Urteil des HessVGH vom 26.01.1994

VGH Kassel: geschäft, einheit, auflage, verfügung, beschränkung, gesundheit, sittlichkeit, anwendungsbereich, feststellungsklage, käufer

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
14. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
14 UE 3238/90
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 2 Abs 3 GastG
(Entbehrlichkeit einer gaststättenrechtlichen Erlaubnis für
Stehtisch vor einem Ladengeschäft des
Lebensmitteleinzelhandels)
Leitsatz
Alkoholfreie Getränke oder zubereitete Speisen dürfen auch an unmittelbar vor einem
Ladengeschäft des Lebensmitteleinzelhandels oder des Lebensmittelhandwerks
aufgestellten Stehtischen während der Ladenöffnungszeiten verabreicht werden. Eine
gaststättenrechtliche Erlaubnis ist hierfür nicht erforderlich. Die rechtlich begründete
Notwendigkeit, eine Erlaubnis nach anderen Vorschriften, insbesondere eine
straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis, einzuholen, bleibt unberührt.
Tatbestand
Die Klägerin betreibt in Wiesbaden in der K.-gasse ein Ladengeschäft mit
Kaffeeausschank. Von der Straße wird das Geschäft in voller Breite durch
Glastüren und Glasfenster abgegrenzt. Drei Fünftel der Glasfront können für den
Zugang in das Geschäft geöffnet werden. Bei geeigneter Witterung stellt die
Klägerin vor dem Geschäft vier Stehtische mit Tischplatten von 80 x 80 cm zum
Verzehr von Getränken und Imbißartikeln durch Kunden auf. Die Tische stehen vor
den Fenstern des Ladengeschäfts.
Die Aufstellung der Tische führte in der Vergangenheit mehrfach zu rechtlichen
Auseinandersetzungen zwischen den Verfahrensbeteiligten. Das Tiefbauamt der
Beklagten erteilte der Klägerin am 24. November 1989 eine straßenrechtliche
Sondernutzungserlaubnis und führte damit die Erledigung eines beim
Verwaltungsgericht Wiesbaden anhängigen Verwaltungsstreitverfahrens wegen
Erteilung einer solchen Erlaubnis herbei. Im Jahre 1990 verlangte die Beklagte die
unverzügliche Beseitigung der Tische, weil sie eine gaststättenrechtliche Erlaubnis
für nötig hielt. In späterer Zeit duldete sie die Aufstellung der Tische im Hinblick auf
den anhängigen Rechtsstreit.
Die Klägerin hatte bereits am 19. Oktober 1989 bei dem Verwaltungsgericht
Wiesbaden eine Klage mit dem Ziel der Feststellung erhoben, daß sie für die
Aufstellung der Stehtische einer Gaststättenerlaubnis nicht bedürfe.
Das Verwaltungsgericht Wiesbaden traf die beantragte Feststellung durch Urteil
vom 19. Juli 1990 mit der Begründung, daß die Klägerin alkoholfreie Getränke und
Speisen zwar außerhalb ihres Ladengeschäfts, aber noch in räumlicher Verbindung
damit verabreiche und daher nach § 2 Abs. 3 des Gaststättengesetzes einer
Erlaubnis nicht bedürfe.
Die Beklagte hat am 19. Oktober 1990 gegen das ihr am 28. September 1990
zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Sie meint, die Erlaubnisfreiheit nach der vom
Verwaltungsgericht herangezogenen Vorschrift setze einen engen Bezug zu den
Räumlichkeiten des Ladengeschäfts voraus. Ein Ladenlokal ende jedoch nach der
Verkehrsanschauung an der Schwelle.
Die Beklagte beantragt,
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die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 19.
Juli 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, und verteidigt das angefochtene Urteil.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die von den Beteiligten eingereichten
Schriftsätze, die Niederschriften über die mündlichen Verhandlungen vor dem
Verwaltungsgericht Wiesbaden am 19. Juli 1990 und vor dem erkennenden Senat
am 26. Januar 1994 sowie auf die beigezogenen Akten des Verwaltungsgerichts
Wiesbaden V E 586/89 und V G 929/89, die den Rechtsstreit über die
straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis betreffen, und schließlich auf die die
gaststättenrechtliche Rechtslage betreffenden Akten des Magistrats der Beklagten
(1 Hefter) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat
zu Recht die von der Klägerin beantragte Feststellung getroffen.
Die Feststellungsklage ist zulässig. Die Klägerin hat ein berechtigtes Interesse an
der baldigen Feststellung des Bestehens des streitbefangenen
Rechtsverhältnisses gemäß § 43 Abs. 1 VwGO, weil die Beklagte lediglich im
Hinblick auf die zu erwartende Entscheidung des Senats in der vergangenen und
möglicherweise der vorletzten Sommersaison die Aufstellung der Tische geduldet
hat. Im übrigen steht die Beklagte jedoch, wie sich aus ihrem Vortrag im
Berufungsverfahren ergibt, nach wie vor auf dem Standpunkt, daß die Klägerin
einer gaststättenrechtlichen Erlaubnis bedürfe. Ihr Verhalten in früherer Zeit hat
dabei deutlich gemacht, daß sie gewillt ist, die Tische zu entfernen, wenn der
erkennende Senat nicht die von der Klägerin erstrebte Feststellung trifft.
Die Klage ist auch begründet. Nach § 2 Abs. 3 des Gaststättengesetzes - GastG -
bedarf einer Erlaubnis nach diesem Gesetz nicht, wer, ohne Sitzgelegenheit
bereitzustellen, in räumlicher Verbindung mit seinem Ladengeschäft des
Lebensmitteleinzelhandels oder des Lebensmittelhandwerks während der
Ladenöffnungszeiten alkoholfreie Getränke oder zubereitete Speisen verabreicht.
Entgegen der Auffassung der Beklagten geht die in der Bestimmung genannte
räumliche Verbindung der Verabreichung von Getränken oder Speisen mit dem
Ladengeschäft der Klägerin in Wiesbaden nicht dadurch verloren, daß die Klägerin
vier Stehtische vor dem Geschäft aufstellt.
Nach Ansicht des erkennenden Senats ist anhand des mit § 2 Abs. 3 verfolgten
Gesetzeszwecks zu bestimmen, wie weit sich die zur Erlaubnisfreiheit führende
räumliche Verbindung des Verabreichens von Getränken oder Speisen mit dem
Ladengeschäft erstrecken darf. Aus den Materialien zum Gaststättengesetz ergibt
sich, daß § 2 Abs. 3 GastG im Einzelhandel und Lebensmittelhandwerk immer
häufiger hervortretenden zusätzlichen Leistungen Rechnung tragen soll. Eine
Gaststättenerlaubnis erscheint dem Gesetzgeber dabei verzichtbar, sofern eine
Sitzgelegenheit nicht besteht, die Käufer also nicht für längere Zeit im
Ladengeschäft verweilen (BT-Drs. V/205 S. 13).
Damit hat es der Gesetzgeber bewußt zugelassen, daß der
Lebensmitteleinzelhandel und das Lebensmittelhandwerk in einen bis dahin den
Gaststätten vorbehaltenen Wirtschaftsbereich eindringen. Wenn damit zugleich der
Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 Satz 1 GastG, der den Betrieb eines
Gaststättengewerbes an eine Erlaubnis knüpft, eingeschränkt wird, so erscheint
dies dem Gesetzgeber im Hinblick auf die Gefahren, die das Gaststättengesetz
abwehren will, hinnehmbar. Neben der in einem Betrieb, der von der Regelung des
§ 2 Abs. 3 GastG erfaßt wird, mangels Sitzgelegenheiten zu erwartenden geringen
Verweildauer der Kunden erweisen sich insoweit die Beschränkung der
abzugebenden Waren auf alkoholfreie Getränke und zubereitete Speisen sowie die
Bindung an die Ladenöffnungszeiten als ausschlaggebend. Diese Beschränkungen
lassen nämlich die dem Gaststättengewerbe eigentümlichen Ordnungsstörungen
in weit geringerem Maß befürchten, als es bei Gaststätten, deren Betrieb nicht in
dieser Weise eingeschränkt ist, der Fall ist (so schon BayOblG, Beschluß vom 28.
April 1992 - 3 ObOWi 23/92 -, BayVBl. 1992, 699).
Dies gilt zum einen für Ordnungsstörungen, die mit dem an die räumlichen
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Dies gilt zum einen für Ordnungsstörungen, die mit dem an die räumlichen
Verhältnisse innerhalb des Betriebs anknüpfenden Versagungsgrund des § 4 Abs.
