Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 02.03.1998

OVG NRW (aufschiebende wirkung, pharmazeutische industrie, öffentliche sicherheit, verfügung, munition, verwendung, gefahr, waffe, körper, waffengesetz)

Oberverwaltungsgericht NRW, 20 B 2433/97
Datum:
02.03.1998
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
20 B 2433/97
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 2 L 1188/97
Tenor:
Der angefochtene Beschluß wird geändert. Die aufschiebende Wirkung
des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Verfügung der
Antragsgegnerin vom 15. Juli 1997 wird wiederhergestellt. Die
Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Festsetzung für
beide Rechtszüge einschließlich des Beschwerdezulassungsverfahrens
auf 30.000,-- DM festgesetzt.
Gründe Die zugelassene Beschwerde ist begründet. Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1
VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das private Interesse der
Antragstellerin, von der Vollziehung der Verfügung einstweilen verschont zu bleiben,
das öffentliche Interesse am Sofortvollzug. Dafür ist zunächst maßgeblich, daß die
Verfügung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keinen Bestand haben wird, da nach
derzeitigem Sach- und Streitstand gegen ihre Rechtmäßigkeit erhebliche Bedenken
bestehen. Die dem Bescheid sinngemäß zu entnehmende Bewertung der
Antragsgegnerin, der Handel mit sog. Soft-Air-Waffen im Kaliber 5,5 mm verstoße gegen
das Waffengesetz und bilde deshalb eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, dürfte im
Waffenrecht keine Stütze finden. Erlaubnispflichtig ist nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 WaffG der
Handel mit Schußwaffen (vgl. § 1 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 WaffG), soweit sie dem
Waffengesetz unterfallen. Nach derzeitigem Erkenntnisstand spricht alles dafür, daß die
von der Antragstellerin vertriebenen Soft-Air- Waffen Spielzeugpistolen darstellen, auf
die das Waffengesetz gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 der 1. WaffV nicht anzuwenden ist.
Ausschlaggebend dafür ist zunächst, daß aus ihnen nach jetziger Erkenntnis
ausschließlich feste Körper, d.h. Geschosse nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 WaffG verschossen
werden können. Die Annahme der Antragsgegnerin, aus ihnen könnten auch
gasförmige, flüssige oder feste Stoffe in Umhüllungen (§ 2 Abs. 3 Nr. 2 WaffG)
verschossen werden, ist - bezogen auf den gegenwärtigen Zeitpunkt - durch nichts
belegt. Unstreitig ist eine Verwendung der erhältlichen 6 mm- Farbmarkierungskugeln in
den in Rede stehenden Soft-Air-Waffen des Kalibers 5,5 mm nicht möglich.
Farbmarkierungskugeln oder entsprechend aufgebaute Geschosse mit einem
geringeren Durchmesser stehen offensichtlich zur Zeit für dieses Kaliber nicht zur
Verfügung. Nichts anderes besagt das insofern pauschale Schreiben des
1
Bundesministeriums des Innern vom 2. Juni 1997 (IS 5 - 681 201/21), wonach "praktisch
für alle Schußwaffen" Farbmarkierungskugeln hergestellt und verwendet werden
können, weshalb auch Soft-Air-Waffen "grundsätzlich" den Vorschriften des
Waffengesetzes unterliegen sollen. Aus den Schreiben des Bundeskriminalamts (KT
21) vom 1. und 29. August 1997 ergibt sich lediglich, daß die pharmazeutische Industrie
in der Lage ist, Gelatinekapseln für medizinische Zwecke mit Durchmessern von 5,0
bzw. 5,1 mm herzustellen; daß entsprechende Kapseln auch bereits als Geschosse im
Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 2 WaffG angeboten werden oder zumindest faktisch in
Gebrauch sind, besagen die Schreiben nicht. Dementsprechend ist derzeit nicht einmal
durch Versuche geklärt, ob die von der pharmazeutischen Industrie hergestellten
Kapseln tatsächlich - wie das Bundeskriminalamt mutmaßt - aus den Soft-Air-Waffen der
Antragstellerin verschossen werden könnten oder ob sie nicht vielmehr - wie die
Antragstellerin vorträgt - bei dem Versuch des Verschießens aufgrund zu dünner
Wandung zerstört würden und den Lauf der Waffe nicht verlassen könnten. Die
Überlegung des Verwaltungsgerichts, nach aller Erfahrung sei von der Produzierbarkeit
passender Munition auszugehen, ist daher, nicht anders als die Annahme des
Bundeskriminalamts, reine Spekulation. Blickt man mithin auf die aktuellen, im Zeitpunkt
der Entscheidung vorliegenden Fakten, so liegt auf der Hand, daß aus Soft-Air-Waffen
des Kalibers 5,5 mm "nur Geschosse nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Gesetzes", d.h. feste
Körper im Sinne des Waffengesetzes verschossen werden "können", womit die
Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 1 Nr. 1 der 1. WaffV eingreift. Eine andere Sicht der
Dinge setzte voraus, im Rahmen der genannten Ausnahmevorschrift über die Wendung
"nur ... können" auch künftige, mehr oder weniger theoretische
Entwicklungsmöglichkeiten hinsichtlich neuer Munition zu berücksichtigen. Hierauf zielt
die Antragsgegnerin mit ihrer Auffassung, es komme auf die "generelle Eignung" der
Waffe an. Allerdings verliert sich auch die generelle Eignung einer Waffe ohne faßbaren
