Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 29.03.2017

OVG Berlin-Brandenburg: blindheit, heimbewohner, umwelt, aufwand, verordnung, pflege, eingliederung, anteil, sammlung, quelle

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 6.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 6 N 36.08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 124 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 124
Abs 2 Nr 3 VwGO, § 124a Abs 4
S 4 VwGO, § 13 Abs 2
FahrDVorhV BE, § 1 Abs 1
PflGG BE
Eigenbeteiligung bei der Nutzung eines besonderen
Fahrdienstes (hier: Telebus in Berlin) für Blindenpflegegeld
beziehende Heimbewohner
Leitsatz
Es verstößt nicht gegen das Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen nach Artikel 3
Abs. 3 Satz 2 GG bzw. nach Artikel 11 Satz 1 VvB, dass Heimbewohner, die zugleich
Blindenpflegegeld nach landesrechtlichen Vorschriften beziehen und nur deswegen den
Barbetrag nach § 35 Abs. 2 SGB XII nicht erhalten, nicht von der Eigenbeteiligung für die
Nutzug des besonderen Fahrdienstes (Telebus) befreit sind, während Heimbewohner, die den
Barbetrag nach § 35 Abs. 2 SGB XII beziehen, keine Eigenbeteiligung aufzubringen haben.
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. Februar 2008 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
Gründe
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 20. Februar 2008 die Klage abgewiesen, mit
der die Klägerin sich gegen mehrere Bescheide wendet, mit denen ihr die Berechtigung
zur Nutzung des besonderen Fahrdienstes für behinderte Menschen (sog. Telebus)
entzogen wurde, weil sie die insoweit vorgesehene Eigenbeteiligung nicht gezahlt hatte,
und außerdem ihr Antrag auf Befreiung von der Eigenbeteiligung abgelehnt wurde. Sie
vertritt die Auffassung, nicht zur Zahlung einer Eigenbeteiligung verpflichtet zu sein.
Der gegen das Urteil gerichtete und auf die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO
gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Klägerin zeigt mit ihren Darlegungen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit
des angegriffenen Urteils auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ernstliche Richtigkeitszweifel
bestehen dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche
Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen
Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 -
1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, S. 1163, 1164) und nicht nur die Begründung, sondern auch
die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung Zweifeln unterliegt. Das ist hier nicht
der Fall.
Zu Recht ist das Verwaltungsgericht im Ergebnis davon ausgegangen, dass eine
rechtswidrige Ungleichbehandlung der Klägerin gegenüber anderen Heimbewohnern
nicht vorliegt. Zwar ist die Klägerin von der Eigenbeteiligung des besonderen
Fahrdienstes letztlich nur deshalb nicht gemäß § 13 Abs. 2 der Verordnung über die
Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes vom 31. Juli 2001 (GVBl. S. 322), zuletzt
geändert durch Verordnung vom 22. Juni 2005 (GVBl., S. 342) - VOVbF - befreit, weil sie
Blindenpflegegeld nach dem Landespflegegeldgesetz bezieht und damit den Anspruch
auf den Barbetrag nach § 35 Abs. 2 SGB XII einbüßt (§ 72 Abs. 4 Satz 1 und 3 SGB XII).
Hierin liegt jedoch weder ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Artikels 11
Satz 1 VvB bzw. des Artikels 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz in Artikel 3 Abs. 1 GG bzw. Artikel 10 Abs. 1 VvB. Das in Artikel 3 Abs. 3
Satz 2 GG bzw. Artikel 11 Satz 1 VvB festgelegte Verbot, Behinderte zu benachteiligen
soll den Schutz des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Artikel 3 Abs. 1 GG bzw. Artikel
10 Abs. 1 VvB für bestimmte Personengruppen dahingehend verstärken, dass der
staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vorgegeben werden, als die Behinderung
nicht als Anknüpfungspunkt für eine - benachteiligende - Ungleichbehandlung dienen
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nicht als Anknüpfungspunkt für eine - benachteiligende - Ungleichbehandlung dienen
darf (BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 1 BvR 9/97 -, BVerfGE 96, 288 ff.). Der
allgemeine Gleichheitssatz des Artikels 3 Abs. 1 GG bzw. des Artikels 10 Abs. 1 VvB
verbietet es, dass eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen
Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche
Behandlung rechtfertigen könnten (BVerfG, Urteil vom 17. November 1992 - 1 BvL 8/87 -
, BVerfGE 87, 234). Daran gemessen liegt hier keine Benachteiligung oder sachlich nicht
gerechtfertigte Ungleichbehandlung vor.
