Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 14.03.2017

OVG Berlin-Brandenburg: grundstück, treu und glauben, aufschiebende wirkung, bauarbeiten, neubau, verwirkung, hof, ausnahme, versicherung, baustelle

1
Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 10.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 10 S 5.10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 70 VwGO, § 58 Abs 2 VwGO, §
71 Abs 2 S 1 BauO BE, § 212a
BauGB
Möglichkeit der Kenntnisnahme von Bautätigkeit auf
Nachbargrundstück, die die Mitwirkungs- und
Erkundigungspflicht auslöst, wird nicht durch die nur vom
eigenen Grundstück aus gegebenen Möglichkeiten beschränkt
Leitsatz
1. Die Erkennbarkeit der mit einem Widerspruch gegen ein Bauvorhaben binnen Jahresfrist (§
58 Abs. 2 VwGO) geltend zu machenden Beeinträchtigungen durch den Grundstücksnachbarn
muss nicht von dessen Grundstück aus gegeben sein.
2. Bei mangelnder Einsehbarkeit des angrenzenden Baugrundstücks vom Nachbargrundstück
aus kann in besonderen städtebaulichen Situationen auch ein nur vom Straßenraum aus
sichtbarer Turmdrehkran als Hinweis auf eine umfangreiche Bautätigkeit auf dem
Nachbargrundstück genügen, um die Mitwirkungs- und Erkundigungspflicht des Nachbarn
auszulösen. Diese ist in solchen Fällen nicht nur auf den eigenen Straßenzug beschränkt
Tenor
Auf die Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 2. wird der Beschluss
des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. Februar 2010 mit Ausnahme der
Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der
Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 14. April 2005 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens mit Ausnahme der
,
Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Antragstellerin und die Beigeladene zu 1.
bis zur Rücknahme der Beschwerde durch die Beigeladene zu 1. je zur Hälfte. Im Übrigen
trägt die Antragstellerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 3 750 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks G. in Berlin-Pankow. Dieses liegt in
dem Baublock zwischen G. und …, der Teil des Sanierungsgebietes P. ist. Soweit nicht
die teilweisen Kriegszerstörungen Baulücken und Gebäudetorsos hinterlassen haben,
weisen die dortigen Grundstücke eine gründerzeitliche Blockrandbebauung auf, die
jeweils aus einem Vorderhaus, Seitenflügeln und einem Quergebäude sowie teilweise
sogar einem weiteren Quergebäude mit Seitenflügeln besteht. Die hintereinander
liegenden Innenhöfe reichen in diesen Fällen bis in den Blockinnenbereich, und die
Grundstücke grenzen insbesondere in „Ecklagen“ an zahlreiche andere
Nachbargrundstücke an. Die Bebauung auf dem Grundstück der Antragstellerin folgt
diesem Muster und weist zwei Quergebäude mit zwei Innenhöfen auf. Die Antragstellerin
betreibt in dem ersten Quergebäude und den T-förmig von diesem abgehenden ersten
und zweiten Seitenflügeln einen Jugendclub („K.“), in dem sie einen Diskothekenbetrieb
unterhält und auch regelmäßig Musikveranstaltungen anbietet. Da zu dem nordöstlich
angrenzenden Nachbargrundstück G. die Anschlussbebauung im Bereich der früheren
Seitenflügel fehlt, besteht vom Grundstück der Antragstellerin aus weitgehend freie Sicht
auf die dortige Baulücke, während die anderen drei südlich, südwestlich und westlich
angrenzenden Nachbargrundstücke aufgrund der vorgenannten baulichen Situation von
dem Grundstück der Antragstellerin aus nicht einsehbar sind. Gegen die geplante
Bebauung des nordöstlichen Nachbargrundstücks mit Wohngebäuden hat sich die
2
3
4
5
6
7
Bebauung des nordöstlichen Nachbargrundstücks mit Wohngebäuden hat sich die
Antragstellerin im Jahr 2005 umgehend - und im Ergebnis mit Erfolg - in einem
Klageverfahren (VG 13 A 70.05) gewandt, weil sie im Falle einer heranrückenden
Wohnbebauung nachfolgende Beschwerden wegen Lärmbelästigungen bis hin zu
Einschränkungen ihres Geschäftsbetriebs befürchtete.
