Urteil des HessVGH vom 26.03.1987

VGH Kassel: volkszählung, aufruf, boykott, datenschutz, begriff, veranstaltung, baurecht, zensur, neutralität, versammlung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
2. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 TG 820/87
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 20 Abs 1 GemO HE, § 20
Abs 3 GemO HE, § 15 Abs
3 S 1 BStatG vom
22.01.1987, § 23 Abs 1
BStatG, § 23 Abs 3 BStatG
(Grenzen des Zulassungsanspruchs zur Benutzung
gemeindlicher Räume bei Aufruf zur Begehung
bußgeldbewehrter Gesetzesverstöße - hier:
Volkszählungsboykott)
Gründe
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die begehrte
einstweilige Anordnung zu Recht erlassen.
In dem angefochtenen Beschluß hat das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt,
daß der Antragstellerin nach § 20 Abs. 1 i.V.m. einer entsprechenden Anwendung
des Abs. 3 der Hessischen Gemeindeordnung in der Fassung vom 1. April 1981
(GVBl. I S. 66) - HGO - ein Anspruch auf Überlassung der fraglichen Räume am 26.
und 31. März 1987 zusteht. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts
kann allerdings ein beabsichtigter öffentlicher Aufruf zum Boykott der Volkszählung
- unter noch zu erörternden Voraussetzungen - Grund für eine Ablehnung der
Überlassung einer öffentlichen Einrichtung sein (Beschluß des Senats vom 21.
März 1983 - 2 TG 23/83 -). Denn der Zulassungsanspruch nach § 20 Abs. 1 HGO
besteht nur "im Rahmen der bestehenden Vorschriften". Darunter sind nicht - wie
das Verwaltungsgericht meint - nur Benutzungsordnungen, Vergaberichtlinien oder
ähnliche Bestimmungen zu verstehen. Vielmehr verweist der Begriff "bestehende
Vorschriften" als Generalklausel auf die geltende Rechtsordnung, so daß unter den
Vorschriften im Sinne des § 20 Abs. 1 HGO grundsätzlich auch gesetzliche
Bestimmungen zu verstehen sind, die nicht unmittelbar zur Regelung der
Benutzung einer öffentlichen Einrichtung erlassen worden sind (in der
Rechtsprechung wird dieser Begriff in einem weiten Sinn verstanden, vgl. BVerwG,
Urteil vom 18. Juli 1969, BVerwGE 32, 333, 337; OVG Lüneburg, Beschluß vom 7.
Juni 1985, NJW 1985, 2347, 2348). Im übrigen können Ausschlußtatbestände, die
an eine Verletzung straf- oder bußgeldbewehrter Vorschriften anknüpfen,
Gegenstand einer Benutzungsordnung sein (so bereits Hess. VGH, Urteil vom 17.
August 1951, ESVGH 2, 175, 177). Daraus ergibt sich, daß eine beabsichtigte
Aufforderung zum Boykott der Volkszählung grundsätzlich ein berechtigter Anlaß
dafür sein kann, die Überlassung einer öffentlichen Einrichtung abzulehnen. Denn
nach § 15 Abs. 3 des Bundesstatistikgesetzes vom 22. Januar 1987 (BGBl. I S.
462) - BStatG - und § 12 des Volkszählungsgesetzes 1987 vom 8. November 1985
(BGBl. I S. 2078) besteht eine Verpflichtung zur Erteilung der in dem
Volkszählungsgesetz 1987 näher bestimmten Auskünfte. Nach §§ 15 Abs. 3 Satz
1, 23 Abs. 1 BStatG handelt ordnungswidrig, wer diese Auskünfte nicht richtig,
nicht vollständig oder nicht rechtzeitig erteilt. Wer öffentlich oder in einer
Versammlung zu solchen Gesetzesverstößen auffordert, begeht selbst eine
Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße von bis zu 10.000,-- DM geahndet
werden kann (§ 23 Abs. 3 BStatG i.V.m. § 116 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über
Ordnungswidrigkeiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 1975,
BGBl. I S. 80, zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Mai 1986, BGBl. I S. 721).
Auf der anderen Seite sind die Gemeinden bei der Vergabe öffentlicher
Einrichtungen zur politischen Neutralität verpflichtet (vgl. grundlegend Ossenbühl,
DVBl. 73, 289, 298; Senatsbeschluß vom 21. März 1983 - 2 TG 23/83 -). Die
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DVBl. 73, 289, 298; Senatsbeschluß vom 21. März 1983 - 2 TG 23/83 -). Die
Entscheidung über die Benutzung städtischer Räumlichkeiten darf nicht zur Zensur
der beabsichtigten Meinungsäußerung mißbraucht werden. Dem Neutralitätsgebot
ist im besonderen Maße Rechnung zu tragen, wenn die Einrichtung - wie hier - von
einer politischen Partei im Rahmen des Wahlkampfes kurz vor einer Landtagswahl
beansprucht wird; auch wenn die Veranstaltung nicht ausdrücklich als
Wahlkampfveranstaltung bezeichnet wird. Insoweit besteht Veranlassung
klarzustellen, daß es zu den legitimen Aufgaben einer politischen Partei gehört, auf
die nach ihrer Auffassung bestehenden Mängel eines Gesetzes - etwa Gefahren für
den Datenschutz - hinzuweisen und die zur Auskunft sowie zur Zählung
verpflichteten Personen zum Beispiel über gesetzlich eingeräumte
Wahlmöglichkeiten und eventuelle Rechtsmittel bei dem Gesetzesvollzug
aufzuklären.
Unter diesen Kriterien - einerseits nicht der Begehung von Ordnungswidrigkeiten
Vorschub zu leisten, andererseits aber die Freiheit der politischen
Meinungsäußerung zu gewährleisten - und unter Beachtung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit ist die Ablehnung eines Antrags auf Benutzung öffentlicher
Räumlichkeiten für Wahlkampfveranstaltungen nur gerechtfertigt, wenn der
öffentliche Aufruf zur Verletzung der gesetzlichen Auskunftspflicht aufgrund
konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte sicher zu erwarten, von gravierendem
Gewicht (vgl. Ossenbühl, a.a.O., S. 299) - also wesentlicher Teil des
Veranstaltungszweckes - und auch dem Veranstalter zuzurechnen ist.
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat
zutreffend ausgeführt, daß weder der Inhalt des Artikels "Infos über Datenschutz"
in der Offenbach-Post vom 9. März 1987 noch die in der Frankfurter Rundschau
vom 19. März 1987 wiedergegebenen Äußerungen des Vorstandssprechers der
Antragstellerin noch die von dem Landesverband der Grünen herausgegebenen
und von der Antragstellerin im Stadtgebiet der Antragsgegnerin ausgehängten
Plakate den gesicherten Schluß darauf zulassen, daß die Antragstellerin durch die
für sie handelnden Personen im Rahmen der fraglichen Veranstaltungen zu einem
Boykott der Volkszählung 1987 in dem oben beschriebenen Sinn aufrufen wird.
Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung. Der
Antragsgegnerin ist zwar zuzugeben, daß die Plakate mit der Aufschrift
"Volkszählung ist Bespitzelung - Wir geben keine Antwort!" als Boykottaufruf
aufzufassen ist und daß sich die Antragstellerin - durch die Verbreitung im
Stadtgebiet - damit auch identifiziert hat. Daraus läßt sich aber nicht sicher
folgern, daß wesentlicher Zweck der für den 26. und 31. März 1987 geplanten
Veranstaltungen nicht nur eine legitime Information über die Volkszählung 1987,
sondern auch die Aufforderung zu ordnungswidrigem Verhalten sein soll; zumal die
Antragstellerin diese Plakate nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der
Einladung zu den fraglichen Veranstaltungen ausgehängt oder sonst verbreitet
hat.
Der Senat verkennt nicht, daß die Befürchtung der Antragsgegnerin, die
Antragstellerin werde in den geplanten Veranstaltungen am 26. und 31. März 1981
zum Boykott der Volkszählung 1987 im oben beschriebenen Sinn aufrufen, nicht
von der Hand zu weisen ist. Das muß die Antragsgegnerin angesichts des hohen
Ranges des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Wahlkampf hinnehmen; sie
kann aber einen entsprechenden Verlauf der Veranstaltungen bei künftigen
Entscheidungen über die Vergabe städtischer Einrichtungen berücksichtigen. Im
übrigen kann sie um Maßnahmen der zur Verhinderung und Ahndung von
Ordnungswidrigkeiten zuständigen Behörde nachsuchen.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen, weil sie
das Rechtsmittel ohne Erfolg eingelegt hat (§ 154 Abs. 2 VwGO).
Die Streitwertentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 14
Abs. 1 i.V.m. §§ 13 Abs. 1 Satz 2 und 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes in der
Fassung vom 9. Dezember 1986 (BGBl. I S. 2326) - GKG -. Das Verwaltungsgericht
geht zu Recht davon aus, daß ein auf § 20 Abs. 1 HGO gestütztes
Zulassungsbegehren bei Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache mit
6.000,-- DM zu bewerten ist. Da hier aber zwei selbständige
Überlassungsansprüche in einem Verfahren geltend gemacht werden, ist ein
Streitwert von 12.000,-- DM anzunehmen. Im Interesse einer einheitlichen
Wertfestsetzung hat der Senat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den
erstinstanzlichen Streitwertbeschluß gemäß § 25 Abs. 1 Satz 3 GKG von Amts
wegen zu ändern.
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Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 2 Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.