Urteil des HessVGH vom 26.08.1988

VGH Kassel: cousin, hessen, asylbewerber, ausreise, offenkundig, einverständnis, pakistan, tod, anhörung, eltern

1
2
3
4
5
6
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
10. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 UE 2431/88
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 5 AsylVfG, § 22
Abs 6 S 1 AsylVfG, § 22 Abs
9 AsylVfG
(Zur Berücksichtigung von Sonderbeziehungen bei der
Zuweisung von Asylbewerbern)
Tatbestand
Der im Jahre 1965 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und
Ahmadi. Er bemüht sich nach einem erfolglosen Asylverfahren in Schweden seit
November 1984 in der Bundesrepublik Deutschland um Anerkennung als
Asylberechtigter. Während seines ersten Anerkennungsverfahrens, das im Jahre
1986 erfolglos endete, hielt er sich mit Zustimmung der damals zuständigen
Ausländerbehörde, des Oberkreisdirektors in Soest, in Nordrhein-Westfalen auf. Im
September 1986 stellte der Kläger beim Landrat des Main-Taunus-Kreises
Asylfolgeantrag und wurde in die Hessische Gemeinschaftsunterkunft für
ausländische Flüchtlinge in Schöneck aufgenommen.
Bei einer Anhörung vor Erlaß einer Entscheidung gemäß § 22 Satz 5 und 9 AsylVfG
in Schwalbach am 16. September 1986 machte der Kläger seine familiäre Bindung
an seinen in Mörfelden-Walldorf lebenden Bruder Z. A. geltend. Die Zentrale
Aufnahmestelle des Landes Hessen wies den Kläger daraufhin mit
Zuweisungsentscheidung vom 3. Dezember 1986 dem Land Nordrhein-Westfalen
zu und forderte ihn auf, sich unverzüglich bei der Zentralen Anlaufstelle für
Asylbewerber in Bergkamen-Oberaden einzufinden.
Gegen diese Zuweisungsentscheidung legte der Kläger am 16. Dezember 1986
Widerspruch ein, den er mit seinen Beziehungen zu dem schon erwähnten Bruder
und insgesamt sechs im Großraum Frankfurt lebenden Cousins begründete. Diese
verwandtschaftlichen Beziehungen habe er früher nicht erwähnt, da er davon
ausgegangen sei, sie könnten in keinem Fall Berücksichtigung finden. Inzwischen
habe er aber sechs Monate lang Gelegenheit gehabt, die erwähnten
verwandtschaftlichen Beziehungen zu intensivieren und zu pflegen. Dadurch habe
sich eine gewisse Angewiesenheit auf seine Verwandten entwickelt, die umso
schwerer ins Gewicht falle, als er in Nordrhein-Westfalen keine nennenswerten
sozialen Bindungen habe entwickeln können.
Der Regierungspräsident in Gießen wies den Rechtsbehelf mit
Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1987 zurück mit der Begründung, familiäre
Bindungen im Sinne des § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG oder ähnlich gewichtige
Belange seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Wegen weiterer Einzelheiten
wird auf den Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1987 Bezug genommen.
Am 14. Mai 1987 hat der Kläger gegen die Zuweisung Klage erhoben. Zur
Begründung hat er unter Vorlage einer schriftlichen Erklärung seines Cousins M. A.
M. vom 28. Juli 1987, auf die verwiesen wird, behauptet, die Bindungen an diesen
Cousin seien derart stark, daß sie für den Kläger lebenswichtig seien. Herr M. habe
ihn schon in der Kindheit in Pakistan nach dem Tod seines Vaters versorgt und sich
auch in der Bundesrepublik Deutschland moralisch und finanziell um ihn
gekümmert.
Der Kläger hat beantragt,
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
die Zuweisungsentscheidung der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Hessen
vom 3. Dezember 1986 und den Widerspruchsbescheid des
Regierungspräsidenten in Gießen vom 5. Mai 1987 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er geltend gemacht, der Kläger habe die von ihm dargelegten
familiären Bindungen nicht glaubhaft gemacht, zumal er während des ersten
Anerkennungsverfahrens offenbar keine engen Beziehungen zu diesen
Angehörigen unterhalten habe.
Das Verwaltungsgericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 23.
Dezember 1987 informatorisch gehört. Dabei hat der Kläger erklärt, nach dem Tod
seines Vaters im Jahre 1966 habe sein Cousin M. für ihn und seine Brüder die Rolle
des Familienoberhaupts übernommen und sie in Gesprächen auch religiös
unterwiesen. Cousin M. habe bis zu seiner Ausreise 1976 bzw. 1977 in Hause des
Klägers gewohnt. Der Kläger erhalte in Hessen keine Sozialhilfeleistungen, sein
Lebensunterhalt werde in Frankfurt am Main durch seinen Cousin M. bestritten. Die
persönliche Bindung an diesen Cousin habe er auch schon bei seiner Einreise ins
Bundesgebiet erwähnt. Bei der Anhörung am 16. September 1986 habe er zwar
zunächst seinen Bruder genannt, weil er nach seinen engsten Verwandten in der
Bundesrepublik gefragt worden sei. Dann habe er aber auch noch seinen Cousin
M. erwähnt.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 23. Dezember 1987
stattgegeben. Zur Begründung hat das Gericht im wesentlichen ausgeführt, es sei
glaubhaft gemacht, daß der Kläger seit seiner Kindheit zu dem Cousin M. eine
enge persönlich und auch religiös geprägte Bindung entwickelt habe, die noch
heute bestehe. Dies finde darin Ausdruck, daß der Cousin bereit und offensichtlich
in der Lage sei, den Kläger wirksam ideell und materiell zu unterstützen. Um die
räumliche Nähe zu seinem Cousin zu erhalten, verzichte der Kläger sogar auf
Sozialhilfe. Im übrigen sei es ermessensfehlerhaft, den Kläger, dessen gesamte
nähere Familie im Rhein-Main-Gebiet wohne, als einziges Familienmitglied nach
Nordrhein-Westfalen zu verteilen.
Mit seiner durch den Senat mit Beschluß vom 16. Juni 1988 - 10 TE 1910/88 -
zugelassenen Berufung vertieft der Beklagte sein bisheriges Vorbringen. Das
Verwaltungsgericht habe verkannt, daß der Kläger schon wegen seines
Lebensalters nicht mehr auf die Hilfe entfernter Angehöriger angewiesen sei, wie
dies im Verhältnis von Eheleuten zueinander oder von minderjährigen Kindern zu
ihren Eltern typisch sei. Auch habe das Verwaltungsgericht entgegen der
Rechtsprechung des Senats dem Umstand, daß der Kläger über mehr als zehn
Jahre hinweg keine persönlichen Beziehungen zu dem Cousin unterhalten habe,
ebensowenig Beachtung geschenkt wie der Tatsache, daß er von 1984 bis 1986 in
Nordrhein-Westfalen ohne jeglichen Kontakt zu seinem Cousin das erste
Antragsverfahren betrieben habe.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Klage unter Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen,
und bezieht sich zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen
Urteils.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung erklärt.
Dem Senat liegen die Gerichtsakten III H 21339/86 des Verwaltungsgerichts
Wiesbaden sowie die den Kläger betreffenden Akten der Zentralen Aufnahmestelle
des Landes Hessen vor.
Entscheidungsgründe
Die vom Senat zugelassene Berufung, über die mit Einverständnis der Beteiligten
ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§§ 101 Abs. 2, 125 Abs. 2
VwGO), ist begründet. Denn das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht
21
22
23
24
25
26
27
VwGO), ist begründet. Denn das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht
stattgegeben. Die vom Kläger angegriffene Zuweisungsentscheidung ist nicht
rechtswidrig und verletzt ihn daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1
VwGO).