Im vorliegenden Verfahren wehrt sich die Antragstellerin gegen eine bereits
„herangerückte“ Wohnbebauung, denn an die fensterlosen Brandwände ihres zweiten
Quergebäudes und des zugehörigen zweiten Seitenflügels ist auf dem südwestlich
angrenzenden Grundstück H. ein fünfgeschossiger Neubau mit zehn
Eigentumswohnungen angebaut worden. Für den Neubau an den Brandwänden der
Antragstellerin ist auf dem Baugrundstück das ehemalige Quergebäude nebst
Seitenflügel abgerissen worden.
Die Bauarbeiten dauerten von Anfang Oktober 2007 bis Ende September 2008. Nach
dem Einzug der Wohnungseigentümer ab November 2008 kam es zu ersten
Lärmbeschwerden wegen nächtlicher Ruhestörungen. Die Wohnungseigentümer
beklagten vor allem die Vibrationen durch die Bässe der Musik aus dem „K.-Club“. Auf
die Lärmbeschwerden hat das bezirkliche Ordnungsamt die Antragstellerin mit
Schreiben vom 27. November 2008 hingewiesen. Nach deren Angaben (vgl.
eidesstattliche Versicherungen Bl. 354 bis 356 d.A.) sei sie hierdurch erstmals auf den
erfolgten rückwärtigen Anbau und die sich daraus ergebende Lärmproblematik
aufmerksam geworden. Nach Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens teilte die
Antragstellerin ihrem Verfahrensbevollmächtigten mit E-Mail vom 27. Januar 2009 unter
dem Betreff: „NEUBAU direkt an die K. Hauswand“ Folgendes mit: „…unfassbarer
Schwachsinn, den wir leider echt nicht bemerkt haben.“
Gegen die Baugenehmigung vom 14. April 2005 hat die Antragstellerin mit dem am 1.
September 2009 eingegangenen Schreiben vom 29. August 2009 Widerspruch
„bezüglich des Neubaus im Quergebäude“ eingelegt und mit dem am 6. Oktober 2009
eingegangenen Schreiben vom 21. September 2009 klargestellt, dass sich der
Widerspruch gegen den „gesamten Neubau(s) im Hinterhof des Gebäudes H.
(Seitenflügel und Quergebäude)“ richte.
Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des
Widerspruchs gegen die Baugenehmigung vom 14. April 2005 mit Beschluss vom 12.
Februar 2010 stattgegeben. Es hat die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage der
Verwirkung des Widerspruchsrechts verneint und die Stattgabe auf einen Verstoß gegen
das Rücksichtnahmegebot durch die heranrückende Wohnbebauung gestützt. Hiergegen
richten sich die Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 2. Die
Beigeladene zu 1. hat ihre Beschwerde mit Schriftsatz vom 17. März 2010
zurückgenommen.
Die Beigeladene zu 2. trägt mit der Beschwerde vor, dass mit Beginn der
Baumaßnahmen im Oktober 2007 vor dem Haus H. eine mehrere Meter breite, vom
Bürgersteig bis über die Parkhäfen auf der Straße reichende Baustelle mit Bauzaun
eingerichtet worden sei. Nach den vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren
eingereichten Sondernutzungsgenehmigungen vom 25. Oktober 2007 und vom 22. Mai
2008 sei hierfür eine Fläche von 74 m² Straßenraum für etwa sechs Monate in Anspruch
genommen worden. Darüber hinaus trägt die Beigeladene zu 2. erstmals vor, dass über
einen Zeitraum von fünfeinhalb Monaten ein hoher Baukran auf dem Baugrundstück
zum Einsatz gekommen sei, der sämtliche Gebäude in der Umgebung überragt haben
müsse. Mit diesem seien die angelieferten Bauteile von der Baustelleneinrichtung auf
der Straße über das Vorderhaus H. in den Innenhof gehoben worden. Aufgrund der Höhe
des Baukrans, die die Beigeladene zu 2. unter Beifügung einer Skizze des
Kranherstellers P. für das Modell MC 85 B mit einer Gesamthöhe von 43,80 m nebst
einem 40 m langen Ausleger angibt, müsse der Baukran sowohl von der H. als auch von
der G. aus weithin sichtbar gewesen sein. Die Standzeit des Baukrans vom 16.
