Urteil des HessVGH vom 02.03.1983

VGH Kassel: wiedereinsetzung in den vorigen stand, asylbewerber, verfahrenserledigung, heimat, verfügung, gesetzgebungsverfahren, asylverfahren, klagerücknahme, zustellung, einzelrichter

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
10. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 TE 108/83
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 33 S 4 AsylVfG, § 33 S 1
AsylVfG, § 33 S 2 AsylVfG
(Verfahrenserledigung nach AsylVfG § 33 - Aufforderung -
Verfahrensfortsetzung)
Gründe
I.
Der Asylantrag des Klägers vom 2. April 1980 wurde mit am 9. November 1980
zugestelltem Bescheid vom 29. September 1980 abgelehnt. Mit der hiergegen am
8. Dezember 1980 erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Asylbegehren weiter
und begründete dies mit Schriftsatz. seiner Bevollmächtigten vom 20. Januar 1981
im einzelnen. Nachdem die Bevollmächtigten das Mandat niedergelegt hatten und
dem Verwaltungsgericht auf Anfrage durch das zuständige Einwohnermeldeamt
mitgeteilt worden war, der Kläger sei noch in Alsfeld-Liederbach polizeilich
gemeldet, wurde der Kläger aufgrund einer Verfügung vom 23. August 1982
aufgefordert, "das Verfahren weiterzubetreiben". In dem Schreiben heißt es weiter:
"Er möge binnen 3 Monaten sein individuelles Verfolgungsschicksal schriftsätzlich
schildern und mitteilen, warum es ihm im gegenwärtigen Zeitpunkt unzumutbar
erscheint, in sein Heimatland zurückzukehren." Das Schreiben enthält darüber
hinaus eine Belehrung nach § 33 Satz 4 AsylVfG. Dieses Schreiben wurde dem
Kläger mit Postzustellungsurkunde durch Niederlegung bei der Postanstalt am 31.
August 1982 zugestellt.
Mit Beschluß vom 10. Januar 1983 stellte das Verwaltungsgericht fest, das
Verfahren sei erledigt (Ziffer 1), und setzte den Wert des Streitgegenstandes auf
DM 4.000,00 fest (Ziffer 2). Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger sei vom
Gericht aufgefordert worden, das Verfahren weiterzubetreiben, habe dies aber
nicht getan; damit sei das gerichtliche Verfahren erledigt.
Gegen diesen ihm am 20. Januar 1983 zugestellten Beschluß hat der inzwischen
wieder anwaltlich vertretene Kläger am 26. Januar 1983 Beschwerde eingelegt und
macht dazu geltend, er habe keinerlei Kenntnis über die Folgen "der
Nichtbefolgung des Auflagenbeschlusses vom 23. August 1982" gehabt, da er der
deutschen Sprache nicht mächtig sei. Im übrigen trägt er Einzelheiten darüber vor,
daß er zu Unrecht von der türkischen Militärpolizei verdächtigt worden sei, im Jahre
1979 einen Beamten ermordet zu haben.
Er beantragt,
ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der mit
Schreiben vom 23. August 1982 gesetzten Frist von drei Monaten zu gewähren,
und
Ziffer 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 10. Januar
1983 aufzuheben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakten und der bereits in I. Instanz beigezogenen Behördenakten der
Beklagten - Tür-S-53716 - Bezug genommen.
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II.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
1. Gemäß § 33 AsylVfG ist ein gerichtliches Verfahren nach dem
Asylverfahrensgesetz erledigt, wenn es der Kläger trotz Aufforderung des Gerichts
länger als drei Monate nicht mehr betrieben hat (Satz 1). Eines Beschlusses nach
§ 161 VwGO bedarf es hierzu nicht (Satz 2). Der Kläger trägt die Kosten des
Verfahrens (Satz 3). In der gerichtlichen Aufforderung ist der Kläger auf die nach
Satz 1 und 3 eintretenden Folgen hinzuweisen (Satz 4).
