Urteil des HessVGH vom 22.02.2006

VGH Kassel: quelle, politische verfolgung, genfer konvention, amnesty international, anerkennung, ausreise, flüchtlingshilfe, bundesamt, gefahr, abschiebung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
6. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 UE 2268/04.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16a GG, § 60 Abs 1
AufenthG, § 51 Abs 1
AuslG, § 53 AuslG, § 28
AsylVfG
Abschiebung eines syrisch-orthodoxen Christen in die
Türkei.
Leitsatz
Syrisch-orthodoxe Christen aus dem Tur Abdin unterliegen in der Türkei keiner
(mittelbaren) Gruppenverfolgung mehr.
Tenor
Die Berufungen der Kläger gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts Gießen vom
22. Januar 2003 werden zurückgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich derjenigen
des Zulassungsantragsverfahrens zu je 1/3 zu tragen; Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten
abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger zu 1) und 2) sind Geschwister, die Klägerin zu 2) ist die Mutter des
Klägers zu 3). Die Kläger sind türkische Staatsangehörige syrisch-orthodoxen
Glaubens und stammen aus der Region Tur Abdin.
Die Kläger reisten am 1. September 2001, ihren eigenen Angaben zufolge auf dem
Landweg, in das Bundesgebiet ein und beantragten am 18. September 2001 bei
dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) ihre
Anerkennung als Asylberechtigte. Zur Begründung gaben die Kläger zu 1) und 2)
im Wesentlichen übereinstimmend an, sie seien von Kurden mit Drohungen
gezwungen worden, ihnen Geld und Essen zu geben. Daraufhin seien türkische
Sicherheitskräfte gekommen und hätten sie bedroht. Die Kläger zu 1) und 3) und
der Ehemann der Klägerin zu 2) seien geschlagen worden. Einem Sohn der
Klägerin zu 2) sei das Bein gebrochen worden. Ein weiterer Sohn der Klägerin zu 2)
sei von Kurden erschlagen worden. Auch sei es ihnen verboten gewesen, ihren
abseits vom Dorf gelegenen Weinberg aufzusuchen und die Trauben zu ernten.
Der Kläger zu 1) gab ergänzend an, man habe "sie" wegen der Hilfe für die PKK-
Leute ins Gefängnis gesteckt und geschlagen.
Mit gleichlautenden Bescheiden vom 8. Oktober 2001 lehnte das Bundesamt die
Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte ab und stellte fest, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53
AuslG nicht vorlägen. Darüber hinaus wurden die Kläger unter Fristsetzung zur
Ausreise aufgefordert und ihnen wurde für den Fall der nicht fristgerechten
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Ausreise aufgefordert und ihnen wurde für den Fall der nicht fristgerechten
Ausreise die Abschiebung in die Türkei angedroht.
Daraufhin haben die Kläger am 18. Oktober 2001 bzw. 25. Oktober 2001 jeweils
Klage bei dem Verwaltungsgericht Gießen erhoben (Az.: 8 E 3415/01.A und 8 E
3464/01.A). Zur Begründung haben sie im Wesentlichen unter Berufung auf
Rechtsprechung des 12. Senats des erkennenden Gerichts geltend gemacht,
syrisch-orthodoxe Christen aus dem Tur Abdin unterlägen einer
Gruppenverfolgung und ihnen sei auch im Westen der Türkei keine inländische
Fluchtalternative eröffnet.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteilen vom 22. Januar 2003 die Klagen
abgewiesen und zur Begründung unter näherer Darlegung ausgeführt, dass nach
Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen eine landesweite
oder regionale Gruppenverfolgung von Christen in der Türkei nicht feststellbar sei.
Mit Beschlüssen vom 27. Juli 2004 hat der erkennende Senat auf Antrag der Kläger
hin die Berufungen gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts zugelassen und die
Berufungsverfahren durch Beschluss vom 22. Februar 2006 zur gemeinsamen
Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Zur Begründung der Berufung vertiefen die Kläger ihr erstinstanzliches Vorbringen
und machen geltend, an der Rechtsprechung des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs zum Vorliegen einer Gruppenverfolgung von syrisch-
orthodoxen Christen in der Türkei in den Grundsatzurteilen vom 14. August 1995
(12 UE 2496/94), 10. November 1997 (12 UE 4483/96.A) und 23. März 1998 (12
UE 2918/96.A) müsse auch unter Berücksichtigung neuerer Erkenntnisquellen
festgehalten werden.