Anknüpfungspunkt der VOVbF für die Heranziehung der Klägerin zur Eigenbeteiligung bei
der Nutzung des besonderen Fahrdienstes ist nicht ihre Blindheit, sondern der Bezug
des Blindenpflegegeldes. Dies stellt einen hinreichend gewichtigen sachlichen
Anknüpfungspunkt für die Ungleichbehandlung gegenüber solchen Heimbewohnern dar,
die den Barbetrag nach § 35 Abs. 2 SGB XII erhalten. Denn das Blindenpflegegeld in der
von der Klägerin bezogenen Höhe (234,00 Euro) übersteigt den Barbetrag nach § 35
Abs. 2 SGB XII von 89,50 Euro um 144,50 Euro. Der Klägerin stehen damit deutlich mehr
Mittel zur Verfügung als Heimbewohnern, die lediglich den Barbetrag nach § 35 Abs. 2
SGB XII erhalten. Dies rechtfertigt es, auch im Lichte des verfassungsrechtlich
verbürgten Benachteiligungsverbotes wie des allgemeinen Gleichheitssatzes der
Klägerin - wie allen anderen Heimbewohnern, die den Barbetrag nicht erhalten - die in §
13 Abs. 2 Satz 2 und 3 VOVbF vorgesehene Eigenbeteiligung abzuverlangen.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, die Klägerin sei gehindert, das Blindengeld
zweckentsprechend zu verwenden, wenn sie es für die Eigenbeteiligung zur Benutzung
des besonderen Fahrdienstes aufwenden müsse. Das der Klägerin nach § 1 Abs. 1 des
Landespflegegeldgesetzes gewährte Blindenpflegegeld dient - ebenso wie die
Blindenhilfe nach § 72 SGB XII - dem Ausgleich der durch die Blindheit bedingten
Mehraufwendungen. Unter Mehraufwendungen in diesem Sinne ist in erster Linie der
finanzielle Aufwand zu verstehen, den die durch die Blindheit hervorgerufene Pflege
verursacht. Dazu gehört allerdings auch der finanzielle Aufwand, der nicht unmittelbar
durch die eigentliche Pflege entsteht, der aber gleichfalls auf die Blindheit
zurückzuführen ist, z.B. besondere und zusätzliche Kleidung, Blindenschriften oder
Blindenliteratur, soweit diese Mittel nicht bereits der Eingliederung des Blinden in das
gesellschaftliche Leben dienen (VGH Mannheim, Urteil vom 20. Februar 1998 - 6 S
1090/96 -, Rn. 28 bei juris m.w.N. zum zweckgleichen § 1 Abs. 1 des Baden-
Württembergischen Landesblindenhilfegesetzes).Dem Blinden soll dadurch die
Möglichkeit eröffnet werden, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu
machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben
teilzunehmen (BVerwG, Urteil vom 14. Mai 1969 - V C 167.67 -, Rn. 18 bei juris). Das
Blindenpflegegeld dient damit jedenfalls auch der Förderung der Mobilität der
Betroffenen, da Kontakt zur Umwelt und Teilnahme am kulturellen Leben typischerweise
durch Besuche von Veranstaltungen oder bei Personen erfolgt. Dabei liegt die Annahme
nahe, dass der Blinde durchaus häufiger etwa Aufwendungen für Taxifahrten zu tätigen
haben wird, um ein mit einem Sehenden annähernd vergleichbares Maß an Mobilität zu
erreichen. Die hier in Rede stehende Nutzung des besonderen Fahrdienstes ist mit der
Nutzung eines Taxis vergleichbar. Diese Annahme rechtfertigt sich einerseits aus dem
Umstand, dass die Eigenbeteiligung der Höhe nach beim durchschnittlichen Benutzer
ein Ausmaß erreicht, das den finanziellen Aufwand für gelegentliche Taxifahrten nicht
übersteigt: Für Bezieher von Sozialleistungen beträgt die Eigenbeteiligung für die ersten
acht Fahrten 1,53 Euro je Fahrt, für die nächsten acht Fahrten sind 3,50 Euro je Fahrt zu
entrichten und ab der 17. Fahrt beträgt die Eigenbeteiligung 7,00 Euro. Zum anderen
erscheint die Vergleichbarkeit mit Taxifahrten, die den Kontakt zur Umwelt und der
Teilnahme am kulturellen Leben dienen, gerechtfertigt, weil die Eigenbeteiligung letztlich
ausschließlich für Freizeitfahrten in Rede steht, denn für Arzt-, Rehabilitations- und
Arbeitsfahrten besteht die Möglichkeit der Erstattung der Fahrtkosten durch andere
Kostenträger.
Dass die Klägerin mitunter einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Blindenpflegegeldes für
den besonderen Fahrdienst einsetzt, rechtfertigt keine andere Einschätzung. Zwar
verfolgt das Blindenpflegegeld neben der Mobilitätsförderung auch andere Zwecke, die
die Klägerin aufgrund der in manchen Monaten relativ hohen Aufwendungen für den
Fahrdienst nicht mehr in gleichem Maße verfolgen kann. Es obliegt jedoch der freien
Entscheidung des Blindenpflegegeldempfängers, in welchem Umfang und zu welchen
der verschiedenen Zwecke er das als Pauschale gewährte Geld verwendet. Der
Leistungsempfänger hat es damit selbst in der Hand, die Zwecke, zu denen er das Geld
verwenden will, zu bestimmen. Im Übrigen verbleibt der Klägerin auch bei
Berücksichtigung der Eigenbeteiligung regelmäßig noch immer ein Anteil ihres
Blindenpflegegeldes, der deutlich über dem Barbetrag des § 35 Abs. 2 SGB XII liegt. Sie
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Blindenpflegegeldes, der deutlich über dem Barbetrag des § 35 Abs. 2 SGB XII liegt. Sie
hatte etwa im Juli 2005 40,24 Euro, im September 2005 6,12 Euro, im April 2006 68,50
Euro, im Mai 2006 41,74 Euro und im Mai 2006 10,65 Euro für die Eigenbeteiligung des
besonderen Fahrdienstes aufzuwenden (Bl. 15 und 91 R der Streitakte soweit Bl. 5 der
„Prozesshandakten 900 K 06“).
Sollte sich gleichwohl im Einzelfall herausstellen, dass die Grenzen der zumutbaren
Eigenbeteiligung aufgrund besonderer Umstände überschritten sind, steht es dem
Betroffenen frei, sich deswegen an die gemäß § 13 Abs. 10 der VOVbF für Härtefälle
zuständige Stelle zu wenden.
2. Auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
kann sich die Klägerin ebenfalls nicht berufen. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer
Rechtssache zu, wenn sie eine für das erstrebte Rechtsmittelverfahren erhebliche
Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit oder Fortbildung des Rechts
obergerichtlicher Klärung bedarf (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Oktober
2005 - OVG 5 N 45.05 -, Rn. 16 bei juris). Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung
ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eine solche bestimmte ungeklärte und
entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage zu formulieren. Weiter ist die
Entscheidungserheblichkeit der betreffenden Frage im Berufungsverfahren aufzuzeigen
sowie anzugeben, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung
bestehen soll. Es ist darzulegen, in welchem Sinne und aus welchen Gründen die
Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig ist (OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. Juli
2006 - 5 LA 347/04 - zum gleichlautenden § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG, Rn. 5 bei juris
m.w.N.).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob es den
Darlegungsanforderungen genügt, wenn - wie hier - im Zulassungsantrag keine Rechts-
oder Tatsachenfrage ausdrücklich formuliert wird, sondern lediglich die Frage des
„Anwendungsbereichs und damit der Verfassungsmäßigkeit“ einer Regelung (hier des §
13 Abs. 2 VOVbF) aufgeworfen wird. Jedenfalls bedarf es zur Klärung der insoweit
zumindest sinngemäß gestellten Frage, ob § 13 Abs. 2 VOVbF auch Heimbewohner
erfasst, die Blindenpflegegeld und deswegen keinen Barbetrag nach § 35 Abs. 2 SGB XII
erhalten, nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens. Die Frage lässt sich aus
den unter 1. dargelegten Gründen vielmehr ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß
§ 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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