Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 12.11.1984

OVG NRW (abwasser, rhein, technische regel, schutzwürdiges interesse, stand der technik, treu und glauben, wasser, einleitung, teil, juristische person)

Oberverwaltungsgericht NRW, 20 A 393/83
Datum:
12.11.1984
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 A 393/83
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 14 K 755/80
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin, ein Großunternehmen der Chemie,
berechtigt war, die in ihrem Werk xxx anfallende überschüssige Salzsäure als Teil des
Gesamtbetriebsabwassers in den Rhein abzuleiten. Die Salzsäure bildet sich beim
Niederschlagen von chlorwasserstoffhaltigen Abgasen, die nicht in die Atmosphäre
entlassen werden können, mit Wasser bzw. Betriebsabwasser. Für die Abgaswäsche
stehen zwei Verfahrensarten zur Verfügung. Bei der Standard- Abgaswäsche - dem
zunächst entwickelten Verfahren - bleibt eine Flüssigkeit mit ca. 5 %
Chlorwasserstoffgehalt und einem relativ hohen Gehalt an organischen
Verunreinigungen zurück, bei der Spezialabgaswäsche entsteht ca. 30-prozentige
Salzsäure, die praktisch frei von organischen Verbindungen ist. Die Klägerin, in deren
Betrieb im wesentlichen die Spezialabgaswäsche zur Anwendung kommt, verwertete
die anfallende 30-prozentige Salzsäure - soweit möglich - innerbetrieblich. Den
überschüssigen Teil dieser Salzsäure leitete sie in der Vergangenheit über die
Werkskanalisation in den Rhein.
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Grundlage für die Berechtigung zum Ableiten von Betriebsabwasser in den Rhein waren
nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Ordnung des Wasserhaushalts
(Wasserhaushaltsgesetz - WHG -) vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 1110) zunächst die
wasserrechtlichen Erlaubnisse des Regierungspräsidenten xxx vom 23. Juni 1966,
verlängert durch Bescheid vom 24. Juli 1968, und vom 4. September 1973, verlängert
durch Bescheid vom 18. März 1974 bis zum 31. März 1978. In der wasserrechtlichen
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Erlaubnis vom 23. Juni 1966 heißt es u.a. wie folgt:
"Der Firma xxx in xxx ... wird ... die Erlaubnis ... erteilt: Die auf dem Werkteil xxx
anfallenden Abwässer, die unter a) und b) näher bezeichnet sind, über die Auslässe ...
in den Rhein einzuleiten.
4
...
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b) Häusliche Abwässer, Kühlwässer und Betriebsabwässer aus einem ca. 156 ha
großen Einzugsgebiet mit Produktions- und Nebenbetrieben der chemischen Industrie
in einer Menge von bis zu
6
...
7
... Die Erlaubnis wird unter nachstehenden Bedingungen, Auflagen und Vorbehalten
erteilt:
8
...
9
2c) Die Abfallsäuren, insbesondere die Dünnsäure der xxx und die organisch belastete
Abfallschwefelsäure der xxx sind gemäß Terminstudie, Blatt b und
Verhandlungsniederschrift vom 22.12.1964 ab Ende 1967 in einer Menge von 300.000 t
Jahr aus dem Kanalnetz abzutrennen und schadlos zu beseitigen - soweit möglich
durch Verschiffung in die Nordsee - und zwar 200.000 t Dünnsäure der xxx und 100.000
t Abfallschwefelsäure der xxx.
10
...
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6. Für die Abfallsäure (siehe Ziffer 2c) ist ein Speicherraum zu schaffen, der für die
Menge ausreicht, die in einem Zeitraum von 10 Tagen anfällt. Wenn der Abtransport der
Säure wegen Einstellung der Schiffahrt oder aus anderen zwingenden, von der
Unternehmerin nicht zu vertretenen Gründen nicht möglich ist, muß die anfallende
Säure bis zu 10 Tagen gestapelt werden können. Eine etwaig erforderlich werdende
Einleitung in den Rhein ist vorher mit dem Regierungspräsidenten in xxx abzustimmen.
