Urteil des OVG Niedersachsen vom 06.10.2014

OVG Lüneburg: tagespflege, gemeinde, wahlrecht, eltern, wechsel, gleichwertigkeit, vorrang, genehmigung, datenschutz, vervielfältigung

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Betreuungsanspruch von Kindern unter drei Jahren -
gewünschter Wechsel von bestehender Betreuung in
Kindertagespflege in eine Tageseinrichtung
Das Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII ist auf den in § 24 Abs. 2 Satz
1 SGB VIII geregelten Anspruch ein- und zweijähriger Kinder auf
frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in
Kindertagespflege uneingeschränkt anwendbar. Deshalb darf ein Kind, das
bereits in Kindertagespflege betreut wird, bei der Vergabe freier Plätze in
Kindertageseinrichtungen nicht vom Auswahlverfahren ausgeschlossen
werden.
OVG Lüneburg 4. Senat, Beschluss vom 06.10.2014, 4 ME 216/14
§ 24 Abs 2 S 1 SGB 8, § 5 SGB 8
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 4. August 2014 wird
zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die außergerichtlichen Kosten des
Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss, mit dem das
Verwaltungsgericht ihren Antrag abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege
der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig bis zu einer
Entscheidung über das Klageverfahren 4 A 1001/14 einen Platz in einer
Kindertageseinrichtung der Gemeinde D. mit einer regelmäßigen
Betreuungszeit an Wochentagen bis 16.00 Uhr bereitzustellen, bleibt in der
Sache ohne Erfolg. Das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin, auf dessen
Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat,
rechtfertigt keine andere Entscheidung. Der Senat tritt dem Verwaltungsgericht
darin bei, dass die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft
gemacht hat. Es kommt somit nicht mehr darauf an, ob es - wie das
Verwaltungsgericht meint - darüber hinaus auch an einem Anordnungsgrund
fehlt.
Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII in der seit dem 1. August 2013 geltenden
Fassung hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur
Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in
einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Nach dieser Regelung
stehen die beiden genannten Leistungsformen der Förderung in einer
Einrichtung oder in Tagespflege gleichwertig nebeneinander (vgl. OVG NRW,
Beschl. v. 14.8.2013 - 12 B 793/13 -, NJW 2013, 3803; Hess. VGH, Beschl. v.
19.9.2013 - 10 B 1848/13 -). Ein Vorrang der Förderung in einer
Tageseinrichtung vor einer Förderung in Kindertagespflege ist anders als in
der Anspruchsregelung in § 24 Abs. 3 SGB VIII für Kinder, die das dritte
Lebensjahr vollendet haben, gerade nicht vorgesehen. Auch die Begründung
des Gesetzentwurfs zu § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, wonach dieser
Rechtsanspruch „entsprechend den Wünschen bzw. Bedürfnissen des Kindes
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Rechtsanspruch „entsprechend den Wünschen bzw. Bedürfnissen des Kindes
und der Eltern sowohl in Tageseinrichtungen (§ 22 Abs. 1 Satz 1, § 22 a) als
auch in der Kindertagespflege nach den durch das TAG formulierten
Standards (§ 22 Abs. 1 Satz 2, § 23) erfüllt wird“ (vgl. BT-Drs. 16/9299, S. 15),
enthält keinen Hinweis darauf, dass die Förderung in einer Einrichtung
vorrangig gegenüber einer Betreuung in Tagespflege sein soll. Die
Gleichwertigkeit der beiden gesetzlich vorgesehenen Leistungsformen hat zur
Folge, dass der Förderanspruch von ein- und zweijährigen Kindern sowohl
durch das Bereithalten von Betreuungsplätzen in Tageseinrichtungen als auch
von Kindertagespflegeplätzen erfüllt werden kann. § 22 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII
begründet deshalb auch keine unbedingte Gewährleistungspflicht
dahingehend, dass der zuständige Jugendhilfeträger in jedem Fall freie Plätze
für die von den Eltern des Kindes konkret gewünschte Betreuungsform
vorhalten und ggf. im Wege einer Kapazitätserweiterung schaffen muss (vgl.
OVG NRW, a.a.O.; Hess. VGH, Beschl. v. 4.2.2014 - 10 B 1973/13 -, NJW
2014, 1753; a.A. Rixen, NJW 2012, 2839). Gegenteiliges lässt sich auch nicht
mit dem Hinweis auf das in § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VIII
normierte Wunsch- und Wahlrecht begründen. Denn dieses findet ebenfalls
seine Grenze, wenn keine Plätze in der gewünschten Betreuungsform (mehr)
vorhanden oder verfügbar sind (vgl. OVG NRW, a.a.O.; Luthe in jurisPK-SGB
VIII, 1. Aufl. 2014, § 5 Rn. 22).
Daraus folgt, dass die zweijährige Antragstellerin, deren Förderanspruch
derzeit durch die in § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII als gleichrangige
Leistungsform vorgesehene Betreuung in Kindertagespflege erfüllt wird, auch
in Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts einen Wechsel in eine
Kindertageseinrichtung nur verlangen kann, wenn in einer der vorhandenen
Einrichtungen ein Betreuungsplatz für sie verfügbar ist. Das ist jedoch nicht der
Fall. Nach Auskunft des Antragsgegners sind sämtliche vorhandenen
Ganztagsbetreuungsplätze in Kindertageseinrichtungen bereits vergeben.
