Urteil des HessVGH vom 14.11.1988

VGH Kassel: verfolgung aus politischen gründen, vorläufiger rechtsschutz, amnesty international, aufschiebende wirkung, auskunft, abschiebung, politische verfolgung, drohende gefahr, freiheit

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 TH 2717/88
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 80 Abs 5 VwGO, § 187
Abs 3 VwGO, § 155 Abs 1
VwGO, § 14 Abs 1 AuslG, §
14 Abs 2 S 2 AuslG
Vorläufiger Rechtsschutz gegen Abschiebungsandrohung
bei nicht auszuschließender Gefahr der Sippenhaft -
Streitwertfestsetzung bei gleichzeitigem einstweiligen
Rechtsschutz gegen die Versagung der
Aufenthaltserlaubnis
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach § 187 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 12 HessAG-VwGO haben Rechtsmittel gegen die
Androhung der Abschiebung, bei der es sich um eine Maßnahme der
Verwaltungsvollstreckung handelt, abweichend von der Regel des § 80 Abs. 1
VwGO keine aufschiebende Wirkung. Im Hinblick auf diese gesetzliche Regelung
kann die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die
Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 5 VwGO nur dann in Betracht kommen,
wenn im konkreten Fall das Interesse des Ausländers am vorläufigen weiteren
Aufenthalt im Bundesgebiet aus besonderen Gründen dem öffentlichen Interesse
an einer unverzüglichen Ausreise des Ausländers vorgeht. Hiervon ist dann
auszugehen, wenn die angegriffene Abschiebungsandrohung offensichtlich
rechtswidrig ist oder bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens eine
Interessenabwägung ergibt, daß den privaten Interessen des Antragstellers am
vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet aus besonderen Gründen der
Vorrang gegenüber dem nach § 187 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 12 HessAG-VwGO
vermuteten öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug der
Abschiebungsandrohung eingeräumt werden muß.
In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, daß bei der in diesem
Eilverfahren allein möglichen summarischen Überprüfung der Sachlage die
angegriffene Abschiebungsandrohung sich nach dem gegenwärtigen
Erkenntnisstand nicht als offensichtlich rechtmäßig erweist und der Ausgang des
Hauptsacheverfahrens bezogen auf die Rechtmäßigkeit der
Abschiebungsandrohung als offen anzusehen ist. Bei der danach gebotenen
Interessenabwägung überwiegen die privaten Interessen der Antragstellerin daran,
vorläufig im Bundesgebiet bleiben zu dürfen, das öffentliche Interesse am
sofortigen Vollzug der Abschiebungsandrohung.
Es bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, da nach
§ 14 Abs. 1 AuslG ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in
dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Zum gegenwärtigen.
Zeitpunkt kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Antragstellerin unter dem
Gesichtspunkt der Sippenhaft Gefahr für ihr Leben bzw. für ihre Freiheit im Falle
einer Abschiebung in den Iran droht. Die angegriffene Abschiebungsandrohung
enthält auch nicht die Einschränkung, daß eine Abschiebung in den Iran
ausgeschlossen ist. Die Einschränkungen der Abschiebung nach § 14 Abs. 1 AuslG
sind aber nicht erst bei Erlaß einer eventuellen Abschiebungsanordnung oder der
Abschiebung selbst, sondern bereits bei der Abschiebungsandrohung zu beachten.
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Abschiebung selbst, sondern bereits bei der Abschiebungsandrohung zu beachten.
Dies ergibt sich aus § 14 Abs. 2 Satz 2 AuslG, wonach bereits in der
Abschiebungsandrohung der Staat zu bezeichnen ist, in den der Ausländer nicht
abgeschoben werden darf.