Der Inhalt der Speicherbecken ist nach Wegfall der Hinderungsgründe zusätzlich
abzutransportieren.
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7. In einer zweiten Ausbaustufe sind bis Ende 1970 der Schiffsraum und der Stapelraum
so zu vergrößern, daß sie den Gesamtanfall der Dünnsäure der xxx von 200.000 t/Jahr
und einen solchen von 300.000 t/Jahr an Abfallsäure der xxx aufnehmen bzw. 10 Tage
stapeln können. Außerdem ist gemäß Verhandlungsniederschrift vom 22.12.64 die xxx
verpflichtet, in der zweiten Ausbaustufe 300.000 t/Jahr Dünnsäure durch
Betriebsverlagerung dem Rhein fernzuhalten. Die Auflage einer dritten Ausbaustufe
bleibt vorbehalten.
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8. Für den Abtransport der Abfallsäure und den Betrieb der Stapelbehälter sowie über
Beginn, Dauer und Menge einer Noteinleitung von Abfallsäure in den Rhein ist ein
Betriebsbuch zu führen.
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9. Eine andere Form der Verhütung oder schadlosen Beseitigung der Abfallsäure ist
zulässig, wenn die genannten Fristen eingehalten werden. Außerdem hat sich die
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Unternehmerin ständig darum zu bemühen, den Anfall an Abfallsäure und anderen
flüssigen Konzentraten entsprechend dem Stand der Technik zu verringern. Über die in
diesem Zusammenhang erzielten Ergebnisse ist bis zum 1.1.1968 dem
Regierungspräsidenten xxx zusammenfassend zu berichten.
...
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10.2 Nach Abtrennung der organischen Abwässer muß das Abwasser an den
Auslässen folgenden Richtwerten genügen: 1. pH-Wert zwischen 2,0 und 9,0
17
..."
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Unter dem 28. November 1977 beantragte die Klägerin die Erneuerung der
wasserrechtlichen Erlaubnis zur Abteilung der Abwässer aus dem Werk xxx in den
Rhein und - auf Anraten des Beklagten - am 29. März 1978 die Zulassung des
vorzeitigen Beginns. Der Beklagte erteilte ihr durch Bescheid vom 16. August 1978
unter Anordnung einer Reihe von Nebenbestimmungen die Zulassung des vorzeitigen
Beginns - u.a. zum Ableiten von Betriebsabwässern - rückwirkend ab dem 1. April 1978
und befristet bis zum 1. Oktober 1980. Am 14. September 1978 legte die Klägerin gegen
den Bescheid Widerspruch ein mit der Begründung, sie könne einen Teil der
Bedingungen und Auflagen nicht erfüllen. In dem Teilwiderspruchsbescheid vom 17.
Januar 1980 änderte der Beklagte einige der Nebenbestimmungen ab und wies im
übrigen darauf hin, daß nach der vorzeitigen Zulassung vom 16. August 1978 Säure
oder "Säuremengen" nicht eingeleitet werden dürften; die vorzeitige Zulassung decke
lediglich die Ableitung von Betriebsabwasser, das natürlich auch sauer reagieren
könne.
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Die Klägerin hat am 25. Februar 1980 Klage erhoben, mit der sie die Abänderung
bestimmter, im Bescheid vom 16. August 1980 enthaltener Nebenbestimmungen
begehrt hat. Nachdem im Oktober 1980 die zweite Ausbaustufe des
Gemeinschaftsklärwerkes fertiggestellt und der Klägerin unter dem 20. März 1981 die
(endgültige) wasserrechtliche Erlaubnis zum Ableiten ihres Betriebsabwassers in den
Rhein erteilt worden war, hat die Klägerin einen Fortsetzungsfeststellungsantrag gestellt
sowie mit Schriftsatz vom 27. Mai 1982 weiterhin die Feststellung begehrt, daß sie bis
zum 31. Juli 1979 berechtigt gewesen sei, die in ihrem Werk xxx zwangsweise
anfallende überschüssige nicht anders zu entsorgende, Salzsäure als Teil des
Gesamtbetriebsabwassers des Werkes in den Rhein abzuleiten. Dieses zusätzliche
Feststellungsbegehren ist Gegenstand des Berufungsverfahrens.