Hintergrund in reinen Mußmaßungen. Deshalb hat die genannte Auslegung nicht viel für
sich. Es mag angehen, das Eingreifen der Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 1 Nr. 1 der
1. WaffV etwa bei angelaufener Produktion neuer Geschosse und einem unmittelbar
bevorstehenden Vertrieb zu verneinen; in diesen Fällen werden bereits Versuche mit
der neuen Munition angestellt worden sein, so daß es Prototypen gibt und die
Verwendbarkeit der produzierten Munition feststeht. Ist die Entwicklung oder Herstellung
derartiger Munition hingegen - wie im Fall der Antragstellerin - eine bloß abstrakt
bestehende Denkmöglichkeit, so liefe die Vorschrift, weil sich derartige
Denkmöglichkeiten nie ausschließen lassen, entgegen dem erkennbaren Willen des
Verordnungsgebers praktisch leer. Nach dem Zweck des § 2 Abs. 3 Nr. 2 WaffG, der bei
Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 der 1. WaffVO heranzuziehen ist, sollen vielmehr
konkrete - also vor allem zeitnahe - Gefahren unter Kontrolle gehalten werden, die sich
aus der Verwendung von Geschossen ergeben, die unabhängig von der ihnen
mitgeteilten Bewegungsenergie - nämlich aufgrund der Eigenschaft der verschossenen
Stoffe selbst - gefährlich sein können. Erlaubnisbedürftiger Waffenhandel dürfte danach
erst dann vorliegen, wenn die beschriebene "Gefahrengrenze" aktuell überschritten
wird. Insofern verbleibende Unsicherheiten gehen nach allgemeinen Grundsätzen zu
Lasten der (eingreifenden) Behörde. Von dem aufgezeigten Verständnis der
einschlägigen Vorschriften dürfte auch die bisherige Verwaltungspraxis ausgegangen
sein, wie namentlich das Schreiben des Bundeskriminalamts vom 25. Oktober 1996 wie
auch die Verfügung der Antragsgegnerin vom 28. Mai 1997 (Untersagung des Handels
mit Soft-Air-Waffen im Kaliber 6 mm) zeigt, mit der sie erst eingeschritten ist, nachdem
Farbmarkierungskugeln im passenden Kaliber auf dem Markt erhältlich waren. Auch die
weitere, von den Erfolgsaussichten des Widerspruchsverfahrens unabhängige
Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Die Antragstellerin hat
unter hinreichender Präzisierung ihrer hauptsächlich auf Soft- Air-Waffen aufbauenden
Geschäftsverhältnisse dargelegt, daß im Falle der (sofortigen) Durchsetzung des
Verbots ihre Existenz gefährdet ist. Auch die Antragsgegnerin ist davon noch im
Verwaltungsverfahren ausgegangen, wie namentlich ihr Durchsuchungsbericht vom 27.
Mai 1997 belegt, in dem ausdrücklich hervorgehoben ist, daß eine Untersagung des
Handels die Aufgabe des Geschäftsbetriebes zur Folge haben müßte. Demgegenüber
fällt auf seiten des öffentlichen Interesses nichts Vergleichbares in die Waagschale.
Selbst bei Zugrundelegung der - der Antragstellerin ungünstigen - Rechtsauffassung der
Antragsgegnerin bewegte sich ihre Untersagungsverfügung im Bereich der
Vorbeugung: Weil, wie ausgeführt, auf absehbare Zeit nirgends verschießbare Munition
zur Verfügung steht, geht es nicht darum, konkrete Gefahren aus der Verwendung
umhüllter Flüssigkeiten in Schußwaffen abzuwehren. Schon deshalb besteht auch die
vom Verwaltungsgericht (BA S. 6) gesehene, von der Antragsgegnerin im
Beschwerdeverfahren aufgegriffene, vermeintlich konkrete Gefahr nicht, daß die
Verwendung von Farbmarkierungskugeln das grundgesetzwidrige Einüben simulierter
Kampf- und Tötungshandlungen ermöglicht. Im übrigen hätte eine derartige "Gefahr",
die sich ebenso beim Verschießen fester Körper auf der Grundlage des § 1 Abs. 1 Nr. 1
der 1. WaffV ergeben müßte, keinerlei Bezug zum Erlaß oder zum Vollzug der
angegriffenen Verfügung. Mit dieser Verfügung sollte und konnte ausschließlich dem
unerlaubten Handel mit (echten) Schußwaffen entgegengetreten werden, während die
genannte Bestimmung gerade zugrunde legt, daß die Benutzung von Spielzeugwaffen -
ggf. auch zur Nachahmung von Kampf- und Tötungshandlungen - waffenrechtlich nicht
zu beanstanden ist. Dem Rechnung tragend hat der 5. Senat des beschließenden
Gerichts, auf dessen Beschluß vom 28. Juni 1995 (- 5 B 3187/94 -, NWVBl. 1995, 473)
das Verwaltungsgericht und die Antragsgegnerin abgehoben haben, a.a.O. S. 474 f.
besonders hervorgehoben, daß sich seine Entscheidung auf "Besonderheiten des
Laserspiels" stützt, die "eine Nähe zu realen Kampf- und Tötungshandlungen der
Gegenwart herstellt, die weder bei üblichen Kampfsportarten noch bei 'herkömmlichen'
Kriegsspielen unter Verwendung von Kriegsspielzeug ... erreicht wird". Die
Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes
beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1, 25 Abs. 2 Satz 2 GKG. Der Senat greift dabei die
Anregung der Antragsgegnerin auf, den erstinstanzlich festgesetzten Streitwert - deutlich
über den Mindestbetrag des Streitwertkatalogvorschlags (vgl. DVBl. 1996, 605, Nr.
14.2.1) hinaus - heraufzusetzen; die vorgenommene Anhebung erscheint mit Blick auf
den erheblichen Geschäftsumfang des betriebenen und untersagten Handels mit Soft-
Air-Waffen, der hier weitgehend den Umfang des Gewinns bestimmt, der Bedeutung der
Sache schon im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes angemessen.