Die Kläger beantragen,
die Urteile des Verwaltungsgerichts Gießen vom 22. Januar 2003 abzuändern und
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Oktober 2001 zu verpflichten
festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person
der Kläger vorliegen.
Die Beklagte und der Bundesbeauftragte stellen im Berufungsverfahren keinen
Antrag und äußern sich nicht zur Sache.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf
die Prozessakten der vorliegenden Verfahren, die beigezogenen Behördenakten
des Bundesamtes (je ein Hefter), sowie die Erkenntnisquellen zur Lage der syrisch-
orthodoxen Christen in der Türkei, die sich aus der nachstehend abgedruckten und
in das Verfahren eingeführten Erkenntnisliste ergeben, die sämtlich Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen sind:
11.11.2005 Quelle: AA Adressat: BMI u.a.22.09.2005 Quelle: IGFM 18.05.2005
Quelle: Schweizerische Flüchtlingshilfe 03.05.2005 Quelle: AA Adressat: BMI u.a.
03.10.2004 Quelle: Oehring, Otmar Adressat: OVG Lüneburg, 11 LB 256/02;
05.03.04 01.09.2004 Quelle: bedrohte Völker 26.08.2004 Quelle: AA Adressat: VG
Ansbach; AN 1 K 03.31902; 04.08.04 11.08.2004 Quelle: AA Adressat: VG
Chemnitz, A 2 K 1395/01; 30.06.04 09.08.2004 Quelle: Aus Politik und
Zeitgeschichte 28.06.2004 Quelle: AA Adressat: OVG Lüneburg; 11 LB 256/02;
01.03.04 24.06.2004 Quelle: ai Deutschland Adressat: OVG Lüneburg; 11 LB
256/02; 05.03.04 01.03.2004 Quelle: Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgartj
12.08.2003 Quelle: AA Adressat: BMI u.a. 21.06.2003 Quelle: Schweizerische
Flüchtlingshilfe 06.01.2003 Quelle: Oehring, Otmar Adressat: VG Kassel 6 E
2990/01.A 20.03.2002 Quelle: AA Adressat: BMI u.a. 23.02.2001 Quelle:
Forschungsstelle für türkisches Recht Adressat: VG Wiesbaden; 8 E 6679/96.A(2);
19.04.00 04.09.2000 Quelle: ai Bonn Adressat: VG Ansbach AN 17 K 97.34354
13.05.2000 Quelle: Taylan, Kamil Adressat: VG Wiesbaden; 8 E 6679/93.A(2);
13.04.00
Entscheidungsgründe
Die vom Senat zugelassene und auch sonst zulässige Berufung der Kläger ist nicht
begründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Klagen im Ergebnis zu Recht abgewiesen, da die
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Das Verwaltungsgericht hat die Klagen im Ergebnis zu Recht abgewiesen, da die
Kläger in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der
Berufungsentscheidung keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG haben.
Abgesehen von hier nicht einschlägigen Besonderheiten gelten für den
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG inhaltlich die gleichen
Voraussetzungen wie für eine Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16a
Abs. 1 GG. Danach ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
Abschiebungsschutz als Flüchtling nach der Genfer Konvention i. S. d. § 60 Abs. 1
AufenthG genießt, wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80
u.a. -, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Wer unverfolgt seinen Heimatstaat
verlassen hat, ist nur dann als Flüchtling anzuerkennen, wenn ihm aufgrund eines
beachtlichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung droht (§ 28 AsylVfG;
BVerfG, 26.11.1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51 = EZAR 200 Nr. 18;
BVerwG, 20.11.1990 - 9 C 74.90 -, BVerwGE 87, 152 = EZAR 201 Nr. 22). Eine
Verfolgung ist nach dem Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK als
politisch anzusehen, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische Überzeugung des
Betroffenen zielt (BVerfG, 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -, BVerfGE 76, 143 =
EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 17.05.1983 - 9 C 874.82 -, BVerwGE 67, 195 = EZAR