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Zur Begründung ihrer Feststellungsklage hat sie im wesentlichen vorgetragen: Die
Klage sei zulässig. Das erforderliche Feststellungsinteresse ergebe sich daraus, daß
gegen leitende Personen ihres Betriebes wegen des Verdachts der
Gewässerverunreinigung ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden
sei. In diesem Verfahren habe der Beklagte bekundet, daß die im Werk xxx langjährig
praktizierte Einleitung von Überschußmengen der zwangsweise anfallenden salzsauren
Abwässer nicht durch wasserrechtliche Erlaubnisse gedeckt gewesen sei. Die Klage sei
auch begründet. Die in ihrem Betrieb bei der Abgaswäsche anfallenden Salzsäuren
seien Abwasser und nicht Abfall. Es handele sich hierbei um Wasser, das infolge einer
Beeinflussung in seiner Brauchbarkeit gemindert worden sei und deshalb abgeleitet
werde. Dieses Abwasser sei ein Teil des Betriebsabwassers, das sie entsprechend den
seit 1966 erteilten wasserrechtlichen Erlaubnissen in den Rhein habe einleiten dürfen.
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Von der Einleitungsbefugnis seien 1966 nur die Abfallsäuren, d.h. die Dünnsäure der
Firma xxx und die bei ihr anfallenden Abfallschwefelsäuren, ausgenommen worden.
Die Klägerin hat beantragt,
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1. festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet war, unter teilweiser Änderung der
Auflagen 3.2.1 und 4.3 des Bescheides vom 16. August 1978 in der Fassung des
Teilwiderspruchsbescheides vom 17. Januar 1980 den Antrag auf Erteilung der
wasserrechtlichen Erlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu
zu bescheiden,
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2. festzustellen, daß sie, die Klägerin, in wasser- und abfallrechtlicher Hinsicht bis zum
31. Juli 1979 berechtigt war, die im Werk xxx zwangsweise anfallende überschüssige
Salzsäure, die nicht in anderer Weise entsorgt werden konnte, als Teil des
Gesamtbetriebsabwassers des Werkes in den Rhein zu leiten.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat vorgetragen: Die Feststellungsklage sei unzulässig; die Klägerin hätte
Verpflichtungsklage erheben müssen, hierfür fehle es aber an einem entsprechenden
Vorverfahren. Die Einleitung der anfallenden Salzsäure mit Ausnahme der bei der
Standard-Abgaswäsche entstehenden 4- bis 5-prozentigen Säuren sei durch die
erteilten wasserrechtlichen Erlaubnisse nicht gedeckt. Der Bescheid vom 23. Juni 1966
klammere die Abfallsäuren aus, zu denen auch die Salzsäure gehöre. Die anfallende
Salzsäure, die von der Klägerin nicht wiederverwendet werde, sei Abfall und nicht
Abwasser. Ihre Entsorgung hätte nach dem Abfallbeseitigungsgesetz geregelt werden
müssen.
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Das Verwaltungsgericht hat durch das angefochtene Urteil, auf das Bezug genommen
wird, der Klage stattgegeben.
28
Gegen das ihm am 10. Dezember 1982 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 4. Januar
1983 Berufung eingelegt mit dem Antrag,
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das angefochtene Urteil zu ändern, soweit es die Feststellung beinhaltet, die Klägerin
sei in wasser- und abfallrechtlicher Hinsicht bis zum 31. Juli 1979 berechtigt gewesen,
die im Werk Leverkusen zwangsweise anfallende überschüssige Salzsäure, die nicht in
anderer Weise entsorgt werden konnte, als Teil des Gesamtbetriebsabwassers des
Werkes in den Rhein abzuleiten, und insoweit die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
31
die Berufung zurückzuweisen.