November 2007 bis Ende April 2008 ergebe sich aus dem Mietvertrag vom 10.
November 2007 und werde durch die eidesstattliche Versicherung des Bauleiters D. vom
23. Februar 2010 bestätigt. Während dieses Zeitraums habe der Baukran auch die
Giebelwand zum Nachbargrundstück der Antragstellerin deutlich überragt, weil die freie
Schwenkbarkeit des Kranauslegers in alle Richtungen einen gewissen Höhenabstand zu
den Gebäuden für die notwendige Bewegungsfreiheit erfordert habe. Dieser Baukran
hätte sich der Antragstellerin als Hinweis auf eine entsprechende Bautätigkeit
aufdrängen müssen, so dass ihr Widerspruchsrecht verwirkt und der erst am 1.
September 2009 eingegangene Widerspruch verfristet gewesen sei.
Der Antragsgegner geht in der Beschwerdebegründung bezüglich des Baukrans
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Der Antragsgegner geht in der Beschwerdebegründung bezüglich des Baukrans
ebenfalls von einer Verwirkung des Widerspruchsrechts aus und trägt ergänzend vor,
dass die sonstigen lärmintensiven Bauarbeiten während der einjährigen Bauzeit von der
Antragstellerin hätten bemerkt werden müssen. Selbst wenn die Brandwand eine
gewisse Stärke aufweise, hätten die auftretenden Baugeräusche von der Antragstellerin
genauso bemerkt werden müssen wie umgekehrt die Musikgeräusche der
Antragstellerin von den Bewohnern der Eigentumswohnungen H.. Dass sich die
Mitarbeiter der Antragstellerin vornehmlich abends oder nachts - jedenfalls außerhalb
der üblichen Bauzeiten - auf dem Grundstück G. aufhalten würden und schon deshalb
nichts von der Bautätigkeit bemerkt haben sollten, könne nicht zutreffen, weil ein solcher
Betrieb mit erheblichen Organisations- und Begleitarbeiten verbunden sei, die nur
tagsüber stattfinden könnten. Schließlich habe der leitende Mitarbeiter M. in seiner
eidesstattlichen Versicherung vom 2. Februar 2010 bestätigt, dass er montags bis
freitags von 9:00 Uhr bis 19:00 Uhr im Büro und auf den beiden Innenhöfen des „…
beschäftigt sei.
Der Antragsgegner und die Beigeladene zu 2. beantragen,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. Februar 2010 zu ändern
und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der
Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 14. April 2005 zurückzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerden zurückzuweisen.
Sie behauptet nach wie vor, von der Bautätigkeit nichts bemerkt zu haben, zumal ihr
eigener Betrieb geräuschintensiv und im Wesentlichen auf die Abend- und Nachtstunden
beschränkt sei. Auch die Mieter im vierten Obergeschoss des Vorderhauses und des
Quergebäudes hätten (akustisch) nichts von den Bauarbeiten bemerkt (vgl.
eidesstattliche Versicherungen Bl. 659, 660 d. A.). Im Übrigen trägt sie vor, dass sie den
Baukran auf dem Nachbargrundstück von dem Grundstück G. schon aufgrund der
eigenen 25 m hohen Gebäudewand und des dadurch nur verbliebenen steilen
Blickwinkels in die Höhe nicht habe sehen können. Aber selbst wenn dies der Fall
gewesen wäre, hätte sie davon ausgehen dürfen, dass es sich allenfalls um eine
Altbausanierung, nicht jedoch um den vollständigen Neubau eines Wohngebäudes an
ihrer rückwärtigen Brandwand handeln würde. Allein die Baustelleneinrichtung vor dem
Baugrundstück H. könne noch keine Erkundigungspflichten auslösen. Schließlich sei sie
nicht verpflichtet, Untersuchungen darüber anzustellen, ob in den Nebenstraßen der
G.Straße Baumaßnahmen an den Rückwänden ihres Gebäudes stattfinden.
