Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 26.02.2014

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VGH Baden-Württemberg Urteil vom 26.2.2014, A 3 S 698/13
Art. 15 EGV 343/2003 ("Dublin II-VO") begründet keine subjektiven Rechte des
Asylbewerbers; Begriff des "Familienangehörigen"; keine systemischen Mängel
des polnischen Asylverfahrens
Leitsätze
1. Der in Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO verwendete Begriff "anderer Familienangehöriger"
ist in Anbetracht der humanitären Zielsetzung der Regelung sowie im Hinblick auf die
verschiedenen und zum Teil voneinander abweichenden Sprachfassungen dieser
Vorschrift dahin zu verstehen, dass er außer den "Familienangehörigen" im Sinne des
Art. 2 Buchst. i) Dublin II-VO auch andere Familienmitglieder umfasst (im Anschluss an
EuGH, Urt. v. 6.11.2012 - C-245/11 - NVwZ-RR 2013, 69).
2. Hat ein Mitgliedstaat der Aufnahme des Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art.
10 Abs. 1 Dublin II -VO niedergelegten Kriteriums der ersten Einreise zugestimmt, so
kann sich ein von diesem Mitgliedstaat nach Deutschland weiter gereister
Asylbewerber gegenüber der auf § 27a AsylVfG gestützten Entscheidung des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über seinen Asylantrag nicht darauf
berufen, dass die Bundesrepublik Deutschland das ihr im Rahmen des in Art. 15 Abs.
1 sowie des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO zustehende Ermessen nicht oder fehlerhaft
ausgeübt habe (im Anschluss an EuGH, Urt. v. 6.11.2012, a.a.O).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe
vom 30. Juni 2011 - A 1 K 3583/09 - geändert. Die Klagen werden abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens in beiden
Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Die Kläger begehren ihre Anerkennung als Asylberechtigte.
2 Die am 11.3.1973 geborene Klägerin 1 und ihre vier zwischen 1994 und 2004
geborenen Kinder, die Kläger 2 bis 5, sind nach ihren Angaben russische
Staatsangehörige. Sie reisten am 24.4.2009 über Polen in die Bundesrepublik
Deutschland ein und beantragten am 23.6.2009 ihre Anerkennung als
Asylberechtigte.
3 Aufgrund eines Vergleichs der Fingerabdrücke der Kläger stellte das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) fest, dass die Kläger
bereits zuvor am 27.3.2009 in Polen einen Asylantrag gestellt hatten. Auf ein
deshalb am 17.6.2009 gestelltes Übernahmeersuchen erklärten die polnischen
Behörden mit Schreiben vom 18.6.2009 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der
Asylanträge der Kläger gemäß Art. 16 Abs. 1 Dublin II-VO.
4 Mit Schreiben vom 1.9.2009 beantragte der Verfahrensbevollmächtigte der Kläger,
das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen, da die Klägerin 1 unter einer
posttraumatischen Belastungsstörung sowie unter Depressionen leide und
deshalb auf die Unterstützung von Familienangehörigen angewiesen sei. In Köln
lebten mehrere Verwandte, darunter der Bruder der Klägerin, der durch Bescheid
vom 24.4.2003 als „politischer Flüchtling“ anerkannt worden sei. Mit Schreiben
vom 14.9.2009 legte der Verfahrensbevollmächtigte der Kläger ferner eine
fachärztliche Stellungnahme vor, aus der sich mit hinreichender Deutlichkeit
ergebe, dass die Klägerin 1 dringend der Unterstützung durch nahe
Familienangehörige bedürfe. In dem Schreiben wurde ferner mitgeteilt, dass die in
Köln lebende Mutter der Klägerin ebenfalls als „politischer Flüchtling“ im
Bundesgebiet anerkannt worden sei.
5 Mit Bescheid vom 8.9.2009 erklärte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger für
unzulässig und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Polen an. Zur
Begründung wurde ausgeführt, die Asylanträge seien gemäß § 27a AsylVfG
unzulässig, da Polen aufgrund der dort bereits gestellten Asylanträge für deren
Bearbeitung zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die
Bundesrepublik veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2
Dublin II-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
6 Im November 2009 wurden die Kläger nach Polen überstellt, am 3.12.2009 wurde
ihnen der Bescheid vom 8.9.2009 zugestellt.