201 Nr. 5, u. 26.06.1984 - 9 C 185.83 -, BVerwGE 69, 320 = EZAR 201 Nr. 8).
Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen Charakters der
Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven
Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -,
BVerfGE 80, 315, 344 = EZAR 201 Nr. 20; zur Motivation vgl. BVerwG, 19.05.1987 -
9 C 184.86 -, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19). Werden nicht Leib, Leben oder
physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die
Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind
allerdings nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und
Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die
Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein
hinzunehmen haben (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, a.a.O., u.
01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -, a.a.O.; BVerwG, 18.02.1986 - 9 C 16.85 -,
BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7). Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist
gegeben, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände
seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei
die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der
letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren
Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, 03.12.1985 - 9 C 22.85 -, EZAR 202 Nr.
6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Die Prüfung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit
erfordert eine qualifizierende Betrachtungsweise, die neben der
Eintrittswahrscheinlichkeit auch die zeitliche Nähe des befürchteten Eingriffs
berücksichtigt (BVerwG, 14.12.1993 - 9 C 45.92 -, EZAR 200 Nr. 30). Einem
Schutzsuchenden, der bereits einmal politisch verfolgt war, kann eine Rückkehr in
seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von
Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist
(BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, a.a.O.; BVerwG, 25.09.1984 - 9 C 17.84
-, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12 m.w.N.).
Der Schutzsuchende ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen
Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus umfassend die in seine eigene Sphäre
fallenden Ereignisse substantiiert und in sich schlüssig zu schildern sowie
eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien
nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den
Anspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, 08.05.1984 - 9 C 141.83 -, EZAR 630 Nr.
13 = NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 - 9 C 27.85 -, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986,
79, u. 23.02.1988 - 9 C 32.87 -, EZAR 630 Nr. 25), und insbesondere auch den
politischen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG,
22.03.1983 - 9 C 68.81 -, Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 - 9
C 473.82 -, EZAR 630 Nr. 8 = ZfSH/SGB 1984, 281). Bei der Darstellung der
allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt es dagegen, dass die
vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer
Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982 - 9 C 74.81 -, BVerwGE 66, 237 = EZAR
630 Nr. 1). Die Gefahr einer Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden,
wenn sich das Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des
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wenn sich das Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des
behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei allerdings der
sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat bei der
Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise
angemessen zu berücksichtigen ist (BVerwG, 12.11.1985 - 9 C 27.85 -, a.a.O.).
Der Senat lässt dahin stehen, ob die Kläger zum Zeitpunkt ihrer Ausreise
politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Eine individuelle
Vorverfolgung vermag der Senat auf Grund der inhaltlich und zeitlich unpräzisen
und teilweise nicht einmal konkret auf die eigene Person bezogenen Angaben der
Kläger nicht zu erkennen. Es kann in diesem Zusammenhang dahinstehen,
inwieweit Übergriffe kurdischer Mitbewohner oder gar PKK-Kämpfer überhaupt dem
türkischen Staat zurechenbar wären.
Ob zum Zeitpunkt der Ausreise der Kläger im August 2001 im Anschluss an die
Grundsatzurteile des 12. Senats des erkennenden Gerichts (Urteil vom 14.08.1995
- 12 UE 2496/94.A -; Urteil vom 10.11.1997 - 12 UE 4483/96.A -; Urteil vom
23.03.1998 - 12 UE 2918/96.A -) noch von einer (mittelbaren) Gruppenverfolgung
der syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin ausgegangen werden konnte,
erscheint dem Senat nicht zweifelsfrei, kann aber offen bleiben.
Anhand der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen kann festgestellt
werden, dass sich die Situation für syrisch-orthodoxe Christen im Tur Abdin derart
entspannt und stabilisiert hat, dass sie dort nunmehr vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher sind. Im Einzelnen gilt folgendes:
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass für syrisch-orthodoxe Christen im Tur
Abdin das "religiöse Existenzminimum" gewährleistet ist. Die im Tur Abdin
verbliebenen oder dorthin zurückkehrenden Christen können ungehindert ihrem
Glauben nachgehen (AA an OVG Lüneburg vom 28.06.2004; Oehring an OVG
Lüneburg vom 03.10.2004).