32
Die Parteien vertiefen ihre gegensätzlichen Standpunkte.
33
Zum weiteren Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegten
Verwaltungsvorgänge sowie die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft xxx sowie xxx
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die Klage ist - soweit der Senat über sie noch
zu befinden hat - zulässig und begründet.
36
Nach § 43 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann durch Klage die
Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der
Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes
Interesse an der baldigen Feststellung hat. Unter einem Rechtsverhältnis im Sinne des
§ 43 Abs. 1 VwGO sind die aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer
Rechtsnorm des öffentlichen Rechts sich ergebenden Beziehungen einer Person zu
einer anderen Person oder zu einer Sache zu verstehen.
37
Vgl. Redeker/von Oertzen, 7. Aufl., § 43 Anm. 3; Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Aufl., § 43
Rdnr. 3; Kopp, VwGO, 6. Aufl., § 43 Rdnr. 11.
38
Das Begehren der Klägerin ist auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses gerichtet,
nämlich darauf, ob ihr aufgrund der erteilten Erlaubnisse eine bestimmte
Einleitungsbefugnis zustand. Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der
baldigen Feststellung ihres Begehrens. Der Beklagte vertritt die Auffassung, die
Klägerin sei zur Einleitung der überschüssigen Salzsäure in den Rhein nicht befugt
gewesen, und hat diese Auffassung in Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft xxx
vertreten, die gegen die Klägerin (xxx) bzw. gegen einige ihrer Angestellten (xxx)
schweben. Trifft die Auffassung des Beklagten zu, so kann mit dem Einleiten der
überschüssigen Salzsäure in den Rhein der Tatbestand des bis zum 1. Juli 1980
geltenden § 38 WHG (nunmehr § 324 des Strafgesetzbuches - StGB -) verwirklicht
worden sein. Zwar kann sich gegen die Klägerin als juristische Person kein
Strafverfahren richten; auch sind die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bezüglich des
Ableitens der überschüssigen Salzsäure in den Rhein bislang nicht gegen ein Mitglied
eines vertretungsberechtigten Organs der Klägerin aufgenommen worden (vgl. § 30 des
Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten - OWiG -). Die Klägerin hat aber ein
schutzwürdiges Interesse ideeller sowie - wegen möglicher geschäftlicher
Auswirkungen - wirtschaftlicher Art, nicht einer unzulässigen Verschmutzung des
Rheins bezichtigt zu werden. Sie hat weiterhin ein schutzwürdiges Interesse daran, ihre
Mitarbeiter vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen, deren Anlaß auf einer Tätigkeit
für die Klägerin beruht. Die hier (von den Verwaltungsgerichten) zu treffende
Entscheidung ist zwar für den Strafrichter nicht bindend. Schon der Einfluß, den eine der
Klägerin günstige Entscheidung auf die Beurteilung der strafrechtlichen Schuldfrage
ausüben kann, rechtfertigt aber das Feststellungsbegehren.
39
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 13. Januar 1969 - 1 C 86.64 -,
Buchholz 310 Nr. 31 zu § 43 VwGO; auch Urteil vom 24. Oktober 1979 - 8 C 22.78 -,
BVerwGE 59, 23.
40
Der Klage steht nicht der Grundsatz der Subsidarität der Feststellungsklage (§ 43 Abs. 2
VwGO) entgegen. Verwaltungsakte, die die Klägerin hätte anfechten können, sind nicht
ergangen. Der im Teilwiderspruchsbescheid vom 17. Januar 1980 enthaltene Hinweis
zur Berechtigung der Einleitung von Säuren oder Säuremengen stellt eben nur einen
Hinweis auf eine nach Auffassung des Beklagten bereits bestehende Regelung und
keine Neuregelung dar. Eine Verpflichtungsklage kam für die Klägerin, wie das
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Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht in Betracht.
Die Feststellungsklage ist auch begründet. Die Klägerin war in wasser- und
abfallrechtlicher Hinsicht aufgrund der ab Juni 1966 erteilten Erlaubnisse bis zum 31.
Juli 1979 berechtigt, die im Werk xxx anfallende überschüssige Salzsäure, die nicht in
anderer Weise entsorgt werden konnte, als Teil des Gesamtbetriebsabwassers in den
Rhein abzuleiten.
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Der von der Klägerin praktizierten Säureeinleitung stehen die Regelungen des
Gesetzes über die Beseitigung von Abfällen (Abfallbeseitigungsgesetz - AbfG -) vom 7.
Juni 1972 (BGBl. I S. 873) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Januar 1977
(BGBl. I S. 41) nicht entgegen. Das Abfallbeseitigungsgesetz findet hier keine
Anwendung. Gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 5 AbfG gilt das Abfallbeseitigungsgesetz nicht für
Abwasser, soweit es in Gewässer oder Abwasseranlagen eingeleitet wird. Die bei der
Klägerin zwangsweise anfallende, nicht anderweitig verwertbare Salzsäure ist
Abwasser im Sinne dieser Vorschrift.
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Der Begriff "Abwasser" ist im Abfallbeseitigungsgesetz nicht definiert. Die Vorschrift des
§ 1 Abs. 3 Nr. 5 AbfG bedarf daher der Auslegung. Für diese Auslegung ist maßgebend
der objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus der Gesetzesbestimmung
und dem Sinnzusammenhang ergibt, in dem diese hineingestellt ist.
44
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluß vom 15. Dezember 1959 - 1 BvL
10/55 -, BVerfGE 10, 234 (244), und Beschluß vom 17. Mai 1960 - 2 BvL 11/59, 11/60 -,
BVerfGE 11, 126 (130 f.).
45
Hiernach vermag der Senat nicht die Auffassung zu teilen, eine Flüssigkeit, deren sich
der Besitzer entledigen wolle, sei zunächst stets als Abfall und erst mit der Einleitung in
ein Gewässer oder eine Abwasseranlage als Abwasser zu qualifizieren.
46
So Bickel, DÖV 1981, 448 ff.
47
Gegen diese Auffassung spricht bereits der Wortlaut des § 1 Abs. 3 Nr. 5 AbfG. Dieser
setzt gedanklich die Qualifikation eines Stoffes als Abwasser unabhängig davon voraus,
ob er in ein Gewässer oder eine Abwasseranlage eingeleitet wird.
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Vgl. auch Henseler, Das Recht der Abwasserbeseitigung, S. 10 f.
49
Des weiteren kann der Auffassung nicht gefolgt werden, Abwasser liege nur vor, wenn
als Ausgangsstoff eines Produktions- oder sonstigen Gebrauchsvorgangs Wasser
vorhanden gewesen sei; hierauf müsse eine aktive, zielgerichtete menschliche
Einflußnahme stattgefunden haben; es genüge nicht, daß irgendwann - etwa bei der
Herstellung eines Wirtschaftsguts ein Wasserverbrauch stattgefunden habe.
50
So Praml, ZfW 1983, 92 (95 f.).
51
Diese Auffassung steht im Sinn und Zweck der Vorschrift des § 1 Abs. 3 Nr. 5 AbfG nicht
im Einklang. Ziel des Gesetzgebers war es, durch die Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 5
AbfG Abwasser- und Abfallbeseitigung zu trennen, und zwar dergestalt, daß die
Regelungen des Abfallbeseitigungsgesetzes die bislang schon intensiv betriebene
Abwasserbeseitigung unberührt lassen sollten. Mit dem Erlaß des
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Abfallbeseitigungsgesetzes sollte die bis dahin fehlende Rechtsgrundlage für
Maßnahmen zur schadlosen Beseitigung der festen und schlammigen Abfallstoffe
geschaffen werden; für Abwasser, soweit es in Gewässer oder Abwasseranlagen
eingeleitet wird, sollte es bei der bisherigen wasserrechtlichen Zuordnung verbleiben.
Vgl. BT-Drucks. VI/2401, S. 7, 11; Breuer, Aktuelle Fragen des Wasserrechts,
veröffentlicht in der Schrift "Umwelt-Immissionsschutz-Wasserrecht" des Deutschen
Anwaltsinstitutes e.V. - Fachinstitut für Verwaltungsrecht in Bochum - von Mai 1984, S.
103 ff.
53
Der Begriff des Abwassers im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 5 AbfG umfaßt vielmehr alles,
was zum Zeitpunkt des Erlasses des Abfallbeseitigungsgesetzes in
wasserwirtschaftsrechtlicher Hinsicht - eine Definition des Abwassers enthält auch das
Wasserhaushaltsgesetz bislang nicht - unter Abwasser verstanden wurde. Demnach ist
Abwasser sämtliches infolge einer Beeinflussung in seinen Eigenschaften verändertes
Wasser bzw. Wassergemisch, hinsichtlich dessen ein Entledigungswille bzw. -bedürfnis
besteht. Unerheblich für die Einstufung als Abwasser sind der Ursprung, die
Verwaltungsmöglichkeit, der Schadstoffgehalt sowie die Höhe des Wasseranteils der
Flüssigkeit.
54
Vgl. Breuer, a.a.O.; auch die in Einzelheiten allerdings differierenden Umschreibungen
des Abwasserbegriffs bei Gieseke-Wiedemann-Czychowski, WHG, 3. Aufl., § 7a Rdnr. 4
und 5, sowie Sieder-Zeitler-Dahme, WHG, Loseblattkommentar, Stand: 8.
Ergänzungslieferung, § 7a Rdnr. 5.
55
Die gegen diesen "weiten" Abwasserbegriff, von dem auch das Verwaltungsgericht in
zutreffender Weise ausgegangen ist, erhobene Kritik,
56
vgl. Salzwedel, ZfW 1983, 84 ff.; Bickel, DÖV 1983, 256 f.; Hösel/von Lersner, Recht der
Abfallbeseitigung des Bundes und der Länder, Loseblattkommentar, Stand: 19.
Ergänzungslieferung, § 1 Rdnr. 26,
57
vermag letztlich nicht zu überzeugen.
58
Sie kann sich zunächst nicht auf die Entstehungsgeschichte des
Abfallbeseitigungsgesetzes berufen. Daß der Bundesgesetzgeber der Anregung der
Länder, die Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 5 AbfG auf wasserrechtlich legalisierte
Einleitungen von Abwasser zu beschränken, nicht gefolgt ist,
59
vgl. hierzu Hösel/von Lersner, a.a.O., § 1 Rdnr. 19,
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gibt für eine Einengung des Abwasserbegriffs nichts her. Im Rahmen dieser zwischen
dem Bund und den Ländern kontrovers geführten Auseinandersetzung stand der Begriff
des Abwassers als solcher nicht in Frage. Das Argument, nach dem allgemeinen
Sprachgebrauch könnten wasserhaltige Produkte wie z.B. Salzsäure, Fruchtsaft, Bier,
Kaffee usw. nicht mehr als Wasser und damit nicht als Abwasser bezeichnet werden,
verfängt nicht. Entscheidend ist allein, ob die Beseitigung dieser Produkte, wenn man
sich ihrer entledigen will bzw. ihre Entledigung objektiv geboten ist,
herkömmlicherweise durch Rückführung in den Wasserhaushalt erfolgt. Dies ist jedoch
der Fall. Bei der Beseitigung steht das wasserhaltige Produkt als solches nicht mehr im
Vordergrund. Es geht vielmehr um die Rückführung einer wasserhaltigen Flüssigkeit in
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den Wasserhaushalt, ein Vorgang der üblicherweise mit Abwassereinleitung bezeichnet
wird. Die technische Regel DIN 4045 (Abwasserwesen, Fachausdrücke,
Begriffserklärung) aus dem Jahre 1964, die Abwasser als "nach häuslichem oder
gewerblichem Verbrauch verändertes, insbesondere verunreinigtes, abfließendes und
von Niederschlägen stammendes und in die Kanalisation gelangendes Wasser"
definiert, vermag den vorgenannten Abwasserbegriff ebensowenig einzuengen wie die
in den Landeswassergesetzen (vgl. z.B. § 45a Abs. 2 HessVG, Art. 41a Abs. 1 BayWG,
§ 51 Abs. 1 LWG NW) enthaltenen Definitionen des Abwassers. Die technische Regel
DIN 4045 als nichtnormative Regel kann eine direkte Änderung des Rechtsbegriffs des
Abwassers nicht herbeiführen. Sie verfolgt auch andere Ziele und weist für den
Anwendungsbereich des Wasserhaushaltsgesetzes Lücken auf - der landwirtschaftliche
Bereich ist nicht erfaßt -, so daß ihr Abwasserbegriff für den wasserwirtschaftlichen
Bereich nicht verbindlich sein kann.
Vgl. Czychowski, ZfW 1978, 280; auch Sieder-Zeitler-Dahme, a.a.O., § 7a Rdnr. 5.
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Die landesrechtlichen Definitionen des Abwassers lassen den Abwasserbegriff
unberührt, weil dieser bundesrechtlich festgelegt ist und damit nicht durch
landesrechtliche Regelungen ausgefüllt werden kann.
63
Vgl. Breuer, a.a.O.; Czychowski, ZfW 1978, 280; Stortz, ZfW 1978, 257 ff. (269).
64
Der Begriff des Abwassers im vorgenannten Sinne hat ferner keine Änderung durch die
Definition des. Abwassers in § 2 Abs. 1 des Gesetzes über Abgaben für das Einleiten
von Abwasser in Gewässer (Abwasserabgabengesetz - AbwAG -) vom 13. September
1976 (BGBl. I S. 2721) erfahren. Der Aufgabenbereich des Abwasserabgabengesetzes
deckt sich nicht mit dem des Wasserhaushaltsgesetzes, so daß der abgabenrechtliche
Abwasserbegriff mit dem wasserwirtschaftlichen Abwasserbegriff nicht identisch zu sein
braucht.
65
Vgl. Gieseke-Wiedemann-Czychowski, a.a.O., § 7a Rdnr. 4; Sieder-Zeitler- Dahme,
a.a.O., § 7a Rdnr. 6; a.A., Breuer, a.a.O., der jedoch durch einschränkende Auslegung
des § 2 Abs. 1 AbwAG zum selben Ergebnis kommt.
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Schließlich trifft der Einwand nicht zu, die hier vertretene Auslegung des
Abwasserbegriffs widerspreche der umweltrechtlichen Systematik. Durch die Regelung
des § 1 Abs. 3 Nr. 5 AbfG hat der Gesetzgeber eben zu erkennen gegeben, daß in dem
hier in Rede stehenden Bereich dem Abfallrecht kein Vorrang einzuräumen ist. Daß auf
der Grundlage der Regelungen des Wasserhaushaltsgesetzes und der entsprechenden
Landeswassergesetze auch bei dem vom Senat angenommenen "weiten"
Abwasserbegriff eine umweltgerechte Abwasserbeseitigung möglich ist, dürfte außer
Zweifel stehen.
67
Die Klägerin war in wasserrechtlicher Hinsicht befugt, die anfallende überschüssige
Salzsäure in den Rhein abzuleiten. Die Auslegung der wasserrechtlichen Erlaubnis
vom 23. Juni 1966 sowie der nachfolgenden Erlaubnisse (einschließlich der vorzeitigen
Zulassung vom 16. August 1978) ergibt, daß die fragliche Salzsäure zu den
Betriebsabwässern zu zählen ist, deren Einleitung in den Rhein der Klägerin erlaubt
wurde.
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Bei der Auslegung wasserrechtlicher Erlaubnisse ist auf den Willen der jeweiligen
69
Wasserbehörde im Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnisse abzustellen, aber unter
Berücksichtigung dessen, wie der Unternehmer die Regelung nach Treu und Glauben
verstehen mußte. Eine Vermutung des Inhalts, daß die Wasserbehörde alles erlaubt hat,
was nicht im strengsten Wortsinn von der Erlaubnis ausgeschlossen ist, kann dabei
wenig aufgestellt werden, wie eine des Inhalts, daß alles verboten ist, was sie nicht
nachweislich und evident als wasserverträglich überprüft hat.
Vgl. Salzwedel, a.a.O.
70
Hiervon ausgehend war die Klägerin - wie die Festsetzung des pH-Wertes zwischen 2,0
und 9,0 in den Erlaubnissen zeigt und was vom Beklagten auch nicht in Abrede gestellt
wird - grundsätzlich berechtigt, säurehaltiges Abwasser in den Rhein abzuleiten. Eine
gesonderte Regelung ist nur hinsichtlich der Abfallsäuren erfolgt (vgl.
Nebenbestimmungen Nr. 2c, 6 - 9 des Erlaubnisbescheides vom 23. Juni 1966). Die
Abfallsäuren sollten ab Ende 1967 in einer bestimmten Menge aus dem Kanalnetz
abgetrennt und - insbesondere durch Verklappung in die Nordsee - schadlos beseitigt
werden. Zu den Abfallsäuren ist jedoch das salzsäurehaltige Abwasser und damit auch
die anfallende überschüssige Salzsäure nicht zu zählen. Der Senat nimmt insoweit auf
die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Urteil
Bezug. Ergänzend weist der Senat darauf hin, daß aus den vor Erlaß des Bescheides
vom 23. Juni 1966 zwischen den damaligen Beteiligten geführten Verhandlungen (vgl.
u.a. Verhandlungsniederschrift vom 22. Dezember 1964) nicht ersichtlich ist, daß unter
den Begriff Abfallsäuren noch andere Säuren als die Dünnsäure der xxx und die
Abfallschwefelsäure der Klägerin fallen sollten. Die Klägerin hat im übrigen auch in
ihrem Antrag vom 4. März 1965, auf dem die Erlaubnis vom 23. Juni 1966 beruht, als
Abfallsäure nur die bei ihr anfallende Abfallschwefelsäure bezeichnet, die ebenso zu
betrachten sei wie die Dünnsäure der xxx (vgl. C Nr. 1 des Erläuterungsberichtes zum
Antrag vom 4. März 1965). Wenn der Beklagte sich in diesem Zusammenhang auf die
Regelung des § 7a WHG beruft - die Einleitung von Salzsäure in den Rhein entspreche
nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik -, ist ihm entgegenzuhalten, daß
die Vorschrift erst durch das vierte Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes
vom 26. April 1976 (BGBl. I S. 1109) in das Wasserhaushaltsgesetz eingefügt worden
ist, mithin zur Auslegung der zuvor erteilten Erlaubnisse nicht herangezogen werden
kann. Die Zulassung des vorzeitigen Beginns vom 16. August 1978 steht in Kontinuität
zu den bislang erteilten Erlaubnissen. Eine Änderung des Umfanges der
Einleitungsbefugnis der Klägerin - mögliche Anpassung der Erlaubnis an die Regelung
des § 7a WHG - hätte daher ausdrücklich erfolgen müssen. Dies ist jedoch nicht
geschehen. Der Beklagte hat auch vor dem hier in Frage stehenden Zeitpunkt - dem 31.
Juli 1979 - gegenüber der Klägerin seine gegenteilige Auffassung nicht deutlich
gemacht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
72
Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil der Rechtssache im
Hinblick auf die Abgrenzung der Begriffe Abwasser und Abfall grundsätzliche
Bedeutung beizumessen ist.
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74