Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 19.11.2015

politische verfolgung, angola, amnesty international, wahrscheinlichkeit

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 19.11.2015, A 12 S 1999/14
Exilpolitischen Betätigung eines Angolaners; Widerruf der Feststellung des
Vorliegens der Voraussetzungen des AuslG 1990 § 51 Abs 1
Leitsätze
1. Ein nach Angola zurückkehrender angolanischer Staatsangehöriger, der sich
lediglich in Deutschland und dies auch nur zurückhaltend für die Oppositionspartei
UNITA exilpolitisch betätigt hat, hat in Angola nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
politische Verfolgung zu befürchten.
2. Der ihn betreffende Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen
des
§ 51 Abs. 1 AuslG a.F. aus dem Jahr 2001 ist aufgrund zwischenzeitlich eingetretener
veränderter Verhältnisse gerechtfertigt.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27.
Juli 2006 - A 1 K 10388/05 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger, ein am xxx geborener angolanischer Staatsangehöriger
bakongolesischer Volkszugehörigkeit, wendet sich gegen den Widerruf der
Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes - AuslG - (nunmehr § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) vorliegen.
2 Der Kläger reiste am 24.12.1990 gemeinsam mit seiner Ehefrau in das
Bundesgebiet ein und beantragte mit ihr zunächst erfolglos die Anerkennung als
Asylberechtigter (VG Stuttgart, Urteil v. 09.02.1993 - A 6 K 13516/92 - und VGH
Baden-Württemberg, Beschluss v. 22.02.1995 - A 13 S 3176/94 -). Am 03.07.1995
beantragten beide erneut erfolglos ihre Anerkennung als Asylberechtigte in einem
(ersten) Asylfolgeverfahren (VG Stuttgart, Urteil v. 24.09.1996 - A 14 K 15135/95 -
und VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 18.02.1997 - A 13 S 3461/96). Auch
ein weiterer Asylfolgeantrag vom 22.01.1998 wurde mit Bescheid vom 30.12.1998
durch das seinerzeitige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
abgelehnt. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen,
und die Abschiebung nach Angola angedroht. Auf die von dem Kläger und seiner
Ehefrau erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom
23.03.2001 - A 9 K 10000/01 - unter entsprechender Aufhebung des Bescheids
vom 30.12.1998 die Beklagte zu der Feststellung verpflichtet, dass bei dem Kläger
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und bei seiner Ehefrau ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG jeweils in Bezug auf Angola
vorliegen. Zur Begründung der Klage hatte der Kläger dem Verwaltungsgericht
mehrere Belege für eine exilpolitische Betätigung vorgelegt. Hinsichtlich seiner
Klage hat das Verwaltungsgericht ausgeführt:
3 „Die Funktion des Klägers zu 1 als Informationssekretär der in den angolanischen
Bürgerkrieg verwickelten UNITA in Verbindung mit seinen vielfältigen
exilpolitischen Aktivitäten an verantwortlicher Stelle, auch etwa beim AK Asyl, führt
dazu, dass dem Kläger zu 1 mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Angola
politische Verfolgung droht. Es handelt sich dabei zwar um selbstgeschaffene
Nachfluchtgründe, die gemäß § 28 Satz 1 AsylVfG nicht zur Asylberechtigung
nach Art. 16 a Abs. 1 GG führen können, da sie - nach Auffassung des Gerichts -
nicht den Ausdruck einer festen, bereits in Angola erkennbar betätigten
Überzeugung darstellen. Denn der Kläger zu 1 ist nach den rechtskräftigen
Feststellungen des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 22.02.1995 (A 13 S 3176/94) aus Angola weder vorverfolgt noch
aufgrund einer latenten Gefährdungslage ausgereist. Sein Vorbringen bezüglich
konkreter politischer Aktivitäten in Angola wurde als widersprüchlich und nicht
glaubhaft eingestuft. Selbst wenn der Kläger zu 1 in Angola als Anhänger der
tocoistischen Kirche eine UNITA-freundliche Überzeugung gehabt haben sollte, so
wurde diese jedenfalls nicht i.S.d. § 28 S. 1 AsylVfG „erkennbar betätigt" (vgl.