Der Gesetzgeber hat damit für das Asylverfahren einen Erledigungstatbestand
eigener Art geschaffen. Während ein verwaltungsgerichtliches Verfahren sonst nur
durch eine gerichtliche Entscheidung oder durch verfahrensbeendende
Prozeßerklärungen der Beteiligten erledigt werden kann, tritt nach § 33 AsylVfG die
Erledigung des Verfahrens kraft Gesetzes ein, wenn der Kläger das Verfahren
unter den dort bezeichneten Voraussetzungen nicht weiterbetreibt. Das bewußte
Nichtweiterbetreiben wird demnach im Ergebnis wie eine Klagerücknahme oder
eine Erledigungserklärung nach Fortfall des Rechtsschutzinteresses behandelt (so
auch: BT-Drs. 9/1630, S. 27 zu § 29; Baumüller/Brunn/Fritz/Hillmann, AsylVfG,
Anm. 1, 2, 4 zu § 33; Marx/Strate, AsylVfG, Rdnr. 1 zu § 33; Pagenkopf, NVwZ
1982, 593; Reermann, ZAR 1982, 138). Indem das Gesetz einen Beschluß nach §
161 VwGO für entbehrlich erklärt und selbst eine Kostenregelung zu Lasten des
Klägers trifft, ermöglicht es eine Verfahrensbeendigung ohne eine Entscheidung
des Gerichts über die Einstellung oder Erledigung des Verfahrens und über die
Kostentragungsverpflichtung. Dies entspricht erkennbar den im
Gesetzgebungsverfahren geäußerten Anregungen, einen gesetzlichen
Erledigungstatbestand zu schaffen, der einen Verfahrensabschluß ohne den sonst
erforderlichen Verfahrensaufwand zuläßt (vgl. dazu Stenografisches Protokoll über
die 32. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 12.
März 1982 nebst Anlagen). Zwar betrafen diese Anregungen vor allem die Fälle, in
denen der Asylbewerber während des Verfahrens in die Heimat zurückkehrt, ohne
verfahrensbeendende Erklärungen abzugeben und für Zustellungen und Anfragen
des Gerichts zur Verfügung zu stehen; Ziel dieser Überlegungen war es aber
jedenfalls, die Tätigkeit der Gerichte zu erleichtern und insbesondere eine
gerichtliche Entscheidung über den Verfahrensabschluß und deren - in der Regel
öffentliche - Zustellung zu erübrigen (a.a.O., S. 20 und Anlage 1, S. 70).
Voraussetzung für diese atypische Verfahrenserledigung sind allerdings die
gerichtliche Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, die gerichtliche Belehrung
über die Folgen eines Nichtbetreibens und schließlich das Nichtbetreiben binnen
eines Zeitraums von drei Monaten. Da die Verwaltungsgerichtsordnung und das
Asylverfahrensgesetz zwischen Gericht, Kammer, Berichterstatter und
Einzelrichter ausdrücklich unterscheiden und unter "Gericht" im allgemeinen den
jeweiligen Spruchkörper - unter Umständen also auch den Einzelrichter -
verstehen, ist auch § 33 AsylVfG in diesem Sinne auszulegen (a. A.
Baumüller/Brunn/Fritz/Hillmann, Anm. 8 zu § 33). Dafür sprechen außerdem die
Bedeutung der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, und die
einschneidenden Folgen eines Nichtbetreibens. Zweifelhaft kann indes sein, unter
welchen Umständen die Feststellung gerechtfertigt ist, ein Kläger habe das
Verfahren "nicht mehr betrieben". Da das Gesetz die vorherige gerichtliche
Aufforderung verlangt und diese etwa gegenüber einem in seine Heimat
zurückgekehrten oder "nach unbekannt" abgemeldeten Asylbewerber allenfalls bei
fortdauernder anwaltlicher Vertretung ohne Schwierigkeiten und wirksam erklärt
werden kann, werden die Voraussetzungen des § 33 AsylVfG nur vereinzelt in den
Fällen erfüllt werden können, für die diese Vorschrift ursprünglich eingeführt
werden sollte. Der Zweck der im Gesetzgebungsverfahren umfassender
formulierten Bestimmungen des § 33 AsylVfG geht aber über diesen Bereich
hinaus und erfaßt alle Verfahren, in denen ein Kläger in Streitigkeiten nach dem
Asylverfahrensgesetz durch sein Verhalten eindeutig zu erkennen gibt, daß er an
der Fortführung des Verfahrens kein Interesse mehr hat. Grundsätzlich ist es die
Aufgabe des Verwaltungsgerichts, ein gerichtliches Verfahren durch
Sachaufklärung, verfahrensfördernde Verfügungen und unter Umständen durch
eine Beweisaufnahme aufgrund mündlicher Verhandlung oder im schriftlichen
Verfahren einer Entscheidung zuzuführen. Die Beteiligten haben hierbei innerhalb
der ihnen kraft Gesetzes obliegenden und erforderlichenfalls durch gerichtliche
Anordnung konkretisierten Prozeßförderungspflichten mitzuwirken. Von einem
Asylbewerber verlangt das Asylverfahrensgesetz bei der Antragstellung und
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Asylbewerber verlangt das Asylverfahrensgesetz bei der Antragstellung und
während des behördlichen Anerkennungsverfahrens die Mitwirkung vor allem durch
persönliche Erklärungen über seine Person und seine Asylgründe (vgl. §§ 8, 9, 12,
13 AsylVfG). Für das gerichtliche Asylverfahren sind im Asylverfahrensgesetz
bestimmte Sonderregelungen dagegen nicht geschaffen und die in § 7 Abs. 4
i.V.m. § 3 des 2. AsylVBG enthaltenen Mitwirkungsverpflichtungen nicht
aufrechterhalten worden. Dennoch treffen den Asylbewerber auch im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren konkrete Mitwirkungsverpflichtungen bei der
Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere hinsichtlich seines persönlichen
Verfolgungsschicksals. Wenn er diesen nicht nachkommt, kann ihm im Einzelfall
vorgehalten werden, er betreibe sein Verfahren nicht. Hierfür genügt aber
einerseits eine nicht näher mit konkreten Einzelheiten inhaltlich bestimmte
gerichtliche Aufforderung ebensowenig wie andererseits eine bloße Erklärung des
Klägers, er wolle das Verfahren weiterbetreiben (ähnlich
Baumüller/Brunn/Fritz/Hillmann, Rdnrn. 13 ff. zu § 33).
