Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 22.06.1998

OVG NRW (bewerber, beurteilung, eignung, antragsteller, leistung, rechnung, justiz, erstellung, bewerbung, stelle)

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 B 698/98
Datum:
22.06.1998
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 B 698/98
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 2 L 40/98
Tenor:
Der angefochtene Beschluß wird geändert.
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
untersagt, den Beigeladenen zum Präsidenten des Landgerichts K zu
ernennen, bevor nicht über die Bewerbung des Antragstellers unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut entschieden
worden ist.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden
Rechtszügen. Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht
erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das
Beschwerdeverfahren auf 4.000,- DM festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der mit der Beschwerde weiterverfolgte Antrag,
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dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, den
Beigeladenen zum Präsidenten des Landgerichts K zu ernennen, bevor nicht über die
Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
erneut entschieden worden ist,
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hat Erfolg. Der Antragsteller hat den entsprechenden Anordnungsgrund und
Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO iVm §§ 920
Abs. 2, 294 ZPO). Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand des vorliegenden
summarischen Verfahrens ist es überwiegend wahrscheinlich, daß die vom
Antragsgegner zugunsten des Beigeladenen getroffene Auswahlentscheidung zu
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Lasten des Antragstellers rechtsfehlerhaft ist.
Gemäß §§ 4 Abs. 1 Satz 1 LRiG NW iVm 25 Abs. 6 Satz 1, 7 Abs. 1 LBG NW in der
derzeit geltenden Fassung hat der Dienstherr Beförderungen aufgrund einer Auslese
der Bewerber nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen. Bei
gleicher Qualifikation ist die Auswahlentscheidung in das pflichtgemäße Ermessen des
Dienstherrn gestellt. Der einzelne Bewerber hat jedoch einen Anspruch darauf, daß
über seine Bewerbung eine am Leistungsgrundsatz ausgerichtete ermessensfehlerfreie
Entscheidung getroffen wird. Dieses Recht ist nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO
sicherungsfähig.
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Über Befähigung, fachliche Leistung und Eignung als den maßgebenden
Beförderungskriterien verläßlich Auskunft zu geben, ist vorrangig Sache von zeitnahen
und aussagekräftigen dienstlichen Beurteilungen der Bewerber. Für die hier zu treffende
Entscheidung kann der Senat offenlassen, ob die dienstlichen Beurteilungen, die der
Antragsteller als Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht am 31. Oktober 1997 und
der Beigeladene als zum Justizministerium abgeordneter Richter am Oberlandesgericht
am 29. Oktober 1997 jeweils mit der Leistungs- und Eignungsbewertung "hervorragend"
erhalten haben, gleichwertig sind. Die bisherigen Auswahlüberlegungen des
Justizministers zu der Besetzung der Stelle des Landgerichtspräsidenten K erweisen
sich jedenfalls in anderer Hinsicht als nicht frei von Rechtsfehlern. Die
Auswahlüberlegungen beruhen auf einer nicht ordnungsgemäß zustandegekommenen
Auswahlgrundlage. Der Justizminister ist bei seinen bisherigen Auswahlüberlegungen
nicht der (hohen) Bedeutung des Beurteilungsverfahrens gerecht geworden.
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Dienstliche Beurteilungen sind bei der Besetzung von Beförderungsstellen eine
grundsätzlich unentbehrliche und wesentliche Erkenntnisgrundlage, um gleichermaßen
für alle Bewerber den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33
Abs. 2 GG) zu gewährleisten. Wenn auch umstritten ist, in welchem Umfange aus Art. 33
Abs. 2 GG subjektive Rechte abgeleitet werden können, so begründet die Vorschrift für
den Dienstherrn jedenfalls die verfassungsrechtliche Verpflichtung, Personal-
entscheidungen unter Beachtung des Leistungsgrundsatzes auf der Grundlage
dienstlicher Beurteilungen zu treffen. In diesem Sinne sind dienstliche Beurteilungen
auch von ausschlaggebender Bedeutung für das berufliche Fortkommen der
Beamten/Richter. Vor diesem Hintergrund beinhaltet Art. 33 Abs. 2 GG ein gerichtlich
durchsetzbares Recht jedenfalls insoweit, als die ermessensfehlerfreie Entscheidung
über den Bewerbungsverfahrensanspruch in Rede steht. Der Bedeutung der
Beurteilung für den Dienstherrn und den einzelnen Bewerber ist dabei nicht nur durch
das materielle Recht, sondern gerade auch durch die Ausgestaltung des Beurteilungs-
und Bewerbungsverfahrens Rechnung zu tragen. Effektiver Grundrechtsschutz ist auch
durch das Verfahrensrecht zu gewährleisten.