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat die Zentrale
Aufnahmestelle des Landes Hessen die von ihm geltend gemachten Beziehungen
zu seinem Bruder Z. A. und seinen sechs im Großraum Frankfurt lebenden
Cousins, insbesondere zu dem Cousin M. A. M., nicht im Rahmen des § 22 Abs. 5
und 6 Satz 1 AsylVfG mit dem Ergebnis berücksichtigen müssen, daß die
Zuweisung nach Nordrhein-Westfalen hätte unterbleiben und der Kläger einer
Gebietskörperschaft im Raume Frankfurt am Main hätte zugewiesen werden
müssen. Denn die vom Kläger geltend gemachten Sonderbeziehungen zu seinem
Bruder und den genannten Cousins sind offenkundig nicht von ähnlichem Gewicht
wie die in § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG besonders erwähnten Beziehungen zwischen
Eheleuten untereinander und im Verhältnis zu ihren minderjährigen Kindern. Zwar
kann es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats auch bei außerhalb von
Sonderbeziehungen im Sinne des § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG stehenden Personen
im Einzelfall geboten sein, die Angewiesenheit des jeweiligen Asylbewerbers auf
diese Personen im Rahmen der Zuweisungsentscheidung zu berücksichtigen,
insbesondere wenn der Asylbewerber auf die Lebenshilfe durch nahe Verwandte in
besonderer Weise angewiesen ist (Hess. VGH, Beschlüsse vom 3. Januar 1985 - 10
TH 2149/84 - EZAR 228 Nr. 3, vom 23. Oktober 1986 - 10 TH 2554/86 - EZAR 228
Nr. 8, und vom 6. Januar 1988 - 10 TH 3835/87 -). Eine derartige Angewiesenheit
des Klägers auf seinen Bruder oder einen der von ihm benannten sechs Cousins
besteht indessen offenkundig nicht.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist weder dem Vorbringen des
Klägers noch sonstigen Umständen zu entnehmen, daß er auf die genannten
Angehörigen in besonderer Weise angewiesen ist. Zwar ist in dem angegriffenen
Urteil mit Recht ausgeführt, der Kläger habe schon in seiner Kindheit eine sehr
enge Beziehung auch auf religiösem Gebiet zu seinem Cousin M. entwickelt, die
bis zur Ausreise des Cousins aus Pakistan vor mehr als zehn Jahren angehalten
habe. Dem ist jedoch hinzuzufügen, daß der Kläger seit der Ausreise des Cousins
und selbst noch während der ersten Jahre seines eigenen Aufenthalts im
Bundesgebiet ohne Beistand des Cousins zu leben imstande war. Um im Rahmen
einer Zuweisungsentscheidung nach § 22 AsylVfG Berücksichtigung zu finden,
müßte die Angewiesenheit des Klägers auf die Lebenshilfe seines Cousins M., die
in einem früheren Lebensabschnitt bestanden haben mag, heute noch anhalten.
Dafür ist indessen angesichts der langjährigen Trennung beider nichts ersichtlich.
Dies gilt auch für die Beziehungen des Klägers zu seinem Bruder und den übrigen
Cousins.
Mithin stehen die Beziehungen des Klägers zu diesen Personen seiner Zuweisung
nach Nordrhein-Westfalen nicht entgegen. Von ähnlich hohem Gewicht wie das
Zusammenleben in der Kleinfamilie im Sinne des § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG sind
die Beziehungen zu anderen Personen, auch zu entfernteren Angehörigen, nur
dann, wenn der jeweils betroffene Asylbewerber auf die Lebenshilfe dieser
Angehörigen in einer Art und Weise angewiesen ist, daß dies bei der
Zuweisungsentscheidung zu seinen Gunsten berücksichtigt werden muß. Dabei ist
nur eine derzeit aktuelle Angewiesenheit von Bedeutung, nicht hingegen eine
Angewiesenheit in früheren, erkennbar abgeschlossenen Lebensabschnitten, wie
sie der Kläger geltend macht.
Nach allem ist unter entsprechender Abänderung des angefochtenen Urteils die
Klage abzuweisen.
Die Kosten des gesamten Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen, weil er letztlich
unterliegt (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Revision gegen dieses Urteil ist zuzulassen, weil die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Das
Bundesverwaltungsgericht hatte bisher - soweit ersichtlich - keine Gelegenheit, zu
der Frage Stellung zu nehmen, ob und mit welchen Grenzen Sonderbeziehungen
zu anderen Personen als den in § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG genannten bei der
Zuweisung zu berücksichtigen sind. Die Rechtsfrage ist für eine Vielzahl
gleichartiger Verfahren von Bedeutung.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g :
28
29
30
31
32
Gegen diese Entscheidung steht den Beteiligten die Revision an das
Bundesverwaltungsgericht zu. Die Revision ist innerhalb eines Monats nach
Zustellung dieser Entscheidung durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer
an einer deutschen Hochschule schriftlich beim
Hessischen Verwaltungsgerichtshof
Brüder-Grimm-Platz 1
3500 Kassel
einzulegen und spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen. Die
Revision muß die angefochtene Entscheidung bezeichnen. Die
Revisionsbegründung oder die Revision muß einen bestimmten Antrag enthalten,
ferner die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die
Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.