BVerwG - 9 C 42.87 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 75).
4 Beim Kläger zu 1 liegen jedoch wegen der genannten Umstände die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor („kleines Asyl"). Danach darf ein
Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder
seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen
Überzeugung bedroht ist. Eine solche Abschiebungseinschränkung kommt in
Betracht, wenn dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Dieser Prognosemaßstab gilt für
unverfolgt aus ihrem Heimatstaat ausgereiste Schutzsuchende im
Abschiebungsschutz des § 51 Abs. 1 AuslG ebenso wie im
Asylanerkennungsverfahren. Er setzt voraus, dass bei „qualifizierender"
Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres
Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen
überwiegen. Entscheidend ist nicht eine mathematisch-statistische
Wahrscheinlichkeitssicht, sondern eine wertende Betrachtungsweise, die auch die
Schwere des befürchteten Verfolgungseingriffs berücksichtigt. Je gravierender die
möglichen Rechtsgutverletzungen sind, desto weniger kann es dem Betroffenen
zugemutet werden, sich der Verfolgungsgefahr auszusetzen.
5 Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger zu 1 bei qualifizierender
Betrachtungsweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Angola politische
Verfolgung. Die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers zu 1 waren und sind gezielt
gegen die angolanische Regierung gerichteten. Sie sind öffentlichkeitswirksam
und von Gewicht. Es muss davon ausgegangen werden, dass diese nunmehr seit
einigen Jahren andauernden Aktivitäten pro UNITA den angolanischen
Sicherheitsbehörden bekannt geworden sind und von ihnen als ernst zu
nehmender Versuch gewertet werden, das Regime in der Öffentlichkeit zu
diskreditieren oder zu schwächen. Denn nach der Einschätzung des Auswärtigen
Amtes im - zum Gegenstand des Verfahrens gemachten - Lagebericht vom
15.11.2000 achtet die angolanische Regierung bei den im Ausland agierenden
UNITA-Vertretern insbesondere auf Führungspersönlichkeiten. Bei UNITA-
Zugehörigkeit sei mit staatlichen Repressalien zu rechnen, insbesondere, wenn
sich diese Zugehörigkeit - wie bei dem Kläger zu 1 - in nachgewiesenen,
langjährigen und gewichtigen Aktivitäten manifestiert hat. Selbst wenn der Kläger
zu 1 in Angola wegen dieser Aktivitäten im Ergebnis, entgegen seiner
weiterreichenden Befürchtungen, „nur" mit Freiheitsentziehung zu rechnen hätte,
würde dies für § 51 Abs. 1 AuslG ausreichen. Nach den Schilderungen des
Lageberichts ist der angolanische Strafvollzug im Übrigen selbst für afrikanische
Verhältnisse extrem hart. Die dort herrschenden Zustände bedeuten eine
außergewöhnliche Verschärfung jeder Freiheitsstrafe, die vielfach als
unmenschlich und lebensbedrohend qualifiziert werden muss. Weder die
Ernährung noch die medizinische Versorgung noch die Unterbringung in den
Gefängnissen erfüllten im entferntesten Minimalbedingungen.
6 Nach Einschätzung des Gerichts drohen dem Kläger zu 1 in Angola mithin mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit zumindest unmenschliche oder erniedrigende
Maßnahmen durch die angolanischen Sicherheitsbehörden. Bei einer
Abschiebung nach Angola könnte sich der Kläger zu 1 zudem den
Sicherheitsbehörden praktisch kaum entziehen. Denn nach den Informationen des
Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 15.11.2000 führt der einzig mögliche
Abschiebeweg nach Angola über den internationalen Flughafen von Luanda;
wegen der schlechten Sicherheitslage sei eine Weiterreise in die von der UNITA
kontrollierten Gebiete kaum möglich.“
7 Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge kam den
Verpflichtungen des Verwaltungsgerichts mit Bescheiden vom 15.05.2001 nach.
8 Hinsichtlich der in den Jahren 1992, 1994 und 1998 geborenen Kinder des Klägers
und seiner Ehefrau stellte das Bundesamt mit Bescheiden vom 03.08.1998 und
30.04.2001 auf eine entsprechende Verpflichtung durch das Verwaltungsgericht
Stuttgart hin fest, dass bei ihnen Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 S. 1
AuslG in Bezug auf Angola vorliegen.