Auch im Übrigen bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass syrisch-orthodoxe
Christen zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Tur Abdin unmittelbaren
Verfolgungsmaßnahmen seitens der türkischen Behörden ausgesetzt sein
könnten. Wenn in der Vergangenheit, so wie dies im klägerischen Vortrag anklingt,
der türkische Staat mitunter auch gegen Christen vorgegangen ist, weil er sie
möglicherweise verdächtigt hat, mit den kurdischen PKK-Kämpfern gemeinsame
Sache zu machen, so ist der Anlass für solche Maßnahmen jedenfalls entfallen,
nachdem die bewaffneten Auseinandersetzungen mit der PKK in den letzten Jahren
insgesamt und insbesondere auch in der Heimatregion der Kläger stark abgeflaut
sind und ein vergleichbar wahlloses und undifferenziertes Vorgehen der türkischen
Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung, wie es noch Mitte und am Ende der
90er Jahre zu verzeichnen war, nicht mehr stattfindet (vgl. hierzu: Lagebericht AA
vom 11.11.2005, S. 14 bis 18).
Es kann auch nicht (mehr) von einer sog. mittelbaren staatlichen
Gruppenverfolgung ausgegangen werden, dergestalt, dass der türkische Staat
Übergriffe von Privatpersonen, namentlich kurdischen Mitbewohnern, tatenlos
hinnehmen und hiergegen grundsätzlich keinen Schutz gewähren würde.
Vielmehr hat sich die Sicherheitslage der syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin
nachhaltig verbessert. In seiner Stellungnahme vom 28. Juni 2004 an das OVG
Lüneburg weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass es nach Angaben von im Tur
Abdin lebenden Christen seit mehreren Jahren keine religiös motivierten Übergriffe
von Muslimen gegen christliche Bewohner in den Städten oder Dörfern dieser
Region oder deren Eigentum mehr gegeben habe. Die im Tur Abdin verbliebenen
Christen könnten sowohl in den ländlichen Gebieten als auch in den Städten
ungehindert ihrem Glauben und auf individueller Basis einer Erwerbstätigkeit
nachgehen. Im gesamten Gebiet des Tur Abdin leben ca. 2200 Christen. Nach den
Ausführungen des Erzbischofs von Deyrülzafran gibt es in den Regionen Midyat
und Mardin derzeit sechs "aktive" Klöster. Weiter heißt es dort, seit drei bis fünf
Jahren gebe es keine Probleme mehr mit der muslimischen Bevölkerung. Die
politischen Verhältnisse veränderten sich immer mehr zum Besseren, der
Gouverneur von Mardin sei sogar in den die Christen betreffenden
Angelegenheiten sehr hilfsbereit. Als Beispiel zurückkehrender Christen in den Tur
Abdin könne ein Rückkehrprojekt in dem Dorf Kafro/Kreis Midyat angesehen
werden. Es handele sich um ein seinerzeit von Christen verlassenes Dorf, welches
von aus Europa zurückkehrenden ehemaligen Bewohnern wieder aufgebaut
werden solle. Der zu diesem Zweck gegründete Entwicklungsverein Kafro mit Sitz
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werden solle. Der zu diesem Zweck gegründete Entwicklungsverein Kafro mit Sitz
in der Schweiz habe sich zum Ziel gesetzt, verlassene Dörfer wieder neu zu
errichten. Bis Sommer 2005 solle das für 14 Familien geplante Rückkehrprojekt
endgültig abgeschlossen sein. Auch Oehring berichtet in seiner Stellungnahme
vom 3. Oktober 2004 an das OVG Lüneburg davon, dass in den letzten Jahren
immer wieder Christen auch in den Südosten der Türkei zurückgekehrt sind, etwa
in das Dorf Medin. Er führt weiter aus, dass türkische Behörden diese Rückkehr
sogar aktiv unterstützen, indem sie die widerrechtliche Inbesitznahme von
Grundeigentum durch kurdische Mitbewohner zwangsweise beenden. So hätten
türkische Streitkräfte das Dorf Sariköy/Kreis Idil, welches Ende der 90er Jahre von
kurdischstämmigen ehemaligen Dorfschützern und ihren Familienangehörigen in
Besitz genommen worden war, geräumt.