Eine drohende Gefahr für das Leben oder die Freiheit eines Ausländers unter dem
Gesichtspunkt der sogenannten Sippenhaft im Falle einer Abschiebung erfüllt auch
die Voraussetzungen einer drohenden Verfolgung aus politischen Gründen im
Sinne des § 14 Abs. 1 AuslG. So hat das Bundesverwaltungsgericht für den Bereich
des Asylrechts eine - im Einzelfall widerlegliche - Vermutung dafür angenommen,
daß Ehegatten (Urteil v. 2. Juli 1985 - BVerwG 9 C 35.84 -, InfAuslR 1985, 274) und
minderjährigen Kindern (BVerwGE 75, 304) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
eigene politische Verfolgung drohe, wenn andere Fälle bekannt geworden seien, in
denen der Verfolgerstaat asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen gegen
Familienangehörige dieser Art ergriffen habe. Minderjährige Kinder und Ehegatten
seien in besonderer Weise gefährdet, weil unduldsame Staaten dazu neigten,
anstelle des politischen Gegners auf diesem besonders nahestehende und
möglicherweise von ihm abhängige Personen zurückzugreifen und sie
stellvertretend oder zusätzlich in Anspruch zu nehmen. Nichts anderes kann im
Rahmen des § 14 Abs. 1 AuslG gelten.
Unter Berücksichtigung der im Beschwerdeverfahren eingeführten
Erkenntnisquellen schließt der Senat bei der in diesem Eilverfahren allein
möglichen summarischen Überprüfung der Sachlage nicht aus, daß im Iran die
sogenannte Sippenhaft jedenfalls dann praktiziert wird, wenn aus dem Iran aus
politischen Gründen geflohenen Staatsangehörigen vom dortigen Regime Vorwürfe
von erheblichem Gewicht zur Last gelegt werden, so daß allein die enge familiäre
Verbundenheit mit einem derartigen politisch Verfolgten zu einer Gefahr für das
Leben oder die Freiheit der Familienangehörigen im Falle ihrer Rückkehr in den Iran
führen kann.
Zur Frage, ob im Iran die sogenannte Sippenhaft praktiziert wird, hat das
Auswärtige Amt im November 1982 (vgl. Auskunft v. 19. November 1982 an das
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen) mitgeteilt, es sei eine Reihe von Fällen bekannt
geworden, in denen auf Familienangehörige von aus dem Iran geflohenen
Personen zum Teil erheblicher Druck ausgeübt worden sei. Mit Auskunft vom 4.
April 1984 (an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) hat
das Auswärtige Amt ausgeführt, Angehörige von Personen, die aktiv ihre
Ablehnung der gegenwärtigen Regierung zum Ausdruck gebracht hätten, seien
zum Teil mehrmals verhaftet und Verhören unterzogen worden, um den
Aufenthaltsort des Regimegegners ausfindig zu machen bzw. um Angaben
darüber zu erhalten, wie dieser das Land verlassen habe. Die Methoden, die
angewendet würden, um diese Informationen zu erhalten, entsprächen in den
wenigsten Fällen rechtsstaatlichen Anforderungen. Dem Auswärtigen Amt seien
bisher allerdings keine Fälle bekannt geworden, in denen Betroffene nicht nach
einiger Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt worden seien, es sei denn, im Rahmen
der Verhöre hätte sich ein Verdacht auf Mittäterschaft oder aktive Hilfeleistung
herausgestellt. Die Einschätzung des Auswärtigen Amtes hinsichtlich der
angewendeten Verhörmethoden wird auch durch die Auskunft des Deutschen
Orientinstitutes an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 13. August 1985 bestätigt, wonach Familienangehörige von Personen, die
politischer Straftaten beschuldigt werden, gefoltert würden. Seit 1985 vertritt das
Auswärtige Amt allerdings in einer Vielzahl von Auskünften (vgl. beispielsweise
Auskunft v. 9. Januar 1987 an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge bzw. v. 1. Februar 1988 an das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen) die
Auffassung, daß Fälle von Sippenhaft nur während der islamischen Revolution und
in den ersten darauffolgenden Jahren vorgekommen seien und es beispielsweise in
den Jahren 1981/82 "Übergriffe" gegen Kinder politischer Gegner und die
Ermordung ganzer Familien radikaler Oppositioneller gegeben habe (vgl. Auskunft
v. 6. Februar 1986 an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge), in den letzten Jahre jedoch derartige Fälle nicht mehr bekannt
geworden seien. Das Auswärtige Amt habe vielmehr sogar Kenntnis von einem
Fall, in dem einer von zwei Brüdern ein bekanntes, in Westeuropa im Asyl lebendes
Führungsmitglied der iranischen Opposition sei, während der andere Bruder seit
Jahren völlig unbehelligt in Teheran lebe (vgl. Auskünfte des Auswärtigen Amtes v.
1. Februar 1988, 13. Juni 1988 bzw. 29. August 1988 jeweils an das
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen). Demgegenüber geht das Deutsche Rote Kreuz
in einer an den Hessischen Minister des Innern gerichteten Auskunft vom 24.
Februar 1987 unter Hinweis auf Berichte des Deutschen Caritas-Verbandes und
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Februar 1987 unter Hinweis auf Berichte des Deutschen Caritas-Verbandes und
des Diakonischen Werkes in Deutschland davon aus, daß es als gewiß anzusehen
sei, daß Familienangehörige im Iran eingekerkert worden seien, weil ein
Familienmitglied illegal ausgereist sei und in der Bundesrepublik Deutschland Asyl
beantragt habe. In derselben Auskunft hat das Deutsche Rote Kreuz weiterhin die
Auffassung vertreten, daß Angehörige von Oppositionellen aufgrund der
Praktizierung von Sippenhaft Repressalien ausgesetzt seien. Auch amnesty
international geht in einer Auskunft an das Verwaltungsgericht Köln vom 22.
Oktober 1987 davon aus, daß im Iran noch immer die sogenannte Sippenhaft
praktiziert werde.
Angesichts dieser von den neueren Auskünften des Auswärtigen Amtes
abweichenden Stellungnahme des Deutschen Roten Kreuzes und von amnesty
international hält es der Senat für nicht ausgeschlossen, daß auch gegenwärtig im
Iran in bestimmten Fällen noch immer die sogenannte Sippenhaft praktiziert wird.
In dieser Annahme wird der Senat bestätigt durch die Auskunft des Auswärtigen
Amtes vom 6. Februar 1986 an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge. In dieser Auskunft hat das Auswärtige Amt eingeräumt, daß es ihm
nicht möglich sei, auch hinsichtlich der Frage der Sippenhaft verbindliche und
allgemeingültige Aussagen zu machen, da bei der Vielzahl der im öffentlichen
Leben im Iran tätigen Gruppierungen unterschiedlicher politischer Richtungen
Übergriffe nicht völlig ausgeschlossen werden könnten, auch wenn sie nicht dem
gegenwärtig üblichen und vom Staat getragenen Verhalten entsprächen.
Zumindest bei nahen Verwandten (Ehegatte, Kindern) von Personen, die im Iran
politischer Straftaten von nicht unerheblichem Gewicht beschuldigt werden, kann
daher nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand des Senats die Praktizierung von
Sippenhaft im Iran jedenfalls nicht als fernliegend oder gar ausgeschlossen
angesehen werden. Mit dieser Feststellung setzt sich der Senat auch nicht in
Widerspruch zu seinen Ausführungen im Beschluß vom 7. September 1988 (13 TH
1657/87). Dort hatte der Senat seine Zweifel an der Praktizierung von Sippenhaft
im Iran ausdrücklich auf einen Fall bezogen, in dem eine Iranerin derartige
Repressalien wegen ihrer Verwandtschaft zu einem Asylantragsteller befürchtet
hatte. Zur Frage der Sippenhaft im Zusammenhang mit politischen Straftaten von
nicht unerheblichem Gewicht hatte sich der Senat seinerzeit nicht abschließend
geäußert.
In Anwendung dieser Grundsätze kann daher bei summarischer Prüfung nicht
ausgeschlossen werden, daß der Antragstellerin, deren aus dem Iran geflohener
Ehemann von den dortigen Machthabern eine Beteiligung an der teilweisen
Transferierung des Vermögens der Schah-Familie und damit unzweifelhaft eine
nach der jetzigen herrschenden Rechtsauffassung politische Straftat von nicht
geringem Gewicht vorgeworfen wird, im Falle einer Abschiebung in den Iran
möglicherweise aus politischen Gründen Gefahr für ihr Leben bzw. ihre Freiheit
droht. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens muß daher hinsichtlich der
Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung im Hinblick auf die Einschränkungen
der Abschiebung nach § 14 Abs. 1 AuslG zum gegenwärtigen Zeitpunkt als offen
angesehen werden. Die danach gebotene Interessenabwägung fällt zugunsten der
Antragstellerin aus. Es ist der Antragstellerin angesichts der ihr im Iran
möglicherweise drohenden Gefahren für ihr Leben bzw. ihre Freiheit nicht
zuzumuten, vor einer endgültigen Aufklärung des Sachverhaltes in den Iran
zurückzukehren, da dies möglicherweise für sie schwerwiegende, nicht
wiedergutzumachende Folgen hätte. Gegenüber diesen drohenden,
schwerwiegenden Folgen einer Abschiebung haben die öffentlichen Interessen der
Bundesrepublik Deutschland an einer baldigen Ausreise der Antragstellerin
zurückzutreten.
Nach alledem ist unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die
Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Im übrigen, d. h. hinsichtlich der Ablehnung der begehrten Aufenthaltserlaubnis,
muß die Beschwerde allerdings erfolglos bleiben. Das Verwaltungsgericht hat
insoweit die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu Recht versagt. Die
Entscheidung der Antragsgegnerin, der Antragstellerin die begehrte
Aufenthaltserlaubnis zu versagen, kann bei summarischer Überprüfung nicht
beanstandet werden. Da der Paß der Antragstellerin bereits am 11. September
1986 abgelaufen ist und die Antragstellerin weder über einen gültigen Paß noch
einen Fremdenpaß verfügt, darf ihr - wie das Verwaltungsgericht zu Recht
dargelegt hat bereits aus Rechtsgründen keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden
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dargelegt hat bereits aus Rechtsgründen keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden
(§ 3 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 Ziff. 1 AuslG; vgl. auch BVerwG, Beschluß vom 19.
Januar 1983, Buchholz 402.24 § 2 Nr. 43 = NVwZ 1983, 226).
Die Entscheidungen über die Kosten des gesamten Verfahrens und, die
Streitwertfestsetzung folgen aus § 155 Abs. 1 VwGO und den §§ 14 analog, 13 Abs.
1, 20 Abs. 3 GKG. Es entspricht ständiger Praxis des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofes, in Fällen der vorliegenden Art von der Hälfte des
sogenannten Regelstreitwertes auszugehen und die Abschiebungsandrohung bei
der Streitwertfestsetzung nicht streitwerterhöhend zu berücksichtigen, wenn - wie
hier - zugleich die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist. Der
Umstand, daß die Abschiebungsandrohung bei der Streitwertfestsetzung nicht
werterhöhend zu berücksichtigen ist, hat jedoch hinsichtlich der Frage der
Kostenverteilung nicht zur Folge, daß dem lediglich hinsichtlich der
Abschiebungsandrohung mit seinem Eilantrag erfolgreichen Antragsteller die
Kosten des gesamten Verfahrens aufzuerlegen wären. Vielmehr ist davon
auszugehen, daß in derartigen Fällen die Kosten des Verfahrens zu teilen sind, weil
nicht ersichtlich ist, daß dem Interesse des Betroffenen an der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes bezüglich der Abschiebungsandrohung geringeres
Gewicht zukommt als hinsichtlich der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis, und die
Beteiligten des Eilverfahrens damit zu gleichen Teilen obsiegt haben bzw.
unterlegen sind (anderer Ansicht, d. h. für eine volle Kostentragungspflicht des
lediglich hinsichtlich der Abschiebungsandrohung erfolgreichen Antragstellers,
beispielsweise Hess. VGH, Beschluß v. 16. Juli 1987 - 7 TH 3244/86 -).
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.