9 Mit Verfügung vom 08.11.2004 leitete das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge Widerrufsverfahren gemäß § 73 AsylVfG gegen den
Kläger und seine Familie ein. Mit Anhörungsschreiben vom 11.11.2004 vertrat das
Bundesamt die Auffassung, mit Abschluss des Waffenstillstandsabkommens
zwischen der Regierung und den UNITA-Rebellen vom 04.04.2002, das de facto
als Friedensvertrag wirke, könnten Verfolgungsmaßnahmen des angolanischen
Staates nunmehr mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
10 Der Prozessbevollmächtigte des Klägers wandte sich hiergegen mit Schreiben
vom 13.12.2004.
11 Mit Bescheid vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989-223) widerrief das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid vom 15.05.2001 erfolgte Feststellung,
dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
Ferner stellte es fest, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
in der seinerzeitigen Fassung noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG vorliegen. Zur Begründung führte es u.a. aus, ein Widerruf erfordere bei
erlittener Vorverfolgung hinreichende Sicherheit vor einer Wiederholung der
Verfolgung. Sei der Ausländer von konkreten Verfolgungsmaßnahmen bedroht
gewesen, sei der Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen nach dem
herabgeminderten Prognosemaßstab zu beurteilen. Vor dem Hintergrund des seit
der Beendigung des Bürgerkriegs in Angola neuen Verhältnisses zwischen der
Regierung und der größten Oppositionspartei UNITA bestehe keine Gefährdung
angolanischer Staatsangehöriger aufgrund von exilpolitischen Tätigkeiten für die
UNITA in der Bundesrepublik Deutschland. Ein gegenteiliger Schluss könne auch
nicht aus der konkret angeführten Teilnahme des Klägers an der gegen die
Ausländerpolitik der Bundesrepublik und nicht gegen den angolanischen Staat
gerichteten Aktion „Solidarität statt Abschiebung“ des Arbeitskreises Asyl in xxx am
04.12.2004 gezogen werden. Zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende
Gründe gemäß § 73 Abs.1 S. 3 AsylVfG, aus denen der Ausländer die Rückkehr in
seinen Herkunftsstaat ablehnen könne, seien nicht ersichtlich. Auch
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1 und § 60 Abs. 2-7 AufenthG lägen nicht
vor.
12 Mit weiterem Bescheid vom 10.02.2005 widerrief das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge die mit Bescheiden vom 03.08.1998, 30.04.2001 und 15.05.2001
erfolgten Feststellungen, dass bei der Ehefrau des Klägers und seinen Kindern
jeweils ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG gegeben ist.
Außerdem wurde festgestellt, dass bei diesen weder die Voraussetzung des § 60
Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG
vorliegen.
13 Am 23.02.2005 haben der Kläger, seine Ehefrau und die Kinder beim
Verwaltungsgericht Stuttgart Anfechtungsklagen gegen die Bescheide des
Bundesamtes vom 10.02.2005 erhoben und hilfsweise beantragt, die Beklagte zu
verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2-7 AufenthG
vorliegen. Zur Begründung hat der Kläger für sich im Wesentlichen vorgetragen, er
sei Informationssekretär und herausgehobenes Mitglied des UNITA-Komitees xxx
und setze sich, den Zielen des Komitees entsprechend, für eine Autonomielösung
für das angolanische Bekongo-Gebiet ein. Die UNITA werde in Angola durch die
MPLA verfolgt, auch sei sein Name dem angolanischen Geheimdienst bekannt.
Außerdem sei er Mitglied des Arbeitskreises Asyl xxx, in dem er sich für die Rechte
angolanischer und sonstiger Asylbewerber einsetze. Er nehme dort an
Veranstaltungen und Aktionen teil, halte wegen des UNITA-Verbots aber keine
Reden mehr. Auch habe er in der Vergangenheit die angolanische Regierung
kritisierende Artikel in den Zeitungen „Flash Flash“ und „Eveil“ veröffentlicht. Hinzu
komme, dass seine Familie und er aufgrund des langen Aufenthalts in
Deutschland und der damit verbundenen fehlenden Anpassung an die
angolanischen Lebensverhältnisse sowohl sozial als auch gesundheitsmäßig
nicht, jedenfalls nicht würdig, überleben könnten. Ob noch Verwandte in Angola
leben würden, sei ihm unbekannt, jedenfalls gebe es mit den in Frage kommenden
Personen ohnehin persönliche Probleme.