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Dementsprechend unterliegen dienstliche Beurteilungen wegen ihres Zwecks, für die
Bestenauslese einen möglichst zuverlässigen, sachgerechten Vergleich von Eignung,
Befähigung und fachlicher Leistung der Beurteilten untereinander zu ermöglichen und
zugleich transparent zu machen, bestimmten Form- und Verfahrensvorschriften. Sie sind
schriftlich abzufassen, mit einem Gesamturteil abzuschließen und sollen einen
Vorschlag für die weitere dienstliche Verwendung enthalten (§ 104 Abs. 1 Satz 3 LBG
NW). Sie sind zu den Personalakten des Beamten/Richters zu nehmen (§ 104 Abs. 1
Satz 4 LBG NW). Diesem ist Gelegenheit zu geben, zuvor von der Beurteilung Kenntnis
zu nehmen und sie mit dem Vorgesetzten zu besprechen (§ 104 Abs. 1 Satz 5 LBG
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NW). Eine Gegenäußerung des Beamten/Richters ist möglich und ebenfalls zu den
Personalakten zu nehmen (§ 104 Abs. 1 Satz 6 LBG NW). Weitere Regelungen über die
dienstlichen Beurteilungen der Richter und Staatsanwälte hat der Justizminister des
Antragsgegners in seiner AV vom 20. Januar 1972 (2000-1 C.155) - JMBl. NW S. 38 -
aufgestellt.
Der solchermaßen durch ins einzelne gehende Vorschriften und Regelungen
konkretisierten verfahrensrechtlichen Absicherung der Beurteilung ist auch in dem sich
an die Erstellung dienstlicher Beurteilungen der Bewerber anschließenden
Auswahlverfahren Rechnung zu tragen, in dem Eignung, Befähigung und fachliche
Leistung der Bewerber auf der Grundlage dieser Beurteilungen zu vergleichen sind.
Dies schließt es aus, die Auswahl unter den Bewerbern - etwa wegen fehlender
hinreichender Aussagen in den vorliegenden Beurteilungen - in der Weise zu treffen,
daß bestimmte ausschlaggebende Merkmale gleichsam aus dem einen besonderen
Verfahrensschutz gewährleistenden Beurteilungsverfahren herausgelöst werden und
einer erstmaligen und eigenständigen Bewertung durch die oberste Dienstbehörde
vorbehalten bleiben. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich die solchermaßen
gewonnenen Erkenntnisse nicht auf herkömmliche "Hilfskriterien" - d.h. auf Kriterien, die
nicht bereits von der Sache her Gegenstand der Leistungs- und Eignungsbeurteilung zu
sein haben, wie z.B. das Lebens- und Dienstalter - beziehen, sondern auf für das
konkrete Anforderungsprofil des Dienstpostens nach Auffassung der obersten
Dienstbehörde wesentliche und bestimmende Eignungsmerkmale. Es würde nämlich
dem unabweisbaren Bedürfnis nach einer Sicherung des Verfassungsgebots der
Bestenauslese widersprechen, wenn die Art und Weise der Beschaffung derartiger
zusätzlicher Erkenntnisse einer späteren Stufe des Auswahlverfahrens überlassen und
damit keinen vergleichbaren verfahrensrechtlichen Sicherungen unterliegen würde, wie
sie für die Erstellung dienstlicher Beurteilungen von Verfassungs wegen geboten sind.
