Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 26.09.2006

OVG NRW: hauptsache, aufenthaltserlaubnis, abschiebung, geburt, erlass, familie, emrk, duldung, lebensgemeinschaft, körperverletzung

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 B 2085/06
Datum:
26.09.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 B 2085/06
Schlagworte:
Gericht der Hauptsache einstweilige Anordnung Zuständigkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 2
Leitsätze:
§ 123 Abs. 2 VwGO begründet die Zuständigkeit der Berufungsgerichts
bereits für den Fall, dass die Zulassung der Berufung beantragt ist.
Tenor:
I. Das Verfahren der Antragstellerin zu 2. wird abgetrennt und unter dem
Aktenzeichen 18 B 2122/06 fortgeführt.
II. Die Anträge des Antragstellers zu 1. auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das
Anordnungsverfahren werden abgelehnt.
Der Antragsteller zu 1. trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 3.750,-- EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antrag des Antragstellers zu 1. (im Folgenden: Antragsteller) auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für das Anordnungsverfahren ist abzulehnen, weil die beabsichtigte
Rechtsverfolgung aus den nachfolgend dargelegten Gründen keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
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Über ihn entscheidet gemäß § 123 Abs. 2 VwGO das angerufene
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen. Zwar ordnet § 123 Abs. 2
VwGO die Zuständigkeit des Berufungsgerichts als Gericht der Hauptsache nur für den
Fall an, dass die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, und vorliegend ist
bislang nur ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. § 123 Abs. 2 VwGO ist
jedoch dahin zu verstehen, dass die Zuständigkeit des Berufungsgerichts bereits für
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diesen Fall begründet wird.
Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 9. Juli 1999 - 25 ZE 99.1581 -, juris;
Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 3.
Auflage 2005, § 123 Rn. 33 mit weiteren Nachweisen.
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Der gestellte Hauptantrag,
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den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller bis zur Entscheidung
über den Antrag auf Berufungszulassung vom 20. Mai 2005 gegen das
Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 31. März 2005 eine
Fiktionsbescheinigung auszustellen,
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ist jedenfalls unbegründet. Der Antragsteller kann die Erteilung einer
Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 AufenthG schon deshalb nicht
beanspruchen, weil der Verlängerungsantrag, den er am 4. Mai 2004 gestellt hat, keine
Fiktionswirkung ausgelöst hat. Zu diesem Zeitpunkt war insoweit § 69 Abs. 3 AuslG
maßgeblich. Der Antragsteller hielt sich in dem maßgeblichen Zeitpunkt der
Antragstellung mangels noch gültiger Aufenthaltsbefugnis jedoch nicht, wie jene
Vorschrift voraussetzt, rechtmäßig im Sinne des § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG im
Bundesgebiet auf; die Gültigkeit der Aufenthaltsbefugnis, die ihm zuvor erteilt worden
war, war bereits am 2. April 2004 abgelaufen.
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Vgl. zu derartigen Fallkonstellationen BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 - 1 C
7.96 , InfAuslR 1997, 391 (394); auch Senatsbeschlüsse vom
24. September 1992 - 18 B 3863/92 , vom 20. Mai 1996 - 18 B 424/95 und
vom 7. Mai 1999 - 18 B 732/99 -, InfAuslR 1999, 451.
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An diesem Befund hat sich durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes nichts
geändert. Die für die Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung unter der Geltung des
Ausländergesetzes vorgesehenen Rechtsfolgen bleiben unverändert. War – wie hier –
bisher keine Fiktionswirkung eingetreten, so hat es damit mangels einer Regelung im
Aufenthaltsgesetz sein Bewenden.
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Vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 31. Januar 2005 18 B 915/04 -, EZAR 94
Nr. 1 = AuAS 2005, 123 = NWVBl. 2005, 358 und vom 7. April 2006 - 18 B
528/06 - mit weiteren Nachweisen.
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Auch der Hilfsantrag,
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dem Antragsgegner die Abschiebung des Antragstellers bis zur
Entscheidung in der Hauptsache zu untersagen,
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bleibt ohne Erfolg. Der Antragsteller hat das Vorliegen der tatsächlichen
Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
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Der Antragsteller hat die Untersagung der Abschiebung ausdrücklich "bis zur
Entscheidung in der Hauptsache" beantragt, wobei zu unterstellen ist, dass damit das
anhängige Hauptsacheverfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemeint ist, in
dem der Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt ist. Nach der Rechtsprechung des
Senats kann indessen ein Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nicht
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allein im Hinblick darauf begründet sein, dass das auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis gerichtete Verfahren nicht abgeschlossen ist, wenn - was, wie
oben dargelegt, hier der Fall ist - dieser Antrag mangels rechtmäßigen Aufenthalts des
Antragstellers ein fiktives Aufenthaltsrecht nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG nicht
ausgelöst hat. In diesem Fall scheidet aus gesetzessystematischen Gründen die
Erteilung einer Duldung allein wegen des geltend gemachten Anspruchs auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis und für die Dauer des Erteilungsverfahrens grundsätzlich
und so auch hier aus.