14 Mit Urteil vom 27.07.2006 - A 1 K 10388/05 - hat das Verwaltungsgericht Stuttgart -
neben den Klagen seiner Ehefrau und seiner Kinder - auch die Klage des Klägers
abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Widerruf der
Flüchtlingsanerkennung sei zu Recht erfolgt, da sich die innenpolitischen und
sonstigen Verhältnisse in Angola nach dem maßgeblichen Zeitpunkt erheblich und
nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass dem Kläger bei einer Rückkehr
nach Angola keine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG mehr drohe.
Eine politische Verfolgung des unverfolgt ausgereisten Klägers in Angola wegen
seiner exilpolitischen Tätigkeit könne, selbst wenn diese Tätigkeit in Angola
bekannt wäre, mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Mit
staatlichen Repressionen müssten lediglich Personen rechnen, die in besonders
ausgeprägter Weise an Kampfhandlungen gegen das Regime teilgenommen
hätten. Übergriffe auf UNITA-Angehörige seien nur vereinzelt bekannt geworden
und bezögen sich auf Personen, die vor Ort in Kampfhandlungen verstrickt
gewesen seien. Gegenüber exilpolitisch Tätigen seien keine Übergriffe bekannt,
die Tätigkeit des Klägers sei im Übrigen keine exponierte politische Aktivität. Eine
politische Verfolgung aus anderen Gründen drohe ebenfalls nicht mit hinreichender
Sicherheit, insbesondere auch nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe
der Bakongo. Ferner lägen keine Gefahren aufgrund der allgemeinen
angolanischen Sicherheits- und Versorgungslage vor, die gemäß § 73 Abs. 1 S. 3
AsylVfG ein Absehen von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen
Unzumutbarkeit der Rückkehr rechtfertigten. Es bestehe auch kein Anspruch auf
Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 - 5 und 7 AufenthG.
Was § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG angehe, verleihe diese Vorschrift dem Ausländer
dann keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots, wenn er sich
auf Gefahren berufe, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der er
angehöre, allgemein ausgesetzt sei. So liege es hier etwa im Hinblick auf die
Gefahr der Erkrankung an Malaria und Cholera in Angola.
15 Gegen das dem Kläger am 21.09.2006 zugestellte Urteil hat dieser mit Schriftsatz
vom 05.10.2006 die Zulassung der Berufung beantragt.
16 Mit Beschluss vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 -, dem Kläger zugestellt am
23.01.2008, hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs die Berufung des
Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen und ihm
Prozesskostenhilfe bewilligt. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, die
Rechtssache habe grundlegende Bedeutung in Bezug auf die Frage, ob sich die
Situation in Angola nach Ende des Bürgerkriegs im April 2002 so erheblich und
nicht nur vorübergehend geändert habe, dass Verfolgungsmaßnahmen gegenüber
Personen, die für die UNITA tätig gewesen seien, auf absehbare Zeit mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen seien.