2. Danach erweist sich die Entscheidung zu Ziffer 1) des angefochtenen
Beschlusses als fehlerhaft.
Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ist der Kläger nicht wirksam
aufgefordert worden, das Verfahren weiterzubetreiben. Die formularmäßige
Aufforderung aufgrund der Verfügung vom 23. August 1982 ist schon deswegen
prozeßrechtlich fehlerhaft und damit unwirksam, weil sie nicht von der Kammer
des Verwaltungsgerichts erlassen oder wenigstens in einem förmlichen Beschluß
von der Kammer übernommen und bestätigt worden ist; insoweit genügt der - im
übrigen nur von zwei Richtern unterzeichnete - Beschluß über die Nichtabhilfe vom
31. Januar 1983 nicht. Deswegen ist es hier unerheblich, ob die dem Kläger
zugestellte Ausfertigung des Aufforderungsschreibens erkennen ließ, daß dieses
von der zuständigen Berichterstatterin herrührte. Darüber hinaus fehlt es der
Aufforderung auch an der erforderlichen inhaltlichen Bestimmtheit. Nachdem der
Bevollmächtigte des Klägers die Asylgründe in dem vierseitigen Antragsschreiben
vom 2. April 1980 und in der elfseitigen Klagebegründung vom 20. Januar 1981
umfassend dargestellt hatte, hätte das Verwaltungsgericht zwar zusätzlich noch
bestimmte. Einzelheiten des individuellen Verfolgungsschicksals erfragen und auch
etwa die Angabe von Beweismitteln verlangen können, es bestand aber kein
Anlaß, allgemein eine schriftsätzliche Schilderung der Asylgründe anzufordern. Da
das Asylgesuch erkennbar - zulässigerweise - auch auf die Behauptung gestützt
war, der Kläger sei als Kurde Opfer einer zumindest staatlich geduldeten
Gruppenverfolgung des kurdischen Volkes geworden und fürchte sich deshalb vor
einer Rückkehr in seine Heimat, hätte er allenfalls noch nach bestimmten,
möglicherweise entscheidungserheblichen Einzelheiten aus seinem schulischen
und beruflichen Werdegang, zu den behaupteten Bedrohungen und Repressalien
und zu seiner "Flucht" befragt, nicht aber allgemein zur Schilderung seines
Verfolgungsschicksals aufgefordert werden dürfen.
Unter diesen Umständen war es nicht gerechtfertigt, nach Ablauf von drei
Monaten nach Zustellung des Schreibens vom 23. August 1982 die Erledigung des
Verfahrens festzustellen. Außerdem hätte es insoweit einer gerichtlichen
Feststellung in Form eines den Beteiligten zuzustellenden Kammer-Beschlusses
nicht bedurft.
3. Im übrigen hätte das Verwaltungsgericht die "Beschwerde" und den
"Wiedereinsetzungsantrag" des Klägers bei zutreffender Beurteilung - unter
Umständen nach einer Rückfrage bei dem anwaltlich vertretenen Kläger - als
Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens, verbunden mit einem Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (so auch Baumüller/Brunn/Fritz/Hillmann,
Anm. 12 zu § 33) auslegen und entsprechend verfahren müssen, statt dem
Verwaltungsgerichtshof die "Beschwerde" des Klägers zur Entscheidung
vorzulegen. Denn ähnlich wie bei einer nachträglichen Anfechtung einer
Klagerücknahme oder einer Erledigungserklärung besteht auch nach einer gemäß
§ 33 Satz 1 AsylVfG eingetretenen Verfahrenserledigung die Möglichkeit, das
Gericht zur Fortführung des Verfahrens und zu einer formellen Entscheidung über
die Klage zu veranlassen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.