Urteil des OVG Niedersachsen vom 10.09.2014

OVG Lüneburg: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, vollziehung, vorläufiger rechtsschutz, auflage, belastung, niedersachsen, erlass, aufenthaltserlaubnis

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Sofortvollzug einer wohnsitzbeschränkenden
Auflage.
Allein das Interesse an einer gleichmäßigen fiskalischen Belastung
einzelner Kommunen durch ausländische Empfänger sozialer Leistungen
vermag die sofortige Vollziehung einer wohnsitzbeschränkenden Auflage
nicht zu rechtfertigen.
OVG Lüneburg 8. Senat, Beschluss vom 10.09.2014, 8 ME 87/14
§ 12 Abs 2 S 2 AufenthG, § 61 Abs 1 S 2 AufenthG, § 80 Abs 2 S 1 Nr 4 VwGO, § 80
Abs 5 VwGO
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des
Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 2. Juli 2014 geändert.
Die aufschiebende Wirkung der von den Antragstellern vor dem
Verwaltungsgericht Oldenburg - 11 A 1877/14 - gegen den Bescheid der
Antragsgegnerin vom 28. April 2014 erhobenen Klage wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen
mit Ausnahme der Kosten des Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig sind.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens und unter Änderung der
Streitwertfestsetzung im Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg -
11. Kammer - vom 2. Juli 2014 der Streitwert des erstinstanzlichen Verfahrens
vorläufigen Rechtsschutzes werden auf jeweils 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat
es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage der
Antragsteller gegen den für sofort vollziehbar erklärten Bescheid der
Antragsgegnerin vom 28. April 2014 über die Verhängung
wohnsitzbeschränkender Auflagen wiederherzustellen.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende
Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist die sofortige
Vollziehung von der Behörde den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3
Satz 1 VwGO genügend angeordnet worden, so setzt die gerichtliche
Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses des
Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis
zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu
bleiben, gegen das vorrangig öffentliche Interesse an dessen sofortiger
Vollziehung voraus (vgl. Senatsbeschl. v. 16.3.2004 - 8 ME 164/03 -, NJW
2004, 1750 m.w.N.).
Im Rahmen dieser Abwägung hat das Verwaltungsgericht zutreffend
berücksichtigt, dass dem öffentlichen Vollzugsinteresse überhaupt nur dann
Vorrang eingeräumt werden kann, wenn der angefochtene Verwaltungsakt
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voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben, mithin sich als
rechtmäßig erweisen wird. Die Annahme der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit
des Bescheides der Antragsgegnerin vom 28. April 2014 ist auch unter
Berücksichtigung der mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf
deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu
beschränken hat, nicht zu beanstanden.
Das Verwaltungsgericht hat indes nicht hinreichend berücksichtigt, dass für die
Anordnung des Sofortvollzugs einer wohnsitzbeschränkenden Auflage, die in
das auch Ausländern zustehende Grundrecht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit und die davon umfasste Freiheit der Wahl des Aufenthaltsortes
und des Wohnsitzes in der Bundesrepublik Deutschland eingreift (vgl. BVerfG,
Beschl. v. 9.2.2001 - 1 BvR 781/98 -, DVBl. 2001, 892, 893; Beschl.
v. 18.7.1973 - 1 BvR 23/73 -, BVerfGE 35, 382, 399), und deren Gewicht durch
die Anordnung des Sofortvollzugs noch zusätzlich verschärft wird, ein über das
Interesse am Erlass des Verwaltungsakts hinausgehendes besonderes
öffentliches Interesse an einer Wohnsitzverlegung vor Eintritt der
Unanfechtbarkeit erforderlich ist. Die voraussichtliche Rechtmäßigkeit eines
Verwaltungsakts begründet für sich allein nur das allgemeine Interesse an
seiner Vollziehung, nicht aber zugleich auch deren, für die behördliche
Anordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erforderliche Dringlichkeit
(vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 27.4.2005 - 1 BvR 223/05 -, NVwZ 2005,
1303; Beschl. v. 18.7.1973, a.a.O., S. 402; Finkelnburg/Dombert/Külp-mann,
Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl., Rn. 757 f.
m.w.N.).
An dem danach erforderlichen besonderen öffentlichen Interesse an der
sofortigen Vollziehung fehlt es hier.
Es ergibt sich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht aus dem
Interesse an einer gleichmäßigen Belastung der Kommunen mit Ausgaben für
an Ausländer zu erbringende Sozialleistungen. Nach der
ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift in Nr. 12.2 f. der Allgemeinen
Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - vom
26. Oktober 2009 (GMBl. S. 877), die in Niedersachsen auch für die Erteilung
wohnsitzbeschränkender Auflagen zu Duldungen Anwendung findet
(vgl. Senatsbeschl. v. 23.11.2012 - 8 LA 149/12 -, juris Rn. 21), zielt die
wohnsitzbeschränkende Auflage bereits als solche darauf ab, mittels einer
regionalen Bindung die überproportionale fiskalische Belastung einzelner
Länder und Kommunen durch ausländische Empfänger sozialer Leistungen zu
verhindern (vgl. Nr. 12.2.5.2.1 Satz 1 AVwV AufenthG). Dieses durchaus
berechtigte öffentliche Interesse am Erlass einer wohnsitzbeschränkenden
Auflage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.2.2001, a.a.O., S. 892 f.) vermag aber
regelmäßig nicht zugleich deren sofortige Vollziehung zu rechtfertigen (vgl. zu
den hier ersichtlich nicht einschlägigen Ausnahmen: Finkelnburg/Dombert/
Külpmann, a.a.O., Rn. 759 m.w.N.). Vielmehr bedarf es eines hierüber
hinausgehenden öffentlichen Interesses am Sofortvollzug (vgl. BVerfG, Beschl.
v. 27.4.2005, a.a.O.; v. 18.7.1973, a.a.O.; Senatsbeschl. v. 21.3.2014 -
8 ME 24/14 -, Rn. 4; v. 10.5.2012 - 8 ME 59/12 , juris Rn. 4; v. 29.7.2011 -
8 ME 36/11 -, juris Rn. 22 jeweils m.w.N.). Das Interesse an einer
gleichmäßigen Belastung der Kommunen mit Ausgaben für an Ausländer zu
erbringende Sozialleistungen allein vermag die sofortige Vollziehung einer
wohnsitzbeschränkenden Auflage daher nicht zu rechtfertigen (vgl. auch VG
Gelsenkirchen, Beschl. v. 15.8.2007 - 9 L 708/07 -, juris Rn. 29 f.).
Ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse ergibt sich auch nicht aus dem
allgemeinen öffentlichen Interesse an der Einhaltung aufenthaltsrechtlicher
Vorschriften. Der Gesetzgeber hat durch die Regelung des § 84 Abs. 1
AufenthG zu erkennen gegeben, in den Fällen der Erteilung
wohnsitzbeschränkender Auflagen zu Aufenthaltserlaubnissen nach § 12
Abs. 2 Satz 2 AufenthG (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 13.4.2010 - 8 ME 5/10 -,
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juris Rn. 21) und zu Duldungen nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (vgl. hierzu
Senatsbeschl. v. 23.11.2012, a.a.O., Rn. 15 f.) regelmäßig keinen der dem
Abwarten des Hauptsacheverfahrens entgegenstellt, unverzüglichen
Handlungsbedarf zu sehen, es vielmehr beim Grundsatz des § 80 Abs. 1
VwGO bleiben sollte, wonach der Klage aufschiebende Wirkung zukommt. Die
infolgedessen bestehende aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen
auf § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG oder § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gestützten
Bescheid und die hieran anknüpfende Möglichkeit, während des
Rechtsmittelverfahrens den Wohnsitz frei von den verfügten Beschränkungen
zu wählen, ist Folge des gesetzlichen, durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten
Rechtsschutzsystems und daher hinzunehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und 162 Abs. 3 VwGO.
Etwaige außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht
erstattungsfähig, weil der Beigeladene im Ausgangs- und auch im
Beschwerdeverfahren keinen eigenen Sachantrag gestellt und sich somit auch
keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. zu diesen Aspekten: BVerwG,
Beschl. v. 13.1.1987 - BVerwG 6 C 55.83 -, Buchholz 310 § 162 VwGO Nr. 21).
Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf
§§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 39 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG (vgl. zur
Anwendung des Auffangstreitwertes bei Streitigkeiten sowohl um eine
wohnsitzbeschränkende Auflage zu einer Aufenthaltserlaubnis: Senatsbeschl.
v. 13.4.2010 - 8 ME 5/10 -, Umdruck S. 2 und 15, als auch zu einer Duldung:
Senatsbeschl. v. 23.11.2012 - 8 LA 149/12 -, Umdruck S. 2 und 3) und Nr. 1.5
Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit
(NordÖR 2014, 11). Die Änderung der Festsetzung des Streitwertes für das
erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes erfolgt gemäß § 63
Abs. 3 Satz 1 GKG.