7 Die Kläger haben am 9.12.2009 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben
und beantragt, den Bescheid des Bundesamts vom 8.9.2009 aufzuheben. Zur
Begründung ließen sie vortragen, die Klägerin 1 leide unter einer
posttraumatischen Belastungsstörung als Folge einer in ihrem Heimatland
erlittenen politischen Verfolgung und sei deswegen von Mai bis Juni (in
Deutschland) stationär behandelt worden. Sie sei aus diesem Grund in
besonderem Maße auf die Unterstützung ihrer Mutter, die als „politischer
Flüchtling“ in Deutschland lebe, sowie auf die Unterstützung anderer
Familienangehörigen angewiesen. Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO sehe in einem
solchen Fall die Abweichung von den Zuständigkeitskriterien aus humanitären
Gründen vor. Bei den Familienangehörigen der Kläger handele es sich zwar nicht
um „Familienangehörige“ im Sinne des Art. 2 Buchst. i) Dublin II-VO. Der
Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO sei jedoch nicht auf die
Kernfamilie beschränkt, sondern beziehe sich auf alle Familienangehörigen im
Sinne des Art. 8 EMRK. Auf Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO sowie auf die Möglichkeit
des Selbsteintritts gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO könnten die Kläger sich
berufen. Die Kläger hätten zumindest Anspruch auf ermessensfehlerfreie
Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts.
8 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
9 Mit Urteil vom 30.6.2011 hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und
den Bescheid des Bundesamts vom 8.9.2009 aufgehoben. Zur Begründung hat es
ausgeführt, der angegriffene Bescheid sei rechtswidrig und verletzte daher die
Kläger in ihren Rechten. Nach § 27a AsylVfG sei ein Asylantrag unzulässig, wenn
ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen
Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständig sei. Eine nach Art. 16 Dublin II-VO gegebene
Zuständigkeit reiche indessen allein nicht aus, um den Asylantrag unzulässig zu
machen. Vielmehr sei auch zu prüfen, ob humanitäre Gründe im Sinne des Art. 15
dieser Verordnung vorlägen und daher das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2
dieser Verordnung auszuüben sein könnte, wobei nach § 77 Abs. 1 AsylVfG auf
die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen sei. Im
Fall der Kläger lägen humanitäre Gründe nach Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO vor,
aufgrund deren die Beklagte das Selbsteintrittsrecht auszuüben habe. Nach dieser
Bestimmung entschieden die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen die betroffene
Person wegen einer schweren Krankheit auf die Unterstützung der anderen
Person angewiesen sei, im Regelfall, den Asylbewerber und den anderen
Familienangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalte, nicht
zu trennen bzw. sie zusammenführen, sofern die familiäre Bindung bereits im
Herkunftsland bestanden habe. Die Klägerin 1 leide, wie sich zuletzt aus der
Bescheinigung der Medizinischen Station der polnischen Ausländerbehörde vom
16.6.2010 ergebe, an einer schweren Krankheit, nämlich an einem depressiven
Syndrom mit Konversionskomponente, wegen dem sie in ständiger
psychiatrischen Behandlung sei. Aus dieser Bescheinigung ergebe sich auch,
dass die Klägerin 1 insbesondere der Unterstützung ihrer hier als Flüchtling
anerkannten Mutter bedürfe, da dort ausgeführt werde, dass sich das
„Funktionieren“ bessern würde, wenn die Klägerin 1 im Kreis ihrer Nächsten leben
könnte. Auch die weitere tatbestandliche Voraussetzung, dass die familiäre
Bindung bereits im Herkunftsland bestanden haben müsse, sei gegeben. Denn
damit sei allein gemeint, dass das entsprechende Verwandtschaftsverhältnis
bereits bestanden haben müsse, was hier unzweifelhaft zu bejahen sei. Für eine
Atypik sei nichts ersichtlich oder dargetan. Eine Trennung der Kläger 2 bis 5 von
der Klägerin 1 verbiete sich in Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG.
10 Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts richtet sich die vom Senat mit
Beschluss vom 25.3.2013 zugelassene Berufung der Beklagten. Zu deren
Begründung macht die Beklagte geltend, aus der Dublin II-Verordnung ergäben
sich keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers. Ein Recht auf Durchführung
des Asylverfahrens in einem bestimmten Land bestehe daher nicht.
11 Die Beklagte beantragt,
12 das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 30.6.2011 - A 1 K 3583/09 - zu
ändern und die Klagen abzuweisen.
13 Die Kläger beantragen,
14 die Berufung zurückzuweisen.
15 Sie verteidigen das angefochtene Urteil.
16 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten des
Verwaltungsgerichts sowie auf die Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
17 Der Senat konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens der Kläger
sowie eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung über die
Sache verhandeln und entscheiden. Die Beteiligten sind ordnungsgemäß geladen
und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.
18 Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Klagen zu
Unrecht stattgegeben. Der angefochtene Bescheid, mit dem das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge die Asylanträge der Kläger als unzulässig abgelehnt und
ihre Abschiebung nach Polen angeordnet hat, ist rechtmäßig und verletzt die
Kläger daher nicht in ihren Rechten.
19 Die Entscheidung über die Asylanträge der Kläger stützt sich auf § 27a AsylVfG.
Nach dieser - durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 in das Asylverfahrensgesetz
eingefügten - Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat
auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines
völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Nach § 31 Abs. 6 AsylVfG wird dem Ausländer in der Entscheidung mitgeteilt,
welcher andere Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Soll
der Ausländer in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat
abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt ferner gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG
die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt
werden kann.
20 Die angefochtene Entscheidung des Bundesamts ist danach nicht zu
beanstanden. Der für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständige
Staat ist nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern die Republik Polen.
21 1. Die Frage, welcher Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Durchführung
der Asylverfahren der Kläger zuständig ist, bestimmt sich nach der Verordnung
(EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 zur Festlegung der Kriterien und
Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist
(im Folgenden: Dublin II-VO). Die Dublin II-Verordnung ist zwar zum 19.7.2013
aufgehoben und durch die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) ersetzt
worden. Die Dublin III-Verordnung findet jedoch gemäß ihrem Art. 49 Abs. 2 Satz 1
nur auf Asylanträge Anwendung, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats
nach ihrem Inkrafttreten gestellt werden. Für vor diesem Datum gestellte
Asylanträge erfolgt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß Art. 49
Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auch weiterhin nach den Kriterien der Dublin II-
Verordnung.
22 2. Der nach den Kriterien der Dublin II-Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist die
Republik Polen.
23 Für den Fall, dass auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den
in Art. 18 Abs. 3 Dublin II-VO genannten Verzeichnissen festgestellt wird, dass ein
Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze
eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, ist gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO
dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Die Zuständigkeit
endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Da die Kläger
unstreitig über Polen eingereist sind und dort auch vor ihrer Weiterreise nach
Deutschland Anträge auf Asyl gestellt hatten, ist nach dieser Vorschrift die
Republik Polen für die Prüfung der Asylanträge der Kläger zuständig.
24 Der Umstand, dass die Mutter und der Bruder der Klägerin 1 in Deutschland leben
und beide als Asylberechtigte anerkannt worden sind, ändert daran nichts. Hat der
Asylbewerber einen Familienangehörigen, dem das Recht auf Aufenthalt in einem
Mitgliedstaat in seiner Eigenschaft als Flüchtling gewährt wurde, so ist zwar gemäß
Art. 7 Dublin II-VO dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig,
sofern die betroffenen Personen dies wünschen. Nach Art. 2 Buchst. i) Dublin II-
VO sind „Familienangehörige“ im Sinne dieser Vorschrift aber nur der Ehegatte
(oder unter bestimmten Voraussetzungen der nicht verheiratete Partner), die
minderjährigen Kinder, sofern diese ledig und unterhaltsberechtigt sind, sowie bei
unverheirateten minderjährigen Antragstellern der Vater, die Mutter oder der
Vormund des Antragstellers. Die Mutter und der Bruder der Klägerin 1 gelten somit
nicht als „Familienangehörige“ der Kläger im Sinne des Art. 7 Dublin II-VO.
25 Der zur Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat ist nach Art. 16 Abs. 1
Dublin II-VO gehalten, einen Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat
einen Antrag gestellt hat, aufzunehmen (Buchst. a) und die Prüfung des
Asylantrags abzuschließen (Buchst. b). Auf das mit Schreiben vom 17.6.2009
gestellte (Wieder-)Aufnahmegesuch haben dementsprechend die polnischen
Behörden mit Schreiben vom 18.6.2009 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der
Asylanträge der Kläger erklärt.
26 3. Das Verwaltungsgericht ist der Meinung, eine nach Art. 16 Dublin II-VO
gegebene Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union
reiche nicht aus, um einen Asylantrag im Sinne des § 27a AsylVfG unzulässig zu
machen. Vielmehr sei auch zu prüfen, ob humanitäre Gründe im Sinne des Art. 15
Dublin II-VO vorlägen und daher das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin
II-VO auszuüben sein könnte, wobei nach § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die Sachlage
im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen sei. Im Fall der
Kläger lägen humanitäre Gründe nach Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO vor, aufgrund
deren die Beklagte das Selbsteintrittsrecht auszuüben habe. Dem vermag der
Senat nicht zu folgen.
27 a) Nach Art. 15 Abs. 1 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat aus humanitären
Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext
ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige
zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht
zuständig ist. In diesem Fall prüft jener Mitgliedstaat auf Ersuchen eines anderen
Mitgliedstaats den Asylantrag der betroffenen Person. Die betroffenen Personen
müssen dem zustimmen. Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO bestimmt ferner, dass in
Fällen, in denen die betroffene Person wegen Schwangerschaft, eines
neugeborenen Kindes, einer schweren Krankheit, einer ernsthaften Behinderung
oder hohen Alters auf die Unterstützung der anderen Person angewiesen ist, die
Mitgliedstaaten im Regelfall entscheiden, den Asylbewerber und den anderen
Familienangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, nicht
zu trennen bzw. sie zusammenführen, sofern die familiäre Bindung bereits im
Herkunftsland bestanden hat. Unabhängig von diesen Regelungen kann nach Art.
3 Abs. 2 Dublin II-VO jeder Mitgliedsstaat einen bei ihm eingereichten Asylantrag
prüfen (sogenanntes Selbsteintrittsrecht) mit der Folge, dass er dadurch zum
zuständigen Mitgliedstaat wird und die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden
Verpflichtungen übernimmt.
28 b) Die Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO, unter denen nach der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 6.11.2012 - C-245/11 -
NVwZ-RR 2013, 69) ein nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin II-
Verordnung nicht für die Prüfung eines Asylantrags zuständiger Mitgliedstaat
zuständig wird, sind im vorliegenden Fall nicht gegeben.
29 Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO ist im Zusammenhang mit der allgemeineren Regelung
in Art. 15 Abs. 1 Dublin II-VO zu sehen. Art. 15 Abs.1 Dublin II-VO ist eine
fakultative Bestimmung, die den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen bei der
Entscheidung einräumt, ob sie aus humanitären Gründen, die sich insbesondere
aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und
andere abhängige Familienangehörige „zusammenführen“. Durch Art. 15 Abs. 2
Dublin II-VO wird dieses Ermessen in der Weise eingeschränkt, dass die
Mitgliedstaaten, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen, den
Asylbewerber und den anderen Familienangehörigen „im Regelfall … nicht …
trennen“. Der Anwendung dieser Vorschrift im Fall der Kläger steht nicht entgegen,
dass sowohl die Mutter der Klägerin 1 als auch deren Bruder keine
„Familienangehörigen“ im Sinne des Art. 2 Buchst. i) Dublin II-VO sind, da beide
unter den in Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO verwendeten Begriff „anderer
Familienangehöriger“ fallen, der in Anbetracht der humanitären Zielsetzung der
Regelung sowie im Hinblick auf die verschiedenen und zum Teil voneinander
abweichenden Sprachfassungen dieser Vorschrift dahin zu verstehen ist, dass er
außer den „Familienangehörigen“ im Sinne des Art. 2 Buchst. i) Dublin II-VO auch
andere Familienmitglieder umfasst (EuGH, Urt. v. 6.11.2012, a.a.O.; im Ergebnis
ebenso OVG Niedersachsen, Urt. v. 4.7.2012 - 2 LB 163/10 - Juris; Hailbronner,
Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 68 f; Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, § 27a Rn.