Vgl. näher Senatsbeschlüsse vom 1. Juni 2005 - 18 B 677/05 - mit
Nachweisen auch hinsichtlich der entsprechenden Rechtslage zum
Ausländergesetz 1990 und vom 11. Januar 2006 - 18 B 44/06 -.
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Selbst wenn man den gestellten Antrag des Antragstellers dahin verstünde, dass er
Abschiebungsschutz unter Geltendmachung materieller Abschiebungshindernisse nicht
(nur) für die Dauer des Erlaubniserteilungsverfahrens begehrte, bliebe der Antrag
erfolglos. Das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für einen
Anordnungsanspruch wäre auch dann nicht glaubhaft gemacht. Die Abschiebung des
Antragstellers ist - was hier allein in Betracht kommt - auch unter Berücksichtigung der
Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK nicht gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG
rechtlich unmöglich.
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Art. 6 GG, Art. 8 EMRK gewähren unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthalt. Die in Art.
6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm,
nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die
Ausländerbehörde aber, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen
die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an
Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das
heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung
zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und
Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die
zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine
familiären Bindung an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen
berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei
der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der
anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles.
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Vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 2 BvR 1935/05 -,
NVwZ 2006, 682.
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Vorliegend erscheint es bereits zweifelhaft, ob eine nach der Rechtsprechung
aufenthaltsrechtlich nur schützenswerte, von tatsächlicher Verbundenheit zwischen den
Familienmitgliedern und tatsächlicher Ausübung des elterlichen Sorgerechts in
angemessenem Umfang geprägte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht. Das
mag zugunsten des Antragstellers unterstellt werden. Auf der anderen Seite ist nämlich
festzustellen, dass gewichtige öffentliche, gegen die Duldung des Antragstellers in
Deutschland sprechende Interessen gegeben sind, die nach gefestigter
Senatsrechtsprechung regelmäßig und so auch hier einen Duldungsanspruch
ausschließen. Auch gewichtige familiäre Belange setzen sich nicht stets gegenüber
gegenläufigen öffentlichen Interessen durch, wie sie namentlich bei schwerwiegender
Kriminalität des betreffenden Ausländers anzunehmen sein können. Insbesondere
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dann, wenn die Geburt eines Kindes nicht eine "Zäsur" in der Lebensführung des
betroffenen Ausländers darstellt, die in Anbetracht aller Umstände erwarten lässt, dass
er bei legalisiertem Aufenthalt keine Straftaten mehr begehen wird, kommt ein Vorrang
der gegen den weiteren Aufenthalt sprechenden Gründe in Betracht.
Vgl. BVerfG a.a.O. sowie Senatsbeschlüsse vom 27. Februar 2004 - 18 B
769/03 - und vom 5. April 2005 - 18 B 537/05 -, jeweils mit weiteren
Nachweisen, sowie VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. April
2006 - 1 S 734/06 -, InfAuslR 2006, 359 (360).
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Mit Rücksicht auf die Verurteilung des Antragstellers zu einer Freiheitsstrafe von drei
Jahren und sechs Monaten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher
Körperverletzung durch Urteil des Landgerichts E. vom 20. Januar 2005 liegt ein
Fall schwerwiegender Straffälligkeit vor; soweit es um die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis ginge, wäre zu beachten, dass darin gemäß § 53 Nr. 1 AufenthG
ein zwingender Ausweisungsgrund läge. Dass in der Geburt seiner Tochter eine "Zäsur"
für den Antragsteller gelegen hätte, ist nicht anzunehmen. Vielmehr hat er nach deren
Geburt die Straftat begangen, die zu der genannten Verurteilung geführt hat; jedenfalls
in dieser Zeit bestand keine familiäre Lebensgemeinschaft, und der Antragsteller hat
sich soweit ersichtlich weder durch Unterhaltszahlungen noch sonst um seine Tochter
gekümmert.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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