht
rechtzeitig erlangt werden kann und dies für den Antragsteller zu schlechthin
unzumutbaren Nachteilen führt, die sich auch bei einem späteren Erfolg in der
Hauptsache nicht mehr ausgleichen lassen,
48
Kopp/Schenke, VwGO, 11. Auflage 1998, § 123 Rdnr. 13 f.
49
Ein derartiger Fall liegt hier jedenfalls im Hinblick auf die drohenden strafrechtlichen
Sanktionen nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG vor,
50
VGH Mannheim, Beschluss vom 3. November 1995 - 13 S 2185/95 -, NVwZ-RR 1996,
356, 358; OVG Berlin, Beschluss vom 5. April 1995 - OVG 8 S 577.94/OVG 8 M 26.94 -,
51
InfAuslR 1995, 257, 259; VG Bayreuth, Beschluss vom 15. Oktober 1998 - B 3 E 98.734
-, InfAuslR 1999, 204, 205.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
52
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 und 3 iVm §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.
53
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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