II.
Die Beschwerden haben Erfolg.
Die im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) des
Antragsgegners und der Beigeladenen zu 2. rechtfertigen es, den angefochtenen
Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und den Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die
Baugenehmigung vom 14. April 2005 zurückzuweisen. Der Gesetzgeber hat mit § 212 a
Abs. 1 BauGB bereits eine Interessenwertung für den Fall vorgenommen, dass ein Dritter
mit Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines
Vorhabens vorgeht, indem er die aufschiebende Wirkung ausgeschlossen und die
sofortige Vollziehung als Regelfall vorgesehen hat. Soll der Antrag dennoch Erfolg haben,
setzt dies bei der nach § 80 a Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO
vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden privaten und öffentlichen Interessen
einen offensichtlich gegebenen Abwehranspruch des Dritten voraus (vgl. OVG Bln-Bbg,
Beschluss vom 3. April 2009 - 10 S 5.09 - BauR 2009, 1427). Dies ist hier nicht der Fall,
weil einem möglichen Abwehranspruch der Antragstellerin schon die Bestandskraft der
erteilten Baugenehmigung vom 14. April 2005 entgegensteht.
Die Antragstellerin hat erst mit dem am 1. September 2009 bei dem Antragsgegner
eingegangenen Schreiben vom 29. August 2009 Widerspruch gegen die
Baugenehmigung „bezüglich des Neubaus im Quergebäude" eingelegt, den sie mit dem
am 6. Oktober 2009 eingegangenen Schreiben vom 21. September 2009 auf den
gesamten Neubau an ihrer Rückwand „(Seitenflügel und Quergebäude)“ erstreckt hat.
Schon am 1. September 2009 war ihr Recht zum Widerspruch jedoch verwirkt, so dass
es auf die Frage, ob erst der Widerspruch vom 6. Oktober 2009 den Neubau insgesamt
erfasst hat, nicht ankommt. Zwar setzte der an die Antragstellerin nicht übersandte
Baugenehmigungsbescheid mangels Bekanntgabe durch die Behörde ihr gegenüber
16
17
Baugenehmigungsbescheid mangels Bekanntgabe durch die Behörde ihr gegenüber
zunächst keinen regulären Fristenlauf für die Einlegung eines Widerspruchs in
unmittelbarer Anwendung der §§ 57, 58 und 70 VwGO in Gang, weil dies wegen des
Schriftformerfordernisses für Baugenehmigungen (§ 71 Abs. 2 Satz 1 BauOBln) die
Übergabe einer Ausfertigung des Bescheids auch an die Antragstellerin als betroffene
Nachbarin erfordert hätte. Von dem Zeitpunkt an, von dem ab anzunehmen ist, dass ein
Nachbar sichere Kenntnis von der erteilten Baugenehmigung erlangt hat oder zumindest
hätte erlangen müssen, hat er sich jedoch in aller Regel nach Treu und Glauben so
behandeln zu lassen, als sei ihm die Baugenehmigung im Zeitpunkt der zuverlässigen
Kenntniserlangung bzw. in demjenigen Zeitpunkt amtlich bekannt gegeben worden, in
dem er diese Kenntnis hätte erlangen müssen. Maßgebend ist insoweit nicht der
Zeitpunkt des Erkennens, sondern der Erkennbarkeit der (später) geltend gemachten
Beeinträchtigung (vgl. grundlegend OVG Bln-Bbg, Urteil vom 20. Dezember 2005 - OVG
10 B 10.05 -, juris RNr. 21 sowie Beschluss vom 3. April 2009, a.a.O. und Beschluss vom
1. Februar 2010 - OVG 10 N 35.07 -). Von da an läuft im Hinblick auf die Regelung des §
58 Abs. 2 VwGO, wonach bei unterbliebener oder unrichtig erteilter
Rechtsbehelfsbelehrung für die Einlegung des Rechtsbehelfs die Jahresfrist gilt, auch in
diesen Fällen eine einjährige Widerspruchsfrist. Mit Ablauf der Jahresfrist ist dann nach
ständiger Rechtsprechung regelmäßig Verwirkung anzunehmen (vgl. BVerwG, Beschluss
vom 18. Januar 1988, BRS 48 Nr. 180; Urteil vom 25. Januar 1974, BVerwGE 44, 294),
wobei besondere Umstände auch die Annahme einer deutlich kürzeren Frist
rechtfertigen können (vgl. OVG Bln-Bbg, a.a.O.).
Für einen möglichen Fristbeginn sind in der Regel tatsächliche Vorgänge im Rahmen
eines Baugeschehens, wie deutlich wahrnehmbare Bauarbeiten, relevant, die auf die
vorangegangene Erteilung einer Baugenehmigung schließen lassen (vgl. hierzu OVG Bln-
Bbg, Urteil vom 20. Dezember 2005, a. a. O., RNr. 23). So wird der Baubeginn für den
Grundstücksnachbarn üblicherweise durch sichtbare Zeichen und Aktivitäten, wie
Vorbereitungsmaßnahmen durch die Aufstellung eines Bauschilds, die Einrichtung einer
Baustelle oder entsprechende Erdarbeiten erkennbar. Die optische Wahrnehmbarkeit
solcher Vorgänge ist jedoch von dem Grundstück der Antragstellerin aus bei der
gegebenen Bebauungssituation - einer Blockrandbebauung mit zwei Quergebäuden und
Seitenflügeln, die von drei Nachbargrundstücken aus „umbaut“ worden sind - deutlich
erschwert und fast unmöglich, wenn nicht - wie auf dem nordöstlich angrenzenden
Nachbargrundstück G. - weitgehend die Anschlussbebauung fehlt und damit der Blick auf
das Nachbargrundstück frei ist. Bei einer solchen Sondersituation würden die
Anforderungen überspannt, wenn von der Antragstellerin zu verlangen wäre, neben dem
einsehbaren Nachbargrundstück G. auch noch die übrigen angrenzenden
Nachbargrundstücke „im Blick“ zu haben und zu diesem Zweck regelmäßig auch die H.
zu „bestreifen“, in der zwei weitere bis an ihre Brandwand bebaute Grundstücke liegen
(H.), nur um mögliche Baumaßnahmen rechtzeitig auszumachen.
Der vorliegende Fall weist jedoch eine Besonderheit auf. Denn der für einen Zeitraum
von fünfeinhalb Monaten (16. November 2007 bis Ende April 2008) im Hof des
Baugrundstücks H. aufgestellte, 43,80 m hohe Turmdrehkran mit einem 40 m langen
Ausleger musste für die Antragstellerin ein deutlich sichtbarer Hinweis auf umfangreiche
Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück sein, zumal der Turm des Krans dessen
Standort eindeutig markiert. Hierfür genügt es, wenn der Turmdrehkran aus der
Umgebung des Grundstücks der Antragstellerin heraus, zumindest von der Kreuzung G.
aus, sichtbar ist. Denn bei einer solchen Fallgestaltung und besonderen
Bebauungssituation beschränken sich die Mitwirkungsobliegenheiten nicht nur auf die
vom eigenen Grundstück aus einsehbaren angrenzenden Grundstücke in demselben
Straßenzug, wie es normalerweise der Fall ist, sondern erstrecken sich auf alle an das
eigene Grundstück angrenzenden Nachbargrundstücke, auch wenn sie zu einem
anderen Straßenzug gehören. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die Antragstellerin
von den Innenhöfen ihres Grundstücks aus und dem von dort aus nur verbleibenden
steilen Blickwinkel den Kran überhaupt hätte wahrnehmen können, und in welchem
Umfang sich bei den beengten Verhältnissen auf dem Grundstück H. der Gegenausleger
teilweise über dem Innenhof der Antragstellerin bewegt haben muss. Denn der jedenfalls
außerhalb ihres Grundstücks deutlich sichtbare Turmdrehkran und seine Situierung
hätten für sie Anlass sein müssen, sich in die H.-R. zu begeben, um nähere
Feststellungen zu treffen. Dann hätte sich für sie aufgrund der dortigen umfangreichen
Baustelleneinrichtung auf 74 m² Straßenland in Kombination mit dem Turmdrehkran im
Hof des Grundstücks H. zumindest der Rückschluss aufdrängen müssen, dass im
hinteren Grundstücksbereich umfangreiche Bauarbeiten stattfinden. Sie hätte sich bei
der Bauaufsichtsbehörde nach einer Baugenehmigung und den näheren Einzelheiten
hierzu erkundigen müssen, um ggf. ohne Säumen ihre nachbarlichen Einwendungen
geltend zu machen.