158, 165 ff; Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 27a Rn. 55). Der Umstand, dass die Mutter
und der Bruder der Klägerin 1 bereits seit 2000 bzw. 2001 in Deutschland leben,
während die Klägerin 1 und ihre Kinder ihr Heimatland erst 2009 verlassen haben,
ist ebenfalls unschädlich, da Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO nur verlangt, dass die
familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat.
30 Der Senat vermag jedoch nicht zu erkennen, dass die Klägerin 1 wegen ihrer
psychischen Erkrankung auf die Unterstützung ihrer in Deutschland lebenden
Verwandten im Sinne dieser Vorschrift „angewiesen“ ist. Dass eine solche
Unterstützung nützlich oder förderlich ist, reicht dafür nicht aus. In dem bei den
Akten des Bundesamts befindlichen Entlassungsbericht des Psychiatrischen
Zentrums Nordbaden vom 19.6.2009 wird der Klägerin 1 eine Posttraumatischen
Belastungsstörung sowie eine schwere depressive Episode ohne psychotische
Symptome bescheinigt. Der Facharzt für Psychiatrie K... spricht in seinem Bericht
vom 9.9.2009 von einer schweren depressiven Störung mit Angstzuständen bei
posttraumatischer Belastungsstörung, wegen der die Klägerin dringend einer
intensiven und regelmäßigen psychiatrischen Behandlung mit Psychopharmaka
bedürfe. In dem von der Klägerin 1 während des erstinstanzlichen Verfahrens
vorgelegten Schreiben einer polnischen Psychologin vom 29.1.2010 heißt es, die
Klägerin 1 leide an einem depressiven Syndrom mit Konversionskomponente.
Wegen ihrer Lebenssituation (alleinerziehende Mutter mit vier Kindern) und ihres
Gesundheitszustands benötige sie die Hilfe ihrer Mutter. Der Nachweis, dass die
Klägerin 1 (gerade) wegen ihrer Erkrankung auf diese Hilfe im Sinne des Art. 15
Abs. 2 Dublin-II-VO „angewiesen“ ist, ist damit nicht geführt.
31 c) Das sich aus Art. 15 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO ergebende Recht
der Bundesrepublik Deutschland, die bei ihr eingereichten Asylanträge der Kläger
aus humanitären Gründen zu prüfen, bleibt von dem Nichtvorliegen der
Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO unberührt. Rechte der Kläger
werden jedoch von diesen Vorschriften nicht begründet. Die Kläger können sich
daher nicht darauf berufen, die Beklagte habe das ihr im Rahmen dieser
Vorschriften zustehende Ermessen nicht oder fehlerhaft ausgeübt.
32 aa) Art. 15 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO sollen die „Prärogativen“ der
Mitgliedstaaten wahren, das Recht auf Asylgewährung unabhängig von dem
Mitgliedstaat auszuüben, der nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien für
die Prüfung eines Antrags zuständig ist. Da es sich dabei um fakultative
Bestimmungen handelt, räumen sie den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen ein
(EuGH, Urt. v. 6.11.2012, a.a.O.; Urt. v. 10.12.2013 - C-394/12 - NVwZ 2014, 208).
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob aus diesen Vorschriften ein
subjektives Recht des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts oder
wenigstens ein Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung abgeleitet werden kann
(dafür: VG Gießen, Urt. v. 25.4.2008 - 2 L 201/08 - InfAuslR 2008, 327; Funke-
Kaiser, a.a.O., § 27a AsylVfG Rn. 123 ff./134; Marx, a.a.O., § 27a AsylVfG Rn. 13;
a. M. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 6.8.2013 - 12 S 675/13 - Juris; VG Berlin, Beschl.
v. 7.10.2013 - 33 L 403.13 A - Juris; Hailbronner, a.a.O., § 27a AsylVfG Rn. 62).
Durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 10.12.2013 - C-
394/12 - (a.a.O.) ist diese Frage nunmehr in dem Sinne geklärt, dass ein
Asylbewerber grundsätzlich keinen Anspruch gegen einen Mitgliedstaat der
Europäischen Union hat, dass dieser von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch
macht. Nach dem Urteil hat das jedenfalls für den hier gegebenen Fall zu gelten,
dass ein Mitgliedstaat der Aufnahme des Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art.
10 Abs. 1 Dublin II -VO niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat.
33 Zur Begründung weist der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil
zunächst darauf hin, dass die für Asylanträge geltenden Regelungen in weitem
Umfang auf Unionsebene harmonisiert worden seien, so insbesondere jüngst
durch die Richtlinien 2011/95 und 2013/32. Der von einem Asylbewerber gestellte
Antrag werde daher weitgehend nach den gleichen Regelungen geprüft, welcher
Mitgliedstaat auch immer für seine Prüfung nach der Dublin II-Verordnung
zuständig sei. Zu den Regelungen in Art. 3 Abs. 2 und Art. 15 Abs. 1 Dublin II-VO
heißt es weiter, dass diese Vorschriften den Mitgliedstaaten aus den bereits
genannten Gründen ein weites Ermessen einräumten. Im dem Urteil wird ferner
betont, aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Dublin II-Verordnung gehe hervor,
dass die Schaffung einer klaren und praktikablen Formel für die Bestimmung des
für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats einer der
Hauptzwecke der Verordnung sei, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur
Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer
zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Der Gerichtshof der
Europäischen Union schließt hieraus, dass in einem Fall, in dem ein anderer
Mitgliedstaat als der Mitgliedstaat der ersten Einreise der Aufnahme des
Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO zugestimmt habe,
der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums (d.h. das Kriterium der
ersten Einreise) nur damit entgegentreten könne, dass er systemische Mängel des
Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem
Mitgliedstaat geltend mache, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte
Gründe für die Annahme darstellten, dass er tatsächlich Gefahr laufe, einer
unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der
Europäischen Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden. Dem schließt sich der
Senat an.
34 bb) Die Kläger könnten danach gegen den angefochtenen Bescheid nur
einwenden, dass es in Polen systemische Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für Asylbewerber mit der im Urteil des Gerichtshofs der
Europäischen Union genannten Folge für ihre eigene Person gebe. Ein solcher
Einwand wird von den Kläger jedoch nicht erhoben. Die Frage, ob es in Polen
systemische Mängel in dem genannten Sinn gibt, wird im Übrigen, soweit
ersichtlich, allgemein verneint (vgl. u. a. VG Kassel, Beschl. v. 26.8.2013 - 9 L
984/13.KS.A - Juris; VG Schleswig, Beschl. v. 27.8.2013 - 1 B 43/13 - Juris; VG
Lüneburg, Urt. v. 10.10.2013 - 2 B 47.13 - Juris; VG Düsseldorf, Urt. v. 19.11.2013
- 25 L 2154/13.A - Juris).
35 4. Offen bleiben kann, ob ein Asylbewerber seiner Überstellung in den für die
Prüfung seines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat weitere die Verhältnisse in
diesem Staat betreffende Gründe entgegen halten kann.
36 So stellt sich die Frage, ob auch das Drohen einer Verletzung von Art. 3 der
Europäischen Grundrechtscharta im Einzelfall eine Ausnahme von der
innereuropäischen Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem
einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der
Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention
steht, zu begründen vermag. Diese Frage braucht jedoch im Rahmen des
vorliegenden Verfahrens nicht entschieden zu werden, da den Klägern keine
Verletzung ihres durch diese Vorschrift gewährleisteten Rechts auf körperliche und
geistige Unversehrtheit droht. Anhaltspunkte dafür, dass die psychische
Erkrankung der Klägerin 1 in Polen nicht behandelt werden kann, sind nicht zu
erkennen. Dies wird auch von den Klägern nicht behauptet.
37 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO und §
83b AsylVfG.
38 Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der
Revision liegen nicht vor.