Dem Vorbringen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren sind keine
konkreten Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass diese Mitteilung nicht den
Tatsachen entspricht.
Auch der Umstand, dass während des laufenden Verwaltungsstreitverfahrens
freie Plätze in Kindertageseinrichtungen an andere Kinder vergeben worden
sind, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Der Senat kann insoweit offen
lassen, ob allein der Umstand, dass diese Plätze durch die anderweitige
Vergabe zwischenzeitlich nicht mehr verfügbar sind, dem Begehren der
Antragstellerin entgegensteht. Selbst wenn abweichend von dem oben
Gesagten ein Anspruch des Kindes, im Wege einer Kapazitätserweiterung
einen zusätzlichen neuen Platz in einer Kindertageseinrichtung zu schaffen,
für den Fall anzuerkennen wäre, dass während eines laufenden Verfahrens
des vorläufigen Rechtsschutzes vorhandene freie Plätze an andere Kinder
vergeben worden sind, würde dies voraussetzen, dass dem Kind bei einer
rechtmäßigen Anwendung der Vergabekriterien einer der vergebenen Plätze
hätte zugewiesen werden müssen. Dass die Antragstellerin bei einer
rechtmäßigen Vergabe einen Platz in einer Tageseinrichtung hätte erhalten
müssen, drängt sich dem Senat jedoch nicht auf, zumal es nach Mitteilung des
Antragsgegners in der Gemeinde D. derzeit 42 ein- und zweijährige Kinder
gibt, für die weder ein freier Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung noch in
Tagespflege zur Verfügung steht, deren Förderanspruch also - anders als bei
der in Kindertagespflege betreuten Antragstellerin - gegenwärtig nicht erfüllt
werden kann. Im Übrigen ergibt sich aus den Darlegungen der Antragstellerin
auch nicht, dass unter den während des gerichtlichen Verfahrens anderweitig
vergebenen Plätzen in Tageseinrichtungen auch solche für eine - von der
Antragstellerin allein gewünschte - Ganztagesbetreuung gewesen sind.
Der Senat sieht sich allerdings zu dem ergänzenden Hinweis veranlasst, dass
die in dem Ablehnungsbescheid der Gemeinde D. vom 3. April 2014 vertretene
Rechtsauffassung, der Antrag der Antragstellerin auf Aufnahme in einer
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Kindertageseinrichtung sei bei der Vergabe der freien Plätze nicht zu
berücksichtigen gewesen, weil sie bereits in Kindertagespflege betreut werde,
unzutreffend ist. Die bestehende Betreuung der Antragstellerin in
Kindertagespflege hat zwar zur Folge, dass ihr Förderanspruch nach § 24
Abs. 2 Satz 1 SGB VIII derzeit erfüllt wird, führt jedoch nicht dazu, dass sie bei
der Vergabe freier Plätze in Tageseinrichtungen vom Auswahlverfahren
ausgeschlossen werden kann. Die gegenteilige Rechtsansicht der Gemeinde
läuft darauf hinaus, das Wunsch- und Wahlrecht in dem Fall, dass ein Kind
bereits eine der beiden in § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII genannten
Leistungsformen erhält, anstelle dessen aber eine künftige Förderung in der
anderen Leistungsform begehrt, auszuschließen. Dafür spricht aus Sicht des
Senates jedoch nichts. Die Regelung über das Wunsch- und Wahlrecht in § 5
SGB VIII zählt zu den allgemeinen Vorschriften des Kinder- und
Jugendhilferechts und gilt somit grundsätzlich für sämtliche kinder- und
jugendhilferechtlichen Leistungen. Auch in § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ist
keine Abweichung hiervon geregelt (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 14.8.2013 -
12 B 793/13 -, NJW 2013, 3803). Die in dieser Vorschrift normierte
Gleichwertigkeit der Förderung in einer Tageseinrichtung und in
Kindertagespflege spricht im Gegenteil gerade für die uneingeschränkte
Geltung des Wunsch- und Wahlrechts. Denn hätte der Gesetzgeber die Wahl
zwischen den beiden Betreuungsformen einschränken wollen, so hätte es
nahegelegen, ein Vorrang-/Nachrangverhältnis zwischen beiden
Leistungsarten zu regeln. Auch die oben bereits zitierte Gesetzesbegründung,
wonach der Rechtsanspruch entsprechend den Wünschen bzw. Bedürfnissen
des Kindes und der Eltern sowohl in Tageseinrichtungen als auch in der
Tagespflege erfüllt wird (Hervorhebung durch den Senat), zeigt, dass der
Gesetzgeber bei der Schaffung des Anspruchs nach § 24 Abs. 2 Satz 1
SGB VIII eine Beschränkung des Wunsch- und Wahlrechts nicht bezweckt hat.
Deshalb darf die Antragstellerin bei der künftigen Vergabe von frei werdenden
Ganztagesplätzen in Kindertageseinrichtungen nicht weiterhin unter Verweis
auf die bestehende Betreuung in Kindertagespflege vom Auswahlverfahren
ausgeschlossen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 VwGO.