18
19
20
21
22
23
Dies gilt umso mehr, als ihr die von einer möglichen Wohnbebauung für ihren Betrieb
ausgehende Bedrohungslage bekannt sein musste, wie das Klageverfahren VG 13 A
70.05 bezüglich des Nachbargrundstücks G. zeigt. Auch konnte sie nicht davon
ausgehen, dass an ihrer hinteren Brandwand allenfalls Sanierungsarbeiten stattfinden
würden und kein Wohnungsneubau zu erwarten sei, wie sie vorträgt. Denn die
Grundstücke in dem Baublock liegen im Sanierungsgebiet P. B. – W. (vgl. 10. Verordnung
über die förmliche Festlegung von Sanierungsgebieten vom 18. November 1994, GVBl.
S. 472). Ziel von Sanierungsverordnungen ist es, städtebauliche Missstände durch
Sanierungsmaßnahmen zu beheben (§ 136 Abs. 2 BauGB), wobei das Gebiet im
konkreten Fall in seiner Funktion als innerstädtisches Wohnquartier gestärkt und
weiterentwickelt werden soll, indem u. a. ehemalige Gewerbeflächen im Hofbereich zu
Wohnzwecken umgenutzt werden, um das Neubaupotenzial an Wohnungen im
Sanierungsgebiet zu erhöhen (siehe zu den Sanierungszielen der genannten
Sanierungsverordnung unter: index.shtml).
Ob die Antragstellerin auch akustisch die nahezu einjährigen, umfangreichen
Bauarbeiten hätte wahrnehmen müssen, wofür einiges spricht, kann unter diesen
Umständen dahinstehen.
Die Obliegenheit, durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, um einen
wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder einen Vermögensverlust
möglichst niedrig zu halten, ergibt sich für den Nachbarn eines Bauherrn aus dem
nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis, weshalb er nach Erkennen der Beeinträchtigung
durch Baumaßnahmen ohne Säumen seine nachbarlichen Einwendungen geltend
machen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974, a.a.O.; OVG Bln-Bbg, a.a.O.).
Erfolgt dies nicht, darf der Bauherr darauf vertrauen, dass jedenfalls nach Ablauf der
Jahresfrist vom Baubeginn an kein Rechtsbehelf mehr eingelegt wird und Bestandskraft
im Interesse allseitiger Rechtssicherheit eintritt. Diese - ab dem erkennbaren Baubeginn
und damit spätestens mit der Inbetriebnahme des Turmdrehkrans ab Anfang Dezember
2007 laufende - Frist wurde hier versäumt, denn bei Einlegung des Widerspruchs am 1.
September/6. Oktober 2009 - also knapp 2 Jahre nach Baubeginn - war die
Widerspruchsfrist verstrichen. Ob nicht aufgrund des deutlich wahrnehmbaren
Turmdrehkrans und der Größe der Baustelleneinrichtung sowie des damit sich
aufdrängenden hohen Investitionsaufwandes des Bauherrn besondere Umstände
vorgelegen haben, die die Annahme einer deutlich kürzeren Frist rechtfertigen könnten,
kann unter diesen Umständen dahinstehen (vgl. OVG Bln-Bbg, a.a.O.).
Die Kostenentscheidung folgt für das erstinstanzliche Verfahren aus § 154 Abs. 1, § 162
Abs. 3 VwGO, wobei die Beigeladene zu 1. ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt,
weil sie in erster Instanz keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko
ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO). Die Kostenentscheidung für das
Beschwerdeverfahren folgt bis zur Beschwerderücknahme durch die Beigeladenen zu 1.
aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO und für die Zeit danach aus § 154
Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG,
wobei der Senat der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung folgt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum