Urteil des OVG Niedersachsen vom 29.01.2014

OVG Lüneburg: gebäude, grenzabstand, grundstück, aufschiebende wirkung, stadt, belichtung, genehmigung, einbau, dachgeschoss, vorrang

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Unzulässige Grenzbebauung bei geringem
Grenzabstand auf dem Nachbargrundstück
Auch bei prägender geschlossener Bauweise kann eine Grenzbebauung im
Einzelfall gegen das Gebot der Rücksichtnahme (§ 34 Abs. 1 BauGB)
verstoßen, wenn das Nachbargebäude einen geringen Grenzabstand hält,
Aufenthaltsräume zur Grenze hin orientiert sind und ein schutzwürdiges
Vertrauen des Nachbarn besteht, dass auf dem Baugrundstück ebenfalls ein
- geringer - Grenzabstand erhalten bleibt.
OVG Lüneburg 1. Senat, Beschluss vom 29.01.2014, 1 ME 222/13
§ 34 Abs 1 BauGB
Tenor
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer - vom 18. Oktober 2013 wird
zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf
48.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine Baugenehmigung zur Errichtung
eines Apartmenthauses unmittelbar an ihrer Grundstücksgrenze, weil sie eine
unzumutbare Beeinträchtigung der zur Grenze orientierten Wohnräume ihres
Gebäudes befürchtet.
Der Antragstellerin, einer Wohnungseigentümergemeinschaft, gehört das
Grundstück D. straße 20 auf E.. Dieses ist mit einem im Jahr 1995 errichteten
Apartmenthaus mit vier Vollgeschossen und ausgebautem Dachgeschoss
bebaut. Zur seiner südlichen Grenze hält das Gebäude, das in seiner
Südwand Loggien sowie Fenster aufweist, die Aufenthaltsräume belichten,
einen Grenzabstand von rund 2,50 m. Dieser der Vorgängerbebauung
entsprechende geringe Grenzabstand geht ausweislich der Bauakte auf eine
städtebauliche Forderung der Stadt E. zurück, die zum damaligen Zeitpunkt
noch die historisch überkommenen Traufgassen (Lohnen) zwischen den
Gebäuden erhalten wollte und in dem Abstand zugleich eine zu begrüßende
Abgrenzung von höherer und niedrigerer Bebauung sah. Die damaligen
Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks D. straße 19 stimmten
dem Vorhaben zu.
Das vorgenannte Grundstück D. straße 19 steht heute im Eigentum der
Beigeladenen. Gegenwärtig ist es mit einem älteren zweigeschossigen
Pensionshaus bebaut, das zur nördlichen Grundstücksgrenze einen Abstand
von mindestens 2,50 m hält. Die Beigeladene möchte das Gebäude abreißen
und an seiner Stelle ein Apartmenthaus mit drei Vollgeschossen und
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ausgebautem Dachgeschoss errichten. Das rund 11,5 m hohe Gebäude,
dessen Tiefe in etwa dem auf dem Grundstück der Antragstellerin stehenden
Gebäude entspricht, soll grenzständig auf der nördlichen Grundstücksgrenze
errichtet werden. Für dieses Vorhaben erteilte der Antragsgegner unter dem 4.
Juni 2013 die Baugenehmigung.
Die Antragstellerin erhob Widerspruch und beantragte erfolglos, die
Vollziehung der Baugenehmigung auszusetzen. Auf ihren Antrag auf
vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht Oldenburg mit
Beschluss vom 18. Oktober 2013 die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs angeordnet. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung
verstoße wegen der geplanten Grenzbebauung gegen das Gebot der
Rücksichtnahme und infolgedessen gegen die bauordnungsrechtlichen
Grenzabstandsvorschriften. Für das Grundstück der Antragstellerin sei es
unzumutbar, dass ein mehr als 11 m hohes Gebäude auf einen Abstand von
lediglich noch 2,50 m an ihr Gebäude heranrücke und die Belichtung und
Belüftung empfindlich einschränke. Zu berücksichtigen sei dabei die
Entstehungsgeschichte ihres Gebäudes. Dieses sei mit Zustimmung der
Rechtsvorgänger der Beigeladenen errichtet worden, sodass damit die
bauliche Entwicklung im Grenzbereich vorgezeichnet gewesen sei. Richtig sei
zwar, dass sich der Bauherr des Gebäudes D. straße 20 bewusst entschieden
habe, Fenster und Loggien zur Südgrenze hin auszurichten, das allerdings mit
Billigung der Rechtsvorgänger der Beigeladenen. Auf bautechnische
Lösungsmöglichkeiten wie etwa den Einbau weiterer Fenster in Richtung
Osten müsse sich die Antragstellerin nicht verweisen lassen. Das Interesse
der Beigeladenen sei nicht in besonderer Weise schutzwürdig.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Beigeladene mit ihrer Beschwerde;
der Antragsgegner schließt sich dem Beschwerdevorbringen ohne eigenen
Antrag im Wesentlichen an. Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen.
II.
Die Beschwerde der Beigeladenen hat keinen Erfolg.
Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4
Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angegriffenen
Beschlusses. Der Senat teilt vielmehr die Auffassung des Verwaltungsgerichts,
dass die geplante grenzständige Bebauung auf dem Grundstück der
Beigeladenen gegen das aus § 34 Abs. 1 BauGB folgende
bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, dessen Anforderungen
das Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegeben hat, verstößt. Die Einwände
der Beigeladenen und des Antragsgegners gestatten keine andere
Betrachtung.
Ohne Erfolg wendet sich die Beigeladene zunächst gegen die Auffassung des
Verwaltungsgerichts, mit der Zustimmung ihrer Rechtsvorgänger zu einer
Bebauung des Grundstücks der Antragstellerin mit geringem Grenzabstand
hätten diese einen Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen, dass ein
solcher Abstand auch auf dem Baugrundstück erhalten bleibt. Soweit die
Beigeladene meint, ihr Rechtsvorgänger habe allein eine Unterschreitung des
regelmäßigen Grenzabstands von 1 H gebilligt, nicht aber auf eine eigene
Bebauung auf der Grenze verzichtet, trifft das nach dem Inhalt der Bauakten
nur teilweise zu. Die Nachbarzustimmung hatte nicht den vorgenannten eng
begrenzten Inhalt, sondern sie erstreckte sich auf das Vorhaben als solches
einschließlich seines Grenzabstands und der Fensteröffnungen sowie Loggien
nach Süden. Bedingt war die Zustimmung zudem dadurch, dass auf der
Grenze eine Sichtschutzmauer errichtet und die gesamte Hoffläche auf Kosten
des damaligen Bauherrn einheitlich gepflastert werden sollte. Eine derartige
einvernehmliche Gesamtlösung erweckt das - berechtigte - Vertrauen, der
Nachbar werde nunmehr seinerseits kein Gebäude errichten, das einen
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gewissen Mindestabstand unterschreitet und damit die in den vorstehenden
Festlegungen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption obsolet
macht. Auf die privatrechtlichen Regelungen des Niedersächsischen
Nachbargesetzes kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
Ein schutzwürdiges Vertrauen der Antragstellerin dahingehend, dass es auch
bei einer Neubebauung des Grundstücks der Beigeladenen bei einem
geringen Grenzabstand bleiben werde, folgt zudem aus dem Verhalten des
Antragsgegners bzw. der Stadt E.. Der auf dem antragstellerischen
Grundstück realisierte Grenzabstand beruht nämlich auf dem damaligen
städtebaulichen Ziel der Stadt E., die zwischen den Gebäuden D. straße 19
und 20 vorhandene Lohne zu erhalten. Dieses Ziel, das ausweislich der
Erteilung des Einvernehmens mit Schreiben vom 23. August 1994 der
Genehmigung der abweichenden Bauweise zugrunde lag, galt für beide
Grundstücke gleichermaßen. Das hindert zwar weder die Stadt E. noch den
Antragsgegner, nunmehr das gegenläufige Ziel der Schließung von Lohnen zu
verfolgen. Soweit jedoch - wie in diesem Fall - im Vertrauen auf den Erhalt der
Lohnen gebaut worden ist, sind die entsprechenden Dispositionen
schutzwürdig. Das gilt gerade angesichts der erheblichen Gesamtbreite der
Lohne von rund fünf Metern, die über das übliche Maß deutlich hinausgeht und
die zu einer ausreichenden Belüftung und Belichtung sowie Besonnung beider
Nachbargrundstücke jedenfalls beiträgt (vgl. dazu Senat, Beschl. v. 29.8.2013
- 1 LA 219/11 -, juris Rn. 13). Ein Vorhaben, das sich über eine daran
orientierte Bestandsbebauung ohne Weiteres hinwegsetzt, ist mit dem Gebot
der Rücksichtnahme nicht vereinbar (vgl. dazu jetzt BVerwG, Urt. v. 5.12.2013
- 4 C 5.12 -, Rn. 21f). Auf die Frage, ob schon ein Verstoß gegen das Gebot
gesunder Wohnverhältnisse vorliegt, kommt es vor diesem Hintergrund nicht
mehr an.
Entgegen der Ansicht der Beigeladenen ist die Antragstellerin auch nicht
gehalten, durch den Einbau zusätzlicher Fenster nach Osten selbst für eine
ausreichende Belichtung der durch das Bauvorhaben verdunkelten
Aufenthaltsräume zu sorgen. Dabei kann dahinstehen, ob der Grund dafür,
dass nach Osten hin vergleichsweise wenige Fenster angeordnet sind, in der -
legalen oder illegalen - Hinterhofbebauung liegt. Maßgeblich ist allein, dass
das Gebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen in der vorliegenden
Gestalt im Vertrauen darauf errichtet worden ist, dass die Lohne nicht einseitig
geschlossen wird. Ein Vorrang der architektonischen Selbsthilfe ist deshalb in
diesem Fall nicht auszumachen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die
Beigeladene an den Kosten beteiligt.
Der Senat teilt auch nicht die Auffassung, dass ein derartiges Verständnis der
Nachbarzustimmung das Rechtsinstitut der Baulast entwerte. Rücksicht auf
den vorhandenen Gebäudebestand ist nicht nur/erst dann zu nehmen, wenn
derartige Pflichten durch Baulast gesichert sind. Im Gegenteil folgt bereits aus
dem Begriff des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB, dass die vorhandene
Bebauung den Rahmen für die zulässige Art und das zulässige Maß einer
weiteren Bebauung setzt. Zu Unrecht meint die Beigeladene in diesem
Zusammenhang, dass eine daraus resultierende Baubeschränkung für sie
nicht erkennbar gewesen sei. Im Gegenteil drängt es sich geradezu auf, dass
es rücksichtslos ist, die Fenster und Loggien von Aufenthaltsräumen eines
benachbarten Gebäudes in derart kurzer Distanz mit einem mehr als elf Meter
hoch aufragenden Gebäude zu verstellen. Die Antragstellerin hat insofern zu
Recht darauf hingewiesen, dass sich in der Örtlichkeit unübersehbar ein Bild
biete, dem die Grenzen des Gestaltungsspielraums zu entnehmen seien.
Soweit das Gebäude auf dem Grundstück der Antragstellerin schließlich den
nach der Baugenehmigung vorgegebenen Grenzabstand unterschreiten sollte,
ließe das die angegriffene Baugenehmigung ebenfalls nicht in günstigerem
Licht erscheinen. Ein tatsächliches Unterschreiten des genehmigten
Grenzabstands mag dazu führen, dass man der Beigeladenen - dem
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nachbarlichen Austauschverhältnis entsprechend - ein vergleichbares
Heranrücken an die Grenze gestattet. Es rechtfertigt indes keine
Grenzbebauung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 i. V. mit § 162 Abs. 3
VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG; der
Senat schließt sich den Erwägungen des Verwaltungsgerichts an.