17 Unter dem 28.01.2008 hat der Kläger die Berufung begründet.
18 Er trägt vor, das angefochtene Urteil beruhe auf einer Verletzung der Rechtskraft
des Urteils im Vorverfahren. Denn ein Widerruf der Asylanerkennung sei nur dann
zulässig, wenn sich die im Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse
nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass bei
einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für
die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit
ausgeschlossen sei und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohe. Das
Verwaltungsgericht habe aber unter Bezugnahme auf den Bundesamtsbescheid
vom 10.02.2005 lediglich darauf abgehoben, ob dem Kläger politische Verfolgung
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Die Elemente „nicht nur vorübergehend“
und „hinreichende Sicherheit auf absehbare Zeit“ habe es ignoriert. Es verfehle
auch die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Kriterien, wonach im
Heimatstaat eine funktionierende Regierung, grundlegende Verwaltungsstrukturen
und eine angemessene Infrastruktur gegeben sein müssten. Diese
Voraussetzungen lägen in Angola nicht vor. Die die Vorverfolgung begründenden
Machtstrukturen seien auch nach Beendigung der militärischen Kämpfe bestehen
geblieben. Die MPLA als derzeit allein herrschende politische Kraft sei erheblich
konsolidiert. Zwar könne gegenwärtig nicht mehr davon ausgegangen werden,
dass UNITA-Aktivisten generell verfolgt würden. Dass dies nicht nur
vorübergehend, sondern auf absehbare Zeit ausgeschlossen sei, könne aufgrund
der faktischen Alleinherrschaft der MPLA jedoch derzeit mangels
gewaltenteilender, rechtsstaatlicher, demokratischer und
menschenrechtsbeachtender Strukturen nicht festgestellt werden. Als
gegenwärtige Oppositionspartei sei die UNITA angesichts der Vorherrschaft der
MPLA in einer Position der Schwäche. In den Provinzen habe es auf Distrikt- und
Kommunalebene eine Reihe gewalttätiger Angriffe gegen UNITA-Delegationen
und andere Parteien gegeben. Entgegen den Versicherungen von MPLA-
Regierungsvertretern, diese „Exzesse von Individuen“ seien Sache der Polizei und
Justiz, seien bislang keine Strafverfolgungsmaßnahmen bekannt geworden.
Ungenügende Infrastruktur und Kommunikation, chronischer Mangel an
qualifiziertem Personal und mangelnde Gewaltenteilung zeichneten das
angolanische Justizsystem nach wie vor aus, weshalb Straflosigkeit und
Selbstjustiz noch immer verbreitet seien. Dementsprechend seien auch Attentate
auf oppositionelle Parlamentarier wie gegen den UNITA-Parlamentarier Vicente
Tembo, der am 11.11.2004 von Unbekannten angeschossen worden sei,
unaufgeklärt geblieben. Ungeachtet der Tatsache, dass es eine generelle
politische Verfolgung von Mitgliedern der Opposition in Angola derzeit nicht gebe,
könne doch ein politisch motiviertes asylrelevantes Vorgehen von Teilen der
Sicherheitskräfte oder Angehörigen des MPLA-Machtapparats und/oder von den
herrschenden Kräften angestacheltes und/oder jedenfalls nicht verhindertes
Vorgehen Dritter gegen UNITA-Mitglieder derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit
ausgeschlossen werden. Gegen solche Übergriffe sei auch kein Schutz durch
staatliche Autorität zu erwarten. Zudem werde die angolanische
Menschenrechtsorganisation AJPD von der Regierung bedroht. Es herrsche ein
Klima der politischen Intoleranz und Angst. Auch die Wahlen am 05.09.2008 seien
weder frei noch fair gewesen. Aus diesen Gründen könne die erneute Verfolgung
des Klägers aufgrund seiner UNITA-Mitgliedschaft nicht mit hinreichender
Sicherheit ausgeschlossen werden.
19 Der Kläger beantragt,
20 das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27.07.2006 - A 1 K 10388/05 -,
soweit es ihn selbst betrifft, zu ändern, sowie die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989-223)
aufzuheben.
21 Die Beklagte tritt dem entgegen und macht geltend, der Bürgerkrieg in Angola sei
beendet, sodass Angehörigen der UNITA keine Verfolgung mehr drohe. Dies gelte
selbst für militante Kämpfer und hochrangige Mitglieder der Organisation. Es lägen
für die vergangenen Jahre keine Hinweise auf asylrechtlich relevante
Verfolgungsmaßnahmen von Mitgliedern der UNITA im Gegensatz zu Aktivisten
der Organisation FLEC, die für eine Unabhängigkeit der Provinz Cabinda eintrete,
vor.
22 Mit Beschluss vom 21.01.2010 - A 5 S 135/08 - hat der 5. Senat des
Verwaltungsgerichtshofs auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens
angeordnet. Das Verfahren ist nach dem Ergehen des Urteils des Europäischen
Gerichtshofs vom 02.03.2010 in den Rechtssachen C 175/08, C 176/08, C 178/08
und C 179/08 zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 e der Richtlinie 2004/83/EU des
Rates vom 29.04.2004 (Qualifikationsrichtlinie) mit Schriftsatz des Beklagten vom
12.01.2011 wieder angerufen worden. Hiernach sei, so der Beklagte, bei der
Prüfung eines Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft generell zu
beachten, dass der der Prognose zu Grunde zu legende
Wahrscheinlichkeitsmaßstab selbst dann unverändert bleibe, wenn der
Schutzsuchende bereits Vorverfolgung erlitten habe, weshalb die Vermutung des
Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie im Einzelfall selbst dann widerlegt sein
könne, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im
Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs gegeben sei. Die
Rechtskraft des zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führenden
verwaltungsrechtlichen Urteils könne dem nicht entgegenstehen. Es werde zudem
auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 25.02.2010 -
A 5 S 640/09 - Bezug genommen. Sei mit dem Verwaltungsgericht mit dem Grad
der hinreichenden Sicherheit eine Gefährdung des Klägers nach einer Rückkehr
nach Angola auszuschließen, könne dies nur als stichhaltiger Grund im Sinne von
Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie eingestuft werden. Denn bei
festzustellender hinreichender Verfolgungssicherheit sei im Ergebnis dem
Erfordernis stichhaltiger Gründe Genüge getan.
23 Mit Schriftsatz vom 25.07.2012 ließ der Kläger mitteilen, er sei im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis und bemühe sich um seine Einbürgerung in den
deutschen Staatsverband.
24 Mit Beschluss vom 17.12.2012 - A 5 S 148/11 - ist auf Antrag der Beteiligten erneut
das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
25 Unter dem 06.10.2014 hat der Beklagte das Verfahren wieder angerufen, nachdem
sich kein positiver Abschluss des Einbürgerungsverfahrens des Klägers
abgezeichnet hat. Das Verfahren wird seither unter dem Aktenzeichen A 12 S
1999/14 fortgeführt.
26 Dem Senat liegen die Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu
den Az. 2313865-223 und 5132989-223 sowie die Akten des Verwaltungsgerichts
Stuttgart zu den Verfahren A 9 K 10000/01 und A 1 K 10388/05 vor. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf diese Akten und die im Verfahren vor dem
Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
27 Die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 -
zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO)
des Klägers ist nicht begründet.
28 Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers gegen die Nrn. 1 und 2 des
Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5
132 989.223) - nur hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers - zu Recht
abgewiesen. Denn der Kläger kann nicht die Aufhebung des Widerrufs der mit dem
Bescheid des Bundesamtes vom 15.05.2001 getroffenen Feststellung verlangen,
dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen (vgl.
nachfolgend unter 1.). Ihm kommt auch kein Anspruch auf Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. §§ 3 bis 3e AsylG
(jeweils i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015,
BGBl. I S. 1722) zu (vgl. unter 2.).
29 1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005
ist in seiner Nr. 1 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§
113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der
Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor
dem Senat sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG für den
Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG a.F. sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht gegeben.
30 a) Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft bzw. der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG a.F. gegeben sind, hatte bei Entscheidungen über Asylanträge, die
vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden sind, spätestens bis zum 31.12.2008
zu erfolgen (§ 73 Abs. 2a, Abs. 7 AsylVfG a.F.), was vorliegend mit der
Entscheidung des Bundesamtes vom 10.02.2005 beachtet worden ist.
31 b) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist in
materieller Hinsicht § 73 AsylG in der Fassung des
Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722. Nach
§ 73 Abs. 1 S. 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die
Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift
insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen
kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen
Staatsangehörigkeit er besitzt.
32 Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art.
11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004
über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die
anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu
gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 304 S. 12; berichtigt
ABl. 2005 Nr. L 204 S. 24; nunmehr: Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf
internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für
Personen mir Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu
gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 S. 9) über das Erlöschen der
Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden
Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 S. 1 und 2
AsylG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden
Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6
der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren.
33 Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ist ein
Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände,
aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen
kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen
Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben
die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die
Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die
Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen
werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung
dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings,
gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und
alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in
jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist
oder es nie gewesen ist.
34 Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach
Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der
Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 02.03.2010 (Rs. C-​175/08 u.a.,
Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Eine erhebliche Veränderung
der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt danach voraus, dass
sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich
geändert haben. Des Weiteren muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die
die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur
Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden
können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und
Dauerhaftigkeit vgl. auch BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O., m.w.N.).
35 Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft,
wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger
als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung
der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen
Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie
2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu
erfolgen. Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das
Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und 14
Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren,
unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden. Der
Richtlinie 2004/83/EG ist ein solches materiellrechtliches Konzept
unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose
fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen
Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der
Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der
tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der
Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt.
Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein
einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "...
aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2c der Richtlinie enthaltene
Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des
Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem
Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven
Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche
Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9
i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das
Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil v. 02.03.2010,
a.a.O., Rn. 84 ff., 98 f.; BVerwG, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 7.11- Buchholz 402.25
§ 73 AsylVfG Nr. 43).
36 Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn
bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung
gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein
größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden
Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht letztlich der
Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines
besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des
Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den
Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber eine Rückkehr in
den Heimatstaat auch dann sein, wenn auch nur ein mathematischer
Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung
gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit
einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer
Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die reale
Möglichkeit einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das
Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil v.
05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162).
37 Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde
liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur
vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die
Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur
Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden
können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der
Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger
Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine
begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte
Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen
Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als
stabil erweist, d. h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf
absehbare Zeit anhält. Eine Veränderung kann in der Regel nur dann als dauerhaft
angesehen werden, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger
Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der
geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende
Verfolgung zu verhindern (BVerwG, Urteil v. 24.02.2011 - 10 C 3.11 - BVerwGE
139, 109). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn
dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht
(erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt
zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der
Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der
Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus
der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des
Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten
Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt
(BVerwG, Urteil v. 05.11.1991, a.a.O.), gilt dies auch für das Kriterium der
Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger
muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert
werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden
Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen,
sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen.
Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung
mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der
menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den
Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil v. 02.03.2010,
a.a.O.). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf
unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden (vgl. BVerwG, Urteil v.
01.06.2011, a.a.O.).
38 Die Rechtskraft des zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtenden
verwaltungsgerichtlichen Urteils aus dem Jahr 2001 steht einer
Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht entgegen, wenn sich die zur
Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich
entscheidungserheblich verändert hat (sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft,; vgl.
BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 m.w.N.). Nach § 121
Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger,
soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle
und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene
Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage nicht befugt, einen neuen
Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl.
BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.). Die Behörde ist aber bei einer
entscheidungserheblichen Änderung des für die Flüchtlingsanerkennung
maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für
die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem
rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist im Asylrecht dann der Fall,
wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die
Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich
von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter
Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute
Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist
(BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.).
39 Die Rechtskraftwirkung besteht grundsätzlich unabhängig davon, ob das
rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage
erschöpfend und zutreffend gewürdigt hat (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.).
Allerdings entfalten fehlerhafte Urteile keine weitergehende Rechtskraftwirkung als
fehlerfreie Urteile. Eine Lösung von der Rechtskraftwirkung eines Urteils, das das
Bundesamt zur Anerkennung als Asylberechtigter und Flüchtling verpflichtet hat, ist
vielmehr immer dann möglich, wenn sich die zum Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage nachträglich
entscheidungserheblich verändert hat, unabhängig davon, ob das zur
Anerkennung verpflichtende Urteil richtig oder fehlerhaft war.
40 Die Voraussetzungen für eine Beendigung der Rechtskraftwirkung entsprechen
damit weitgehend denen, die für den Widerruf einer Anerkennungsentscheidung
nach § 73 Abs. 1 AsylG gelten. Denn auch § 73 Abs. 1 AsylG setzt eine
wesentliche Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen Verhältnisse
voraus. Für den Widerruf einer Behördenentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG hat
das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass es unerheblich ist, ob die
Anerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt ist (vgl. BVerwG, Urteil v.
19.09.2000 - 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80). Der Anwendung des § 73 Abs. 1 S. 1
AsylG auf rechