Urteil des HessVGH vom 09.02.1990

VGH Kassel: ausweisung, psychotherapeutische behandlung, wiederholungsgefahr, straftat, unterbringung, aufenthalt, therapie, widerspruchsverfahren, rechtswidrigkeit, anhörung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
10. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 TH 63/90
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 10 Abs 1 Nr 2 AuslG, § 55
Abs 3 AuslG, Art 2 Nr 2 S 2
FreundschVtr ITA
(Ausweisung eines italienischen Staatsangehörigen)
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet, denn das Verwaltungsgericht hat dem
Antragsteller den begehrten einstweiligen Rechtsschutz zu Unrecht versagt.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgericht wird der Widerspruch des
Antragstellers gegen die Ausweisungsverfügung mindestens aller Voraussicht
nach Erfolg haben, weil die Antragsgegnerin bei der Betätigung ihres
Ausweisungsermessens von einer unzutreffenden Auslegung maßgeblicher
Rechtsgrundlagen ausgegangen ist und Tatsachen, die hätten ermittelt und
berücksichtigt werden müssen, nicht in ihre Ermessenserwägungen einbezogen
hat.
Der angegriffenen Ausweisungsverfügung liegt eine unzutreffende Auslegung des
Art. 2 Nr. 2 Satz 2 des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik -- FV -- vom 21.
November 1957 (Gesetz vom 19. August 1959, BGBl. II S. 949, in Kraft seit 19.
November 1961, BGBl. 1961 II S. 1662) zugrunde. Nach dieser
Vertragsbestimmung, die -- im Unterschied zu dem einen mehr als zehnjährigen
ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet des anderen Vertragsstaats
voraussetzenden Art. 3 Nr. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens -- ENA
-- vom 13. Dezember 1955 (Gesetz vom 30. Dezember 1959, BGBl. II S. 997) --
auf den Antragsteller gemäß § 55 Abs. 3 AuslG und § 15 Satz 2 AufenthG/EWG
anwendbar ist, dürfen italienische Staatsangehörige nach einem
ordnungsmäßigen Aufenthalt von mehr als fünf Jahren nur noch aus Gründen der
Sicherheit des Staates oder dann ausgewiesen werden, wenn die übrigen
obengenannten Gründe (der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der
Sittlichkeit) besonders schwerwiegend sind. Diese Vorschrift hat die
Antragsgegnerin in dem angegriffenen Bescheid vom 2. Januar 1989 zwar
zutreffend wiedergegeben (S. 6 dritter Absatz des Bescheids), dann aber
ausgeführt: "Diese Voraussetzungen liegen vor, da Sie aus Gründen der
öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden.".
Damit hat die Antragsgegnerin die inhaltliche Reichweite des Art. 2 Nr. 2 Satz 2 FV
verkannt und folglich ihrer Prüfung der Ausweisungsvoraussetzungen einen
unzutreffenden rechtlichen Maßstab zugrundegelegt. Denn der Antragsteller hatte
sich zum Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Ausweisungsverfügung bereits
länger als fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten und hätte deswegen
aus Gründen der öffentlichen Sicherheit -- nicht zu verwechseln mit Gründen der
Sicherheit des Staates, d. h. der Staatssicherheit im engeren Sinne -- nur dann
ausgewiesen werden dürfen, wenn besonders schwerwiegende Gründe die
Ausweisung erforderlich gemacht hätten. Davon könnte nur dann die Rede sein,
wenn eine besonders schwerwiegende Wiederholungsgefahr in bezug auf eine
gewichtige Straftat vorläge (Hess. VGH, Urteil vom 6. September 1989 -- 10 UE
1309/87 m.w.N., u. a. unter Hinweis auf Urteile des Bundesverwaltungsgerichts
vom 25. Oktober 1977 -- 1 C 31.74 --, BVerwGE 55, 8 <15>, und vom 18. August
1981 -- 1 C 23.81 --, InfAuslR 1981, 291 ff.). Danach müssen die maßgebenden
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1981 -- 1 C 23.81 --, InfAuslR 1981, 291 ff.). Danach müssen die maßgebenden
Gründe so gewichtig sein, daß die Anwesenheit des Ausländers auch bei Anlegung
strenger Maßstäbe nicht länger hingenommen werden kann. Bezüglich der
schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die
Ausweisung Asylberechtigter nach § 11 Abs. 2 AuslG hat das
Bundesverwaltungsgericht, was hier als Orientierungshilfe zu berücksichtigten ist,
die Auffassung vertreten, es müßten "gesteigerte Anforderungen an die
Einschätzung der in Zukunft vom Betroffenen ausgehenden Gefahren" gestellt
werden (BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1989 -- 1 C 46.86 --, InfAuslR 1989, 152
<153>).
