Urteil des OVG Niedersachsen vom 21.02.2013

OVG Lüneburg: wiedereinsetzung in den vorigen stand, vorläufiger rechtsschutz, nhg, ausstattung, universität, rechtsverordnung, beschränkung, entstehungsgeschichte, überprüfung, vergleich

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Zulassung zum Studium Humanmedizin -
Wintersemester 2012/2013 - einstweiliger Rechtsschutz
Zur Überprüfung einer gesetzlichen Festsetzung der Zulassungszahl für
einen Modellstudiengang im Eilverfahren.
OVG Lüneburg 2. Senat, Beschluss vom 21.02.2013, 2 NB 20/13
Art 100 Abs 1 GG, Art 19 Abs 1 S 1 GG, § 72 Abs 15 HSchulG ND
Gründe
Die Beschwerden der Antragsteller gegen die Beschlüsse des
Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 4. Dezember 2012 haben keinen Erfolg.
Dabei lässt der Senat offen, ob die Antragstellerin im Verfahren 2 NB 37/13
hinsichtlich der Beschwerdebegründungsfrist unter dem Gesichtspunkt, dass
(auch) das Gericht Fehler begangen haben könnte (vgl. insoweit zuletzt BVerfG,
3. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 10.10.2012 - 2 BvR 1059/12 -, NJW 2013,
446), Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre. Denn ihre
Beschwerde hat jedenfalls in der Sache ebensowenig Erfolg wie die
Beschwerden der anderen Antragsteller.
Der Senat folgt im Wesentlichen den Gründen der angegriffenen Entscheidung
(Beschl. v. 4.12.2012 - 12 C 4164/12 u.a. - juris) und nimmt hierauf Bezug. Durch
das Beschwerdevorbringen sind folgende Ergänzungen veranlasst:
Im Ergebnis kann offen bleiben, ob die Annahme des Verwaltungsgerichts
zutrifft, durch § 72 Abs. 15 NHG habe die Kapazität nicht unmittelbar auf 40
Studienplätze begrenzt werden sollen. Die genannte Vorschrift lautet: "Für den
Studiengang Humanmedizin an der Universität AS. wird die jährliche
Zulassungszahl ab dem Wintersemester 2012/2013 auf 40 festgesetzt." Ihr
Wortlaut ist allerdings eindeutig, wie auch das Verwaltungsgericht nicht
verkennt. Sie steht ferner in einem Umfeld weiterer sehr konkreter
Übergangsbestimmungen für die medizinische Fakultät der Universität AS. (§ 72
Abs. 12 ff. NHG). Soweit das Oberverwaltungsgericht Berlin in einem Beschluss
vom 20. Oktober 2004 (- 5 NC 44.04 -, juris) eine ähnliche Formulierung nicht als
abschließende Festsetzung ausgelegt hat, kann dazu schon wegen der dort
geschilderten Besonderheiten des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte
der dort einschlägigen Bestimmungen keine Parallele gezogen werden.
Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt sich zudem, dass der
Gesetzgeber nachvollziehbare Gründe für die fragliche Festsetzung hatte. Da es
hier nicht um die Einschränkung bestehender Kapazitäten, sondern um die
Schaffung neuer Kapazitäten ging, hatte er aus haushaltsrechtlicher Sicht
Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang er
Haushaltsmittel für den neuen Studiengang widmen wollte. Dabei durfte er an
absolut kapazitätsbeschränkende, dauerhafte Umstände anknüpfen, welche
seiner Disposition nicht unterlagen. Das war hier die Absprache mit der -
deutschem Hochschulzulassungsrecht nicht unterfallenden - Universität AT., die
offenbar auch auf längere Sicht nur 40 Plätze pro Semester zur Verfügung zu
stellen gewillt war. Der damit verbundene Kapazitätsengpass ließ sich innerhalb
des gewählten Studienmodells nicht durch eigene Anstrengungen der
Antragsgegnerin beheben. Für die Kapazitätsfestsetzung blieben deshalb alle
anderen Kapazitätserwägungen - jedenfalls in Richtung auf höhere Kapazität -
notwendig folgenlos. Der Gesetzgeber konnte daher die Festsetzung ohne
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weiteres selbst treffen, ohne auf die sonst gebotenen Vorarbeiten für eine
Kapazitätsermittlung angewiesen zu sein.
Im Übrigen muss die Festsetzung einer Zulassungszahl durch den Gesetzgeber
entgegen der Auffassung einiger Antragsteller weder eine Begründung für den
konkret festgesetzten Wert in sich tragen noch aus sich heraus erkennen
lassen, dass sie überhaupt das Ergebnis einer Kapazitätsberechnung ist.
Dass die hier maßgebliche Zulassungszahlenverordnung vom 8. Juli 2012 (Nds.
GVBl. 2012, 221) die Zulassungszahl für den hier in Rede stehenden
Studiengang selbst noch einmal festzusetzen scheint, spricht nicht gegen einen
Regelungswillen des insoweit übergeordneten Gesetzgebers. Offenbar ging es
dem Verordnungsgeber (nur) darum, in der Verordnung selbst einen
vollständigen Überblick über alle Zulassungsbeschränkungen zu geben, was
aber auch durch eine Verweisung auf § 72 Abs. 15 NHG hätte geschehen
können. Soweit das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang den
Grundsatz angesprochen hat, dass eine spätere Rechtsnorm die frühere
verdrängt, kommt hier hinzu, dass das Gesetz in der Normenhierarchie höher
steht als die Verordnung. Es ist unter diesem Gesichtspunkt erst recht
unbedenklich, dass das Gesetz eine im Übrigen fortbestehende
Rechtsverordnung (sachlich und zeitliche beschränkt) vorübergehend verdrängt.
Soweit die Antragsteller teilweise beanstanden, es fehle dem § 72 Abs. 15 NHG
an der erforderlichen Bestimmtheit, geht dies offenbar von einem unzutreffenden
Verständnis der Bestimmtheitsanforderung aus; eine bestimmtere als die hier
vorgenommene zahlenmäßige Beschränkung lässt sich nicht denken. Die
Vorschrift weist auch kein Regelungsdefizit insoweit auf, als sie keine Kriterien
für die Ermittlung der Kapazität benennt. Dies wäre zwar erforderlich, wenn sie
nur den Rahmen für Detailbestimmungen auf Verordnungsebene festlegen
wollte. Da sie die Kapazität aber bereits selbst festsetzt, sich also keine
steuernde Wirkung beilegt, sondern abschließend entscheidet, bedarf es der
Angabe solcher Kriterien nicht, auch nicht zur Erleichterung einer gerichtlichen
Überprüfung.
Dass die Vorschrift gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG verstößt (Einzelfallgesetz),
ist bei summarischer Prüfung im Eilverfahren nicht ersichtlich. Ein Einzelfall -
insbesondere ein "Einzelpersonengesetz" - dürfte hier schon deshalb nicht
vorliegen, weil die Regelung für eine größere Zahl von Eingangssemestern gilt.
Das alles kann indes offenbleiben, weil es sich auf die Reichweite möglichen
gerichtlichen Rechtsschutzes nicht durchgreifend auswirkt. Bei entsprechenden
Festlegungen im Wege der Rechtsverordnung - wie hier der Verordnung über
die Zulassungszahlen, die zusätzlich eine Zulassungszahl von 40 für das
Wintersemester 2012/2013 festsetzt - ist anerkannt, dass sich die Gerichte
hierüber unter bestimmten Voraussetzungen hinwegsetzen können. Bei
förmlichen Gesetzen fehlt den Gerichten zwar eine Verwerfungs-, nicht aber die
Prüfungskompetenz, die für das Vorlageverfahren notwendig vorausgesetzt ist.
Vorläufiger Rechtsschutz kann unter Umständen auch ohne die im
Hauptsacheverfahren erforderliche Vorlage gewährt werden (vgl. BVerfG,
Beschl. v. 24.6.1992 - 1 BvR 1028/91 -, BVerfGE 86, 382 = NJW 1992, 2749; 3.
Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 15.12.2011 - 2 BvR 2362/11 -, juris;
Kopp/Schenke, VwGO, § 123 Rdnr. 16; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123
Rdnrn. 127 ff.; Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 123 Rdnrn. 13 ff.). Der
Senat sieht dies zwar nur in sehr engen Grenzen als angängig an (vgl. Beschl.
v. 21.12.2006 - 2 NB 347/06 -, OVGE 50, 402: "Die Verwerfung eines formellen
Gesetzes als verfassungswidrig muss im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes jedoch die Ausnahme bleiben (Hamburgisches OVG,
Beschluss vom 10. Oktober 2001, - 3 NC 150/00 -, NVwZ-RR 2002, 747) und ist
auf Fälle evidenter Verfassungswidrigkeit beschränkt."). Je mehr die Wahl des
Gesetzes als Regelungsinstrument aber von der "Regelform" abweicht (vgl.
insoweit auch BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 - 2 BvR 397-399/82 -, BVerfGE 70,
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35 = NJW 1985, 2315; Goerlich, DÖV 1985, 945) und je mehr sich der Eindruck
aufdrängt, die Wahl der Regelungsebene solle zuvörderst die individuellen
Rechtsschutzmöglichkeiten einschränken (vgl. OVG Münster, Urt. v. 7.9.2010 - 6
A 2077/08 -, DVBl. 2010, 1572), um so eher kann das Gericht vorläufigen
Rechtsschutz im Wege einer reinen Interessenabwägung gewähren.
Durchgreifende Zweifel an der Berechtigung der hier vorgenommenen
Zulassungsbeschränkung bestehen indes nicht. Wie oben bereits
angesprochen, ergibt sich der materielle Prüfungsmaßstab hier nicht unmittelbar
aus dem Kapazitätserschöpfungsgebot, denn mit der Schaffung eines neuen
Studienganges wird Kapazität nicht eingeschränkt, sondern geschaffen.
Drängt sich allerdings der Eindruck auf, ein absoluter Kapazitätsengpass werde
nur vorgeschoben, um unkontrolliert eine "Luxusausstattung" des
Studienganges vornehmen zu können, womit zugleich die Haushaltsmittel für
die "normalen" Studiengänge in sachlich nicht gerechtfertigter Weise
geschmälert würden, sind der methodische Ansatz des Studienganges sowie
die sächliche und personelle Ausstattung einer besonders genauen Prüfung
darauf zu unterziehen, ob der in den Vordergrund gestellte Engpass nicht mit
vertretbarem Aufwand auf andere Weise umgangen werden kann.
Infolgedessen behalten die ansonsten gültigen Kapazitätsmaßstäbe auch hier
Bedeutung, weil sie bei der Beurteilung der Frage helfen können, ob die übrige
Ausstattung des Studienganges im Verhältnis zur vorgegebenen Beschränkung
angemessen ist. Bei der erstmaligen Aufnahme des Studienganges kann zwar
für eine gewisse Zeit noch nicht erwartet werden, dass diese Ausstattung dem
Bedarf komplett angepasst ist; der Senat hat deshalb bei dem Modellvorhaben
"AU. " in AV. den Durchlauf einer kompletten Kohorte abgewartet. Jedenfalls mit
fortschreitendem Ausbau des Studienganges wird die Antragsgegnerin aber
schon deshalb selbst entsprechende Berechnungen anzustellen haben, weil sie
Grundlagen für die nach § 72 Abs. 15 NHG vorgesehene Evaluierung zu legen
haben wird. Diese verlangt zwar dem Wortlaut nach nicht einen ausdrücklichen
Vergleich der Kosten-Nutzen-Situation mit derjenigen anderer Studiengänge der
Humanmedizin, dürfte aber ohne eine derartige Betrachtung methodisch
zweifelhaft sein.