1 Nr. 2 GastG vermieden werden sollen; denn die Anforderungen, die zum Schutze
der Gäste und der Beschäftigten gegen Gefahren für Leben, Gesundheit oder
Sittlichkeit oder sonst zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder
Ordnung nach dieser Vorschrift notwendig sind, vermindern sich ohne weiteres
durch die zeitliche Beschränkung des Betriebs als solchen und durch die zu
erwartende geringe Verweildauer der Kunden. Dabei ist nicht erkennbar, weshalb
höhere Anforderungen dieser Art zu stellen wären, wenn alkoholfreie Getränke
oder zubereitete Speisen wie im Falle der Klägerin an vier unmittelbar vor dem
Ladengeschäft aufgestellten Stehtischen verabreicht werden. Gleiches gilt für die
Ordnungsstörungen, gegen die sich der Versagungsgrund des § 4 Abs. 1 Nr. 3
GastG richtet, wonach die Erlaubnis zu versagen ist, wenn der Gewerbebetrieb im
Hinblick auf seine örtliche Lage oder auf die Verwendung der Räume dem
öffentlichen Interesse widerspricht, insbesondere schädliche Umwelteinwirkungen
im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes oder sonst erhebliche Nachteile,
Gefahren oder Belästigungen für die Allgemeinheit befürchten läßt. Baurechtliche
Hindernisse, die hier zu berücksichtigen wären, sind im vorliegenden Fall nicht
ersichtlich. Als schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne der Vorschrift kommen in
erster Linie unzumutbare Lärmeinwirkungen in Betracht. Einwirkungen dieser Art
sind bei einem auf die Tageszeit beschränkten und ohne Alkoholausschank
geführten Betrieb grundsätzlich weniger zu erwarten als bei einer Gaststätte im
herkömmlichen Sinne. Die streitbefangene Aufstellung von Tischen vor dem
Geschäft ändert daran nichts. Besonderheiten des vorliegenden Falles, die eine
abweichende Beurteilung rechtfertigen würden, sind von der Beklagten nicht
vorgetragen worden und auch im übrigen nicht ersichtlich. Das gleiche gilt für
Luftverunreinigungen und Gerüche.
Die mit den Versagungsgründen des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 4 GastG zu
bekämpfenden Ordnungsstörungen knüpfen an die Person des Gastwirts an und
nicht an die Gestaltung der Betriebsstätte, die hier in Frage steht.
Zu Recht weist das Bayerische Oberste Landesgericht schließlich darauf hin, daß
zur Beseitigung bei einem erlaubnisfreien Betrieb auftretender Störungen
repressive Mittel zur Verfügung stünden. Dabei ist insbesondere auf § 5 Abs. 2
GastG hinzuweisen, wonach gegenüber Gewerbetreibenden, die ein erlaubnisfreies
Gaststättengewerbe betreiben, Anordnungen nach Maßgabe des Absatzes 1
dieser Bestimmung, also Auflagen zum Schutze der Gäste, der im Betrieb
Beschäftigten und gegen schädliche Umwelteinwirkungen erlassen werden können.
Die Rechtsauffassung des erkennenden Senats steht freilich im Widerspruch zu
der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Gaststättengesetz - VwvGastG -, die
vom Arbeitskreis "Gaststättenrecht" der Gewerberechtsreferenten des Bundes und
der Länder ausgearbeitet worden ist (abgedruckt bei Mörtel/Metzner,
Gaststättengesetz, 4. Auflage, München 1988, Anhang III). Dort heißt es unter Nr.
2.2.6.2, daß der Begriff der räumlichen Verbindung enger als der des räumlichen
Zusammenhangs im Sinne der den § 1 Abs. 1 Nr. 1 GastG betreffenden Nr. 1.1
sei. Ladengeschäft und Verzehrsort müßten als eine räumliche Einheit anzusehen
sein. Dies sei nicht mehr der Fall, wenn der Verzehrsort sich im Freien befinde.
Auch nach Auffassung des erkennenden Senats muß zwar ein von dem
Gewerbetreibenden zur Verfügung gestellter Verzehrsort wie die von der Klägerin
aufgestellten Tische eine räumliche Einheit mit dem Ladengeschäft darstellen.
Jedoch kann der Senat nicht erkennen, daß diese räumliche Einheit im Falle der
Klägerin durch das Aufstellen der Tische im Freien aufgehoben wäre. Eine
dahingehende Verkehrsauffassung, die in der Kommentarliteratur erwähnt wird
(Michel/Kienzle, Gaststättengesetz, 9. Auflage, Köln 1986, § 2 Rdnr. 11), ist für den
Senat weder ersichtlich noch nachvollziehbar.
Wegerechtliche Gesichtspunkte sind in einem gesonderten Verwaltungsverfahren
zu berücksichtigen, das im vorliegenden Fall durch Erteilung einer
Sondernutzungserlaubnis zum Aufstellen von vier Stehtischen am 24. November
1989 abgeschlossen worden ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit § 708 Nr. 10 und § 711 ZPO.
Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung für die Auslegung des § 2 Abs. 3 GastG hat.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.