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Das vorliegende Besetzungsverfahren trägt dem nicht hinreichend Rechnung: Das
Verfahren weist die Besonderheit auf, daß der Justizminister nicht nur die dienstliche
Beurteilung des Antragstellers durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts zur
Grundlage seiner Auswahlentscheidung gemacht hat. Er hat vielmehr Erkenntnisse zu
Eignungsmerkmalen (u.a.) des Antragstellers, auf die er bezogen auf das
Anforderungsprofil einer Behördenleiterstelle entscheidenden Wert legt, erst nach dem
förmlichen Beurteilungsverfahren und außerhalb dieses Verfahrens erstmals selbst im
Rahmen der von ihm geführten Vorstellungsgespräche erhoben, in eine vergleichende
Bewertung der Bewerber einbezogen und hierauf seine Auswahlentscheidung
maßgeblich gestützt. Das wird dem Anspruch des Antragstellers darauf, daß die
Auswahlentscheidung nachvollziehbar am Grundsatz der Bestenauslese ausgerichtet
wird, unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen nicht gerecht.
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Der Justizminister sah die von dem Präsidenten des Oberlandesgerichts über den
Antragsteller gefertigte dienstliche Beurteilung vom 31. Oktober 1997 als unzureichend
an. Er vermißte in ihr Äußerungen zu den Merkmalen, auf die es ihm für die Vergabe
derartiger Behördenleiterstellen "vorrangig" ankam, nämlich Führungseigenschaften,
Motivationsgabe, Durchsetzungsvermögen, die Fähigkeit zur Darstellung der Belange
der Justiz und die Bereitschaft zu ihrer Modernisierung. Für erforderlich hielt er neben
höchster Qualifikation der Bewerber breite Verwaltungserfahrungen und eine hohe
soziale Kompetenz. Um insoweit eine "erweiterte Entscheidungsgrundlage" zu haben,
führte er mit den Bewerbern die Vorstellungsgespräche. Namentlich wollte er bei den
Gesprächen auch feststellen, ob die Bewerber auf der Grundlage ihrer bisherigen
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umfassenden beruflichen Erfahrungen willens und in der Lage sind, den
Erneuerungsprozeß der Justiz aktiv zu gestalten und zu fördern. Gegenstand der
Gespräche waren deshalb auch die Themenkreise Reorganisation und Modernisierung
des gesamten Justizbereichs im Rahmen eines umfassenden
Organisationsentwicklungskonzeptes und die Umsetzung des Programms "Justiz 2003".
Diese Erkenntnisse des Senats stimmen - jedenfalls zum Teil - mit dem Vorbringen des
Antragsgegners im gerichtlichen Verfahren überein. So hat dieser etwa in seinem
Schriftsatz vom 18. Mai 1998 ausdrücklich erklärt, "daß sich die dienstlichen
Beurteilungen der (neben dem Beigeladenen) anderen Bewerber nicht im gleichen
Umfang zu den Kenntnissen und Fähigkeiten äußerten, die aus Sicht des
Justizministers bei generell gleicher Leistung und Eignung entscheidend sein sollten".
Soweit der Antragsgegner demgegenüber an anderer Stelle vorgetragen hat, die
Vorstellungsgespräche seien lediglich deshalb mit den Bewerbern geführt worden, um
ihnen die Möglichkeit zu bieten, zur Abrundung ihrer dienstlichen Beurteilungen
beizutragen, findet dies auch in dem Inhalt der über den Antragsteller erstellten
Beurteilung keine Bestätigung. Diese enthielt keine unmittelbaren Aussagen zu den
tragenden Gesichtspunkten der im Auswahlverfahren unter dem Begriff der
allumfassenden sozialen Kompetenz zusammengefaßten Eignungsmerkmale. Insoweit
bestand mithin Klärungsbedarf, wenn der Justizminister diese Merkmale zum
vorrangigen Kriterium seiner Auswahlentscheidung machen wollte.