Abgesehen davon, daß die Antragsgegnerin bei der Ausweisung die Notwendigkeit
des Vorliegens einer gesteigerten Wiederholungsgefahr verkannt hat, hat sie auch
keine Ermittlungen angestellt und keine Feststellungen getroffen, die bei Anlegung
des zutreffenden Gefahrenmaßstabs zur Annahme einer gesteigerten
Wiederholungsgefahr führen könnten. Denn in dem angegriffenen Bescheid wird
die Wiederholungsgefahr im wesentlichen damit begründet, daß der Antragsteller
nach einer ersten Verurteilung wegen einer Straftat gegen die sexuelle
Selbstbestimmung und Strafaussetzung zur Bewährung noch während der
Bewährungszeit erneut einschlägig straffällig geworden ist, und daß der im zweiten
Strafverfahren herangezogene Sachverständige Prof. Dr. S in seinem Gutachten
vom 29. Juni 1988 dem Antragsteller eine abnorme Sexualität bescheinigt habe,
durch die er wieder einmal die Kontrolle über sich verlieren oder zu einer neuen
ähnlichen Straftat veranlaßt werden könnte.
Bei der Würdigung des Gutachtens von Prof. Dr. S hat sich die Antragsgegnerin auf
eine verkürzte, inhaltlich aber im wesentlichen zutreffende Wiedergabe der
zusammenfassenden Äußerungen des Sachverständigen auf S. 29 f. seines
Gutachtens vom 29. Juni 1988 (Bd. II Bl. 220 f. der beigezogenen Akten ... der
Staatsanwaltschaft A) beschränkt, ohne die sehr differenzierten Ausführungen des
Sachverständigen zur Selbsteinschätzung des Antragstellers und insbesondere die
Schlußprognose auf S. 31 des Gutachtens (Bd. II Bl. 222 der vorgenannten
Beiakten) zu würdigen. Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts A hat daraus
in ihrem Urteil vom 11. Juli 1988 -- ... -- (vgl. S. 6 f. des Urteilsabdrucks, Bd. II Bl.
236 f. der vorgenannten Beiakten) bei der Erörterung von Maßregeln der
Besserung und Sicherung eine dem Antragsteller letztendlich günstige
Wiederholungsprognose hergeleitet: "Die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus gemäß § 63 StGB war nicht anzuordnen. Abgesehen davon, daß
bereits die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB nicht positiv festgestellt werden
können, ist bei dem Angeklagten nach den Ausführungen des Sachverständigen
Prof. Dr. S die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt nicht angezeigt.
Vielmehr wäre es erforderlich und ausreichend, daß sich der Angeklagte langfristig
in ambulante psychiatrische Betreuung begibt."
Schon diese günstige Wiederholungsprognose der zuständigen Strafkammer (zur
Verbindlichkeit einer strafrichterlichen Rückfallprognose für die Ausländerbehörde
vgl. Hess. VGH, Urteil vom 18. September 1989 -- 12 UE 2865/86 -- m.w.N.) hätte
die Ausländerbehörde hier unter Berücksichtigung des anzuwendenden
Wahrscheinlichkeitsmaßstabs zu prognostischen Überlegungen auch zur Frage der
Behandelbarkeit der psychischen Defekte des Antragstellers und zu Ermittlungen
hinsichtlich etwa begonnener Therapiemaßnahmen veranlassen müssen, zumal
der Antragsteller anläßlich seiner Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung durch
die Antragsgegnerin am 20. Oktober 1988 (Niederschrift bei den nicht paginierten
Beiakten der Antragsgegnerin) ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß er
schon in der JVA eine psychotherapeutische Behandlung bei Frau M aufgenommen
habe. Daß die Antragsgegnerin gleichwohl keine Ermittlungen im Hinblick auf
Stand und Erfolgsaussichten dieser Therapie aufgenommen hat, führt ebenfalls
zur Fehlerhaftigkeit der Betätigung des Ausweisungsermessens, weil der
Entscheidung ein unzureichend aufgeklärter Sachverhalt zugrunde lag.
Es ist nicht zu erwarten, daß die angegriffene Verfügung nach erforderlicher
weiterer Sachverhaltsaufklärung durch die Widerspruchsbehörde wird bestätigt
werden können. Unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens und der sich
daraus ergebenden Änderungen des Sachverhalts, die vor Abschluß des
Widerspruchsverfahrens auch bei der gerichtlichen Nachprüfung der Ausweisung
zu berücksichtigen sind (Hess. VGH, Beschluß vom 16. August 1988 -- 10 TH
220/88 --, InfAuslR 1988, 322 f.), erscheint es nahezu ausgeschlossen, daß die
Widerspruchsbehörde im Rahmen ihrer pflichtgemäßen Ausübung des
Ausweisungsermessens zu einer Bestätigung der angegriffenen Entscheidung
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Ausweisungsermessens zu einer Bestätigung der angegriffenen Entscheidung
gelangen wird.
Wie sich der vom Antragsteller im Beschwerdeverfahren vorgelegten
Stellungnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt D vom 19. Januar 1990 (Bl. 67
f. GA) entnehmen läßt, steht der Antragsteller seit Oktober 1988 unter
psychologischer Betreuung durch den Anstaltspsychologen, Herrn Z, und in
psychotherapeutischer Behandlung bei der Psychologin M, die der Antragsteller im
Beschwerdeverfahren von ihrer Schweigepflicht entbunden hat. Ob diese Therapie
erfolgversprechend ist und auch nach der Entlassung des Antragstellers aus der
Strafhaft mit der Aussicht auf eine nachhaltige Verringerung der Gefahr einer
Wiederholung der bisherigen Straftaten des Antragstellers fortgesetzt werden
kann, wird im Widerspruchsverfahren zu klären sein. Bei einer lediglich
summarischen Überprüfung im vorliegenden Beschwerdeverfahren ist angesichts
der vorgelegten Stellungnahmen allerdings davon auszugehen, daß die
erforderliche besonders schwerwiegende Wiederholungsgefahr beim Antragsteller
derzeit nicht mehr gegeben ist. Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, daß --
wie die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren zutreffend ausgeführt hat --
nicht alle vom Antragsteller vorgelegten Stellungnahmen von psychologischen
oder psychiatrischen Sachverständigen stammen oder Äußerungen solcher
Sachverständiger wiedergeben. Denn jedenfalls im Rahmen einer summarischen
Überprüfung geben auch diese Stellungnahmen Anlaß zu der Erwartung, daß die
im Verwaltungsverfahren weiter anzustellenden Ermittlungen zu einem für den
Antragsteller positiven Ergebnis führen werden.
Da die angegriffene Ausweisungsverfügung in ihrer gegenwärtigen Gestalt aus den
dargestellten Gründen offensichtlich rechtswidrig ist und nicht erwartet werden
kann, daß sie aufgrund der derzeitigen Tatsachenlage im Widerspruchsverfahren
gleichwohl bestätigt werden wird, ist der Beschwerde schon aus diesem Grunde
stattzugeben, ohne daß es auf eine Interessenabwägung ankommt. Die
Rechtswidrigkeit der angegriffenen Abschiebungsandrohung ergibt sich aus der
Rechtswidrigkeit der die Ausreisepflicht begründenden Ausweisung.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.