Demgegenüber wird nur noch ganz vereinzelt von Übergriffen von im Tur Abdin
lebenden Kurden gegenüber syrisch-orthodoxen Christen berichtet. Amnesty
International erwähnt in seiner Stellungnahme vom 24. Juli 2004 an das OVG
Lüneburg einen Vorfall, bei dem ein in das Dorf Kafro zurückgekehrter syrisch-
orthodoxer Christ im April 2003 während der Herrichtung seines Elternhauses von
Kurden angegriffen und verletzt worden sei. Er habe seinerseits zwei Angreifer
verletzt, ein strafrechtliches Verfahren sei jedoch nur gegen ihn eingeleitet worden.
Nach einem Bericht der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte vom 22.
September 2005 wurde auf das Fahrzeug eines syrianischen Dekans, der mit
weiteren syrisch-orthodoxen Christen unterwegs war, ein Anschlag durch eine
ferngesteuerte Landmine verübt, bei dem die Insassen leicht verletzt wurden.
Seitens der zuständigen Gendarmerie wurden Ermittlungen aufgenommen. Die
Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in ihrer Dokumentation vom 18. Mai 2005
ohne nähere Spezifizierung und Mitteilung näherer Umstände von Angriffen auf
Rückkehrer durch Dorfschützer. In den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom
3. Mai 2005 und 11. November 2005 wird schließlich ausgeführt, es sei in den
letzten zwei bis drei Jahren vereinzelt zu Übergriffen der muslimischen kurdischen
Bevölkerung gegenüber syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei
gekommen, es sei dabei aber - soweit bekannt - um Streitigkeiten wegen
Besitzfragen und Weiderechten gegangen, die andernorts in gleicher Weise
zwischen Muslimen im Zusammenhang mit der Rückkehr in die Dörfer vorkämen,
die Religionszugehörigkeit spiele dabei keine ausschlaggebende Rolle.
Insgesamt ist damit festzustellen, dass die Situation der syrisch-orthodoxen
Christen im Tur Abdin im Ganzen als weitgehend sicher angesehen werden kann.
Die nur noch vereinzelt vorkommenden Übergriffe können zudem dem türkischen
Staat nicht mehr zugerechnet werden. Es fehlt an Hinweisen, dass die türkischen
Behörden - wie noch in den 90er Jahren - bei Übergriffen gegen syrisch-orthodoxe
Christen grundsätzlich nicht einschreiten. Vielmehr leisten sie im Rahmen des
Möglichen durchaus wirksamen Schutz. So berichtet Oehring in seiner
Stellungnahme vom 3. Oktober 2004 an das OVG Lüneburg, in Dörfern mit
örtlicher Präsenz der Gendarmerie bzw. des Militärs könnten Christen ihren
landwirtschaftlichen Besitz ungestört bestellen und müssten nicht mit Übergriffen
der muslimischen Kurden rechnen. Komme es gleichwohl zu Übergriffen, gewähre
der türkische Staat durchaus Schutz. Es versteht sich von selbst, dass derartige
Taten nicht vollständig ausgeschlossen werden können und der türkische Staat
nicht in der Lage sein kann, hiergegen einen lückenlosen Schutz zu gewährleisten,
dies kann jedoch der Annahme der grundsätzlichen Schutzwilligkeit nicht
entgegenstehen. Auch zeigen verschiedene Beispiele, dass zurückkehrenden
syrisch-orthodoxen Christen sogar bei der Wiedererlangung ihres Eigentums
geholfen wird, wie bereits dargestellt wurde.
Nach alledem fehlt es für die Annahme einer fortbestehenden mittelbaren
Gruppenverfolgung sowohl an einer hinreichenden Verfolgungsdichte als auch an
einer Zurechenbarkeit der nur noch vereinzelt stattfindenden Übergriffe
gegenüber dem türkischen Staat. Diese Beurteilung steht auch im Einklang mit
der jüngeren Rechtsprechung anderer Obergerichte (OVG Bremen, Urteil vom
21.02.2001 - 2 A 291/99.A -; OVG Schleswig, Urteil vom 29.04.2004 - 4 LB 101/02 -
; OVG Lüneburg, Urteil vom 21.06.2005 - 11 LB 256/02 -; VGH Mannheim - A 12 S
603/05 -).
Auf das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative im Westen der Türkei, sei es
unter dem Gesichtspunkt des religiösen Existenzminimums oder einer
wirtschaftlichen Existenzmöglichkeit, kommt es mithin nicht an.
Die Kläger haben auch aus individuellen Gründen bei einer Rückkehr in die Türkei
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Die Kläger haben auch aus individuellen Gründen bei einer Rückkehr in die Türkei
keine Verfolgung zu befürchten. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, inwiefern
ihre Situation anders zu beurteilen sein sollte, als diejenige anderer
zurückkehrender syrisch-orthodoxer Christen. Soweit für den Kläger zu 3)
verfolgungsrelevante Nachteile im Zusammenhang mit der noch ausstehenden
Ableistung seines Wehrdienstes befürchtet werden, kann dem nicht gefolgt
werden. Das Auswärtige Amt legt in seiner Auskunft an das Verwaltungsgericht
Ansbach vom 26. August 2004 im Einzelnen dar, dass in der Behandlung
türkischer Wehrpflichtiger keine Unterschiede, insbesondere nicht nach ethnischer
Herkunft oder religiöser Orientierung gemacht werden. Es liegen danach keine
Erkenntnisse über eine prinzipielle Benachteiligung christlicher Soldaten ihres
Glaubens wegen vor. Weiter wird ausgeführt, dass zwar in allen Armeen
vorkommende Übergriffe durch Kameraden und Vorgesetzte nicht auszuschließen
sind, nach allen vorliegenden Erkenntnissen derartige Vorkommnisse aber
personenbezogen auftreten, also unabhängig von dem religiösen Bekenntnis des
Betroffenen. Im Hinblick auf die bekanntermaßen strenge und konsequente
Ausübung der Dienstaufsicht und Aufrechterhaltung der Disziplin in den türkischen
Streitkräften ist nach den Darlegungen des Auswärtigen Amtes nicht davon
auszugehen, dass Übergriffe unter Kameraden die Duldung ihrer Vorgesetzten
finden. Erhebliche Übergriffe sind seit längerer Zeit dem Auswärtigen Amt nicht
mehr bekannt geworden, insbesondere auch nicht die in früheren Jahren häufig
vorkommenden Zwangsbeschneidungen von Wehrpflichtigen christlichen
Glaubens. Auf Grund dieser Erkenntnislage bestehen keine Anhaltspunkte dafür,
dass der Kläger zu 3) bei der Ableistung seines Wehrdienstes eine Behandlung zu
gegenwärtigen hat, die nach Art, Schwere und Zielgerichtetheit die Schwelle einer
politischen Verfolgung erreichen könnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO
und § 711 Satz 1 ZPO i. V. m. § 167 VwGO.
Gründe für die Zulassung der Revision i. S. v. § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
Sonstiger Langtext
Rechtsmittelbelehrung
Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde innerhalb eines Monats
nach Zustellung dieser Entscheidung angefochten werden. Die Beschwerde ist
beim
Hessischen Verwaltungsgerichtshof, Brüder-Grimm-Platz 1, 34117 Kassel
durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule
im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt
einzulegen; juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können
sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie
Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte
oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen
Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes,
dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. Die Beschwerde muss die
Entscheidung bezeichnen, die angefochten werden soll.
Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung dieser
Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Hessischen
Verwaltungsgerichtshof einzureichen. In der Begründung muss entweder
- die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden oder
- die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der
obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts
bezeichnet werden, wenn geltend gemacht wird, von ihr werde in der in dem
vorliegenden Verfahren ergangenen Entscheidung abgewichen und die
Entscheidung beruhe auf dieser Abweichung, oder
- ein Verfahrensmangel bezeichnet werden, auf dem die Entscheidung beruhen
kann.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.