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Die in den Vorstellungsgesprächen angesprochenen Themen beziehen sich aus der
Sicht des Justizministers auf Schwerpunkte des spezifischen Anforderungsprofils der im
Streit stehenden Gerichtspräsidentenstelle, die als wesentlichen Bestandteil - neben
richterlicher Spruchtätigkeit - die Behördenleitung umfaßt. Alle Bewerber wären deshalb
bezüglich ihrer Leistungen und (zu prognostizierenden) Eignung unter Beachtung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes und damit auch mit den gleichen verfahrensrechtlichen
Sicherungen an diesem spezifischen Anforderungsprofil zu messen gewesen. Das
wiederum hätte vorausgesetzt, den nach der AV des Justizministers vom 20. Januar
1972 zuständigen Beurteilern das Anforderungsprofil mit der nötigen Klarheit
vorzugeben und für den Fall, daß Beurteilungen von Bewerbern sich gleichwohl nicht
ausreichend zu einzelnen wesentlichen Merkmalen dieses Profils geäußert hätten, vor
dem abschließenden Vergleich der Beurteilungen die Defizite durch ergänzende
Beiträge der zuständigen Beurteiler beseitigen zu lassen. Der Justizminister war
demgegenüber nicht dazu befugt, die hier zu den oben im einzelnen angesprochenen
Eignungsmerkmalen in den schriftlichen Beurteilungen fehlenden Aussagen in eigener
Zuständigkeit und ohne ein formalisiertes Beurteilungsverfahren auf anderem Wege -
hier durch Vorstellungsgespräche - ergänzend festzustellen. Daß
Vorstellungsgespräche als Erkenntnismittel keinen der Erstellung von Beurteilungen
vergleichbaren Verfahrensschutz - insbesondere in bezug auf die Transparenz der
Entscheidungsfindung und auf die Absicherung der Rechte der Bewerber - bieten, ergibt
sich schon aus der bisher nicht hinreichend geklärten Frage ihrer Dokumentation und
wird zudem durch den streitigen Vortrag der Verfahrensbeteiligten zum Inhalt und
Verlauf des mit dem Antragsteller geführten Vorstellungsgesprächs nachhaltig bestätigt.
Die hier seitens des Antragsgegners erfolgte Gewichtung dieses Gesprächs würde
darüber hinaus auch den Grundsätzen widersprechen, die der Senat in seiner
bisherigen Rechtsprechung zum zulässigen Stellenwert von Vorstellungs- bzw.
Auswahlgesprächen in Besetzungsverfahren entwickelt hat. Da solche Gespräche nur
eine Momentaufnahme von den Fähigkeiten des jeweiligen Bewerbers vermitteln
können, kommt ihnen von vornherein nur eine beschränkte Aussagekraft zu. Der dort
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gewonnene Eindruck kann immer nur das Bild über einen Bewerber abrunden und
lediglich in diesem Umfang die Beurteilungsgrundlage erweitern (vgl. Senatsbeschlüsse
vom 8. Juli 1988 - 12 B 959/88 - sowie vom 27. Juni 1994 - 12 B 1084/94 -, DVBl. 1995,
205 = ZBR 1995, 152). Davon kann aber keine Rede mehr sein, wenn - wie hier - die
Vorstellungsgespräche von der obersten Dienstbehörde zumindest auch wesentlich
dazu genutzt worden sind, sich erstmals einen hinreichenden Eindruck über
bestimmende Eignungsmerkmale in bezug auf das spezifische Anforderungsprofil des
konkret zu besetzenden Dienstpostens zu verschaffen.
Die nach allem zu beanstandende Verfahrensweise des Antragsgegners kann sich im
übrigen auch nicht auf die von ihm u.a. im Verwaltungsverfahren angesprochene
Rechtsprechung des Senats stützen, wonach bei gleicher Beurteilung der Bewerber
"andere" Kriterien im Rahmen der Auswahlentscheidung herangezogen werden dürfen.
Mit derartigen anderen Kriterien sind grundsätzlich Hilfskriterien gemeint, also nicht
solche Kriterien, die - wie die hier in Rede stehende Eignung - bereits in der Beurteilung
zu erfassen sind. Die - vollständige - Eignungsbeurteilung muß dementsprechend auch
dann die maßgebliche Grundlage der Auswahl unter den Bewerbern sein, wenn sie sich
an einem besonderen Anforderungsprofil des zu besetzenden Amtes orientiert.
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Der Senat geht davon aus, daß dem Antragsteller in Beachtung der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts nach der neuen Auswahlentscheidung genügend Zeit
gegeben wird, nötigenfalls erneut um gerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Der
Senat sieht davon ab, eventuelle außergerichtliche Kosten des Beigeladenen für
erstattungsfähig zu erklären, weil dieser keinen Sachantrag gestellt und sich damit
selbst keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 20 Abs. 3 GKG.
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