Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 18.08.2004

OVG NRW: eltern, jugendhilfe, vernehmung von zeugen, sozialleistung, unterbringung, behörde, schule, beratungsstelle, wechsel, test

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 1174/01
Datum:
18.08.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 1174/01
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 7 K 1574/00
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Zulassungsverfahrens.
G r ü n d e :
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung, dessen Prüfung sich nach § 124a der
Verwaltungsgerichtsordnung in der für die Zeit bis zum 31. Dezember 2001 geltenden
Fassung (VwGO a.F.) und § 124 Abs. 2 VwGO richtet (vgl. § 194 Abs. 1 VwGO in der
Fassung von Art. 1 Nr. 28 des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im
Verwaltungsprozess vom 20. Dezember 2001 - BGBl. I S. 3987), hat keinen Erfolg. Die
geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
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1. Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des
erstinstanzlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Derartige Zweifel
bestehen nur dann, wenn durch das Vorbringen des Rechtsbehelfsführers Bedenken
von solchem Gewicht gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung
hervorgerufen werden, dass deren Ergebnis ernstlich in Frage gestellt ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. März 2001 - 12 B 1284/00 - sowie auch BVerwG,
Beschluss vom 10. März 2004 - 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, S. 542.
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Das ist hier nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, mit der
der Kläger die Verpflichtung des Beklagten erstrebt, die von seinen Eltern im Zeitraum
von 1995 bis 1999 aufgewendeten Kosten seiner Unterbringung im Internat D. J. School
in T. aus Jugendhilfemitteln zu erstatten. Die Richtigkeit dieses
Entscheidungsergebnisses wird durch das Zulassungsvorbringen nicht ernstlich in
Frage gestellt.
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Haben Eltern, Personensorgeberechtigte oder junge Menschen sich - wie im
vorliegenden Fall - eine Leistung, die grundsätzlich im Rahmen der Kinder- und
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Jugendhilfe gewährt werden kann, ohne Mitwirkung und Zustimmung des Trägers der
öffentlichen Jugendhilfe bereits von Dritten selbst beschafft, so führt eine solche
Selbstbeschaffung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des
beschließenden Senats nicht zum ersatzlosen Wegfall des Primäranspruchs auf Hilfe
durch das Jugendamt. Vielmehr ist anerkannt, dass der Träger der Jugendhilfe
(sekundär) zur Erstattung von Kosten für bereits anderweitig durchgeführte Maßnahmen
verpflichtet sein kann. Der (sekundäre) Anspruch auf Erstattung der Kosten ist in
derselben Weise vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des
Hilfetatbestands abhängig wie die primäre Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur
Hilfegewährung.
Vgl. Senatsurteil vom 14. März 2003 - 12 A 1193/01 -, FEVS 55, S. 86 (88 f.), mit
weiteren Nachweisen, insbesondere zur Rechtsprechung des BVerwG.
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Allerdings ist der Hilfesuchende nur dann zur Selbstbeschaffung einer
Jugendhilfeleistung berechtigt, wenn er hierauf zur effektiven Durchsetzung eines
bestehenden Jugendhilfeanspruchs angewiesen ist, weil der öffentliche
Jugendhilfeträger sie nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt hat (vgl. auch
die am 1. Juli 2001 in Kraft getretene Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 3 und 4 des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch - SGB IX - vom 19. Juni 2001, BGBl. I S. 1046), das
für die Leistungsgewährung vorgesehene System also versagt hat. Ein solches
"Systemversagen" liegt vor, wenn die Leistung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe
nicht erbracht wird, obwohl der Hilfesuchende die Leistungserbringung durch eine
rechtzeitige Antragstellung und seine hinreichende Mitwirkung ermöglicht hat und auch
die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung vorliegen. In
dieser Situation darf sich der Leistungsberechtigte die Leistung selbst beschaffen, wenn
es ihm wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten ist, die Bedarfsdeckung
aufzuschieben.
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Vgl. Senatsurteile vom 14. März 2003 - 12 A 1193/01 -, a.a.O., S. 89, und - 12 A 122/02 -,
FEVS 55, S. 16 (18).
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In Anwendung dieser Grundsätze steht dem Kläger gegen den Beklagten kein Anspruch
auf Erstattung der Kosten seiner Unterbringung in der D. J. School zu, weil er nicht vor
der Selbstbeschaffung die Gewährung von Jugendhilfe, namentlich Eingliederungshilfe
gemäß § 35a SGB VIII, beantragt hat. In der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass zu den gesetzlichen Voraussetzungen der
Jugendhilfe auch ein rechtzeitig vor Beginn der Maßnahme gestellter Hilfeantrag des
Leistungsberechtigten gehört.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 2000 - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, S. 98 =
FEVS 52, S. 532, mit eingehender Begründung.
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Dieser Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts folgt der beschließende Senat,
12
vgl. Urteile vom 14. März 2003 - 12 A 1193/01 - und - 12 A 122/02 -, a.a.O., S. 89 f. und
S. 18 f.;
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er sieht auch unter Berücksichtigung der vom Kläger im Zulassungsverfahren dagegen
vorgebrachten Einwände keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzurücken.
14
An dem somit erforderlichen Antrag des Klägers fehlt es hier. Nach § 16 Abs. 1 Satz 1
SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Leistungsträger zu stellen.
Zuständig für die Gewährung von Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) für den Kläger
war der Beklagte als örtlicher Träger der Jugendhilfe (vgl. §§ 85 Abs. 1, 86 Abs. 1 Satz 1
SGB VIII). Dieser ist jedoch nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im
angefochtenen Urteil, die insoweit mit dem Zulassungsantrag nicht angegriffen werden,
mit dem Hilfefall erstmalig durch den Kostenübernahmeantrag vom 7. Februar 2000 -
und damit nach Beendigung des Internatsaufenthaltes - befasst worden.
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Die Vorschrift des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I greift nicht zugunsten des Klägers ein.
Danach gilt, wenn die Sozialleistung von einem Antrag abhängig ist, der Antrag als zu
dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für
die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der
Bundesrepublik Deutschland im Ausland eingegangen ist. Dazu hat das
Verwaltungsgericht ausgeführt, ein Antrag auf die Sozialleistung „Jugendhilfe", der
gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I als bei dem Beklagten eingegangen gelten könnte,
habe bereits im Ansatz nicht vorgelegen, weil die vorangegangenen Vorstöße bei der
Schulberatungsstelle noch nicht erkennbar auf die Gewährung von Jugendhilfe gerichtet
gewesen seien. Die hiergegen mit dem Zulassungsantrag erhobenen Einwendungen
greifen nicht durch.
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Der Kläger trägt insoweit vor: Seine Eltern hätten sich im Jahr 1994 an die
Schulberatungsstelle des Kreises Q. und im Jahr 1995 an das Gesundheitsamt des
gleichen Rechtsträgers jeweils mit der Bitte um Hilfe gewandt. Er habe daher einen
Antrag bei einem unzuständigen Leistungsträger, nämlich dem Kreis Q. , gestellt. Die
Begründung des Verwaltungsgerichts, er habe nicht ausdrücklich die Gewährung von
Jugendhilfe beantragt, könne nicht überzeugen. Denn von einem Hilfeempfänger könne
nicht verlangt werden, die seelischen Probleme, die ein Jugendlicher infolge einer
Hochbegabung habe, einem bestimmten sozial- oder schulrechtlichen Bereich
zuzuordnen. Die Eltern hätten sich über die Jahre hinweg nachdrücklich um Hilfe
bemüht. Sie seien dabei zunächst immer nur auf schulische Fördermöglichkeiten
gekommen, was ihnen jedoch nicht zum Nachteil gereichen dürfe.
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Das Vorbringen, die Eltern des Klägers hätten sich im Jahr 1994 an die
Schulberatungsstelle des Kreises Q. gewandt, ist schon nicht hinreichend substantiiert.
Der Hinweis in der Antragsschrift, dies - die im Jahr 1994 an die Schulberatungsstelle
gerichtete Bitte um Hilfe - sei auch vorgetragen worden, trifft nicht zu. Im
erstinstanzlichen Verfahren ist lediglich auf ein Schreiben der Regionalen
Schulberatungsstelle des Kreises Q. vom 16. Januar 1992 Bezug genommen worden, in
dem das Testergebnis des Klägers im „Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung"
vom 2. Januar 1992 zusammengefasst worden ist. Dem Schreiben der
Schulberatungsstelle des Kreises Q. ist indes nicht zu entnehmen, dass die Eltern des
Klägers dort seinerzeit einen Antrag auf eine Sozialleistung im Sinne des § 16 SGB I
gestellt haben.
18
Ein Antrag ist jede Erklärung, durch die jemand - sei es ausdrücklich, sei es in der Form
schlüssigen Verhaltens - Sozialleistungen ganz allgemein oder eine bestimmte
Sozialleistung begehrt. Für die angegangene Behörde muss bei verständiger
Würdigung erkennbar sein, dass und aus welchem Sozialleistungsbereich der
Antragsteller Sozialleistungen begehrt.
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Vgl. Kretschmer/v.Maydell/Schellhorn, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch
- Allgemeiner Teil (GK-SGB I), 3. Aufl. 1996, § 16 Rn. 9 und 15, unter Hinweis auf BSG,
Urteil vom 15. April 1958 - 10 RV 393/56 -, BSGE 7, S. 118 (120); Mrozynski,
Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I), 2. Aufl. 1995, § 16 Rn. 3-5; auch
Reinhardt, in: Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil, Lehr- und Praxiskommentar (LPK -
SGB I), 1. Aufl. 2003, § 16 Rn. 6, sowie BVerwG, Urteil vom 28. September 2000 - 5 C
29.99 -, FEVS 52, S. 532 (538).
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Das Schreiben der Schulberatungsstelle des Kreises Q. vom 16. Januar 1992 lässt nicht
ansatzweise erkennen, dass die Eltern des Klägers dort irgendeine Sozialleistung
begehrt haben. Vielmehr hat sich der Kläger bei dieser Stelle - offenbar im
Zusammenhang mit dem zu Beginn des Schuljahres 1992/93 anstehenden Wechsel
von der Grundschule auf eine weiterführende Schule - einem Test unterzogen, dessen
Ergebnis seinen Eltern bei der Entscheidung für eine bestimmte Schulform eine Hilfe
bieten sollte. Danach haben die Eltern bei der genannten Stelle um Beratung
hinsichtlich der weiteren Schullaufbahn ihres Sohnes, aber nicht um eine Sozialleistung
nachgesucht.
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Soweit sich das Zulassungsvorbringen auf den im Kostenerstattungsantrag der Eltern
des Klägers vom 7. Februar 2000 als Anlage 8 aufgeführten „Psychologischen Bericht
der Schulberatungsstelle Frau I. „ vom 15. März 1994 beziehen sollte, lässt dieser in den
Verwaltungsvorgängen des Beklagten enthaltene Bericht nicht darauf schließen, dass
die Eltern des Klägers einen Antrag bei einem unzuständigen Leistungsträger nach § 16
Abs. 2 SGB I gestellt haben. Leistungsträger sind die Träger der in den §§ 18 bis 29
SGB I genannten Sozialleistungen.
22
Vgl. Kretschmer/v.Maydell/Schellhorn, a.a.O., § 16 Rn. 23; Reinhardt, a.a.O., § 16 Rn.
14.
23
Bei der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche, deren Mitarbeiterin I. den
Psychologischen Bericht vom 15. März 1994 verfasst hat, handelt es sich ausweislich
des Briefkopfes jedoch nicht um die Beratungsstelle eines Sozialleistungsträgers,
insbesondere nicht um die Schulberatungsstelle des Kreises Q. , sondern offenbar um
eine kirchliche Einrichtung.
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Der Kläger hat mit dem Zulassungsantrag auch nicht substantiiert dargelegt, dass er im
Jahr 1995 beim Gesundheitsamt des Kreises Q. Sozialleistungen begehrt hat. In seiner
in Bezug genommenen erstinstanzlichen Klagebegründung hat er auf ein Schreiben
dieses Gesundheitsamtes vom 29. September 1995 verwiesen, in dem es heißt, hiermit
werde amtsärztlich bestätigt, dass die Unterbringung des Schülers G. L. aus
gesundheitlichen Gründen in einer Spezialschule notwendig sei; eine derartige Schule
sei in der Nähe Q1. nicht vorhanden. Da dieses Schreiben an den Vater des Klägers
adressiert ist und die Überschrift „Amtsärztliche Bescheinigung zur Vorlage beim
zuständigen Finanzamt" trägt, ist davon auszugehen, dass die Hilfe, die die Eltern des
Klägers - offensichtlich nach dessen Aufnahme in die D. J. School - vom
Gesundheitsamt des Kreises Q. erbeten haben, sich auf die Ausstellung einer
Bescheinigung für steuerliche Zwecke beschränkt hat. Für die Annahme, dass die Eltern
beim Gesundheitsamt ausdrücklich oder konkludent um die Gewährung von
Sozialleistungen gebeten haben, bietet die Bescheinigung vom 29. September 1995
keinen Anhaltspunkt.
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2. Die Rechtssache weist auch nicht, wie vom Kläger geltend gemacht, besondere
tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.
Dieser Zulassungsgrund ist nur dann gegeben, wenn die Angriffe des
Rechtsmittelführers gegen die erstinstanzlichen Feststellungen zum
entscheidungserheblichen Sachverhalt oder gegen das Ergebnis der rechtlichen
Würdigung begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen
Entscheidung geben, die sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren, sondern erst
in einem Berufungsverfahren klären und entscheiden lassen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 31. Mai 2002 - 12 A 4699/99 - mit weiteren
Nachweisen, insoweit in FEVS 54, S. 236 nicht abgedruckt.
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Den Ausführungen unter Ziffer 1. zufolge liegt diese Voraussetzung hier nicht vor.
28
3. Ferner ergibt sich aus den Erwägungen zum Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr.
1 VwGO, dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Die vom Kläger
formulierte Rechtsfrage, ob es sich bei einem jugendhilferechtlichen Anspruch um einen
reinen Sachleistungsanspruch handelt oder ob der Hilfeanspruch zumindest auch einen
kostenerstattungsrechtlichen Teil hat, ist in der zitierten Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts und des beschließenden Senats dahingehend geklärt, dass
der Träger der Jugendhilfe zur Erstattung der Kosten für eine selbst beschaffte
Maßnahme verpflichtet sein kann.
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Vgl. zu den Voraussetzungen einer Berufungszulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO:
OVG NRW, Beschluss vom 26. September 2002 - 12 A 1382/02 - mit weiteren
Nachweisen.
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4. Der vom Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO
liegt ebenfalls nicht vor.
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a) Zwar hat das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil ausgeführt, die Gewährung
von Jugendhilfe sei nicht von einem Antrag abhängig (Seite 7 des Abdrucks). Insoweit
weicht das Urteil des Verwaltungsgerichts von dem im Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 28. September 2000 - 5 C 29.99 - (a.a.O.) aufgestellten
Rechtssatz ab, dass Leistungen der Jugendhilfe grundsätzlich eine vorherige
Antragstellung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraussetzen. Das
Urteil des Verwaltungsgerichts beruht jedoch nicht auf dieser Abweichung. Es ist
nämlich außerdem - selbständig tragend - damit begründet worden, dass es an einer
Säumigkeit des Beklagten fehle, weil die Eltern des Klägers vor Beginn der
Internatsunterbringung ihres Sohnes weder beim Beklagten noch bei einer der in § 16
Abs. 2 Satz 1 SGB I genannten Stellen einen Antrag auf die Sozialleistung „Jugendhilfe"
gestellt hätten.
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b) Das angefochtene Urteil weicht nicht von den in der Antragsschrift genannten
Entscheidungen des 16. Senats des beschließenden Gerichts ab. Der Kläger macht
geltend, das beschließende Gericht habe in diesen Entscheidungen die
Selbstbeschaffung für zulässig erachtet, während das Verwaltungsgericht die
Zulässigkeit der Selbstbeschaffung verneint habe. Das Verwaltungsgericht hat indes
keineswegs den Rechtssatz aufgestellt, dass eine Selbstbeschaffung im
Jugendhilferecht grundsätzlich unzulässig sei. Vielmehr hat es im angefochtenen Urteil
auszugsweise sein im Verfahren - 7 K 902/98 - ergangenes Urteil vom 13. Januar 2000
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(ZfJ 2000, S. 314) zitiert, in dem es unter anderem ausgeführt hat: Im Interesse der
Effektivität des Rechtsschutzes erscheine es auch im Jugendhilferecht nicht als
hinnehmbar, einen ursprünglich bestehenden Hilfeanspruch als erloschen anzusehen,
wenn der zuständige Träger der Jugendhilfe seiner Verpflichtung zum Tätigwerden nicht
nachgekommen und die Hilfe deshalb schließlich von anderer Seite gewährt worden
sei. Eine Anwendung der Grundsätze, die im Sozialhilferecht in Fällen der Selbsthilfe
bei Säumigkeit des Sozialhilfeträgers entwickelt worden seien, komme aber nur in
Betracht, wenn es dem Hilfesuchenden nicht zuzumuten gewesen sei, die Entscheidung
der Behörde abzuwarten. Dabei sei es regelmäßig Angelegenheit des Hilfesuchenden,
die Hilfeleistung so rechtzeitig zu beantragen, dass sie vom zuständigen Träger
rechtzeitig gewährt werden könne.
Damit ist auch nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine Selbstbeschaffung
von Jugendhilfeleistungen unter bestimmten - im Falle des Klägers nicht erfüllten -
Voraussetzungen zulässig. Insoweit weicht das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht von
dem vom Kläger angeführten Urteil des beschließenden Gerichts vom 1. Dezember
1997 - 16 A 4523/96 - ab, in dem der Klägerin jenes Verfahrens ein Anspruch auf
Kostenerstattung für eine selbst beschaffte Jugendhilfemaßnahme als Annex zu einer
vom Träger der Jugendhilfe gewährten gegenständlichen Hilfe zuerkannt worden ist.
Eine Abweichung vom Beschluss des OVG NRW vom 15. Juni 1999 - 16 A 2397/99 -
kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil dieser Beschluss, durch den ein Antrag auf
Zulassung der Berufung aus prozessualen Gründen abgelehnt worden ist, keine
Aussage zur Zulässigkeit der Selbstbeschaffung enthält.
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5. Schließlich ist entgegen der Auffassung des Klägers auch der Zulassungsgrund des
§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (Verfahrensmangel) nicht gegeben. Es stellt keine Verletzung
der prozessualen Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) dar, dass das
Verwaltungsgericht es unterlassen hat, über die Frage Beweis zu erheben, ob die Eltern
des Klägers beim Gesundheitsamt und bei der Schulberatungsstelle in den Jahren 1994
und 1995 einen Antrag gestellt haben. Ein Gericht verstößt grundsätzlich nicht gegen
seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts, wenn es von einer
Beweiserhebung absieht, die eine von einem Rechtsanwalt vertretene Partei nicht
förmlich (vgl. § 86 Abs. 2 VwGO) beantragt hat.
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Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30. April 1997 - 8 S 1040/97 -, VBlBW
1997, S. 299; Sächsisches OVG, Beschluss vom 20. November 2000 - 3 B 784/99 -,
SächsVBl 2001, S. 94; st. Rspr. des BVerwG zu § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, z.B.
Beschluss vom 1. März 2001 - 6 B 6.01 -, NVwZ 2001, S. 922 (923).
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So verhält es sich hier. Der Kläger, der im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem
Verwaltungsgericht durch einen Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigten vertreten
war, hat in diesem Termin ausweislich der Verhandlungsniederschrift nicht beantragt,
Beweis - etwa durch Vernehmung von Zeugen - darüber zu erheben, dass seine Eltern
beim Gesundheitsamt und bei der Schulberatungsstelle in den Jahren 1994 und 1995
einen Antrag auf Sozialleistungen nach § 16 SGB I gestellt haben. Eine derartige
Beweiserhebung ist vom Kläger noch nicht einmal schriftsätzlich angeregt worden und
musste sich dem Verwaltungsgericht auch nicht aufdrängen. Denn es fehlte bereits - wie
oben zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ausgeführt worden ist - an
einem substantiierten Sachvortrag des Inhalts, dass die Eltern des Klägers mit der
Inanspruchnahme des Gesundheitsamtes bzw. der Schulberatungsstelle des Kreises Q.
bei einem Leistungsträger im Sinne des § 16 Abs. 2 SGB I Sozialleistungen begehrt
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haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
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Mit diesem Beschluss, der nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar ist, wird das
angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Minden rechtskräftig (§ 124a Abs. 2 Satz 3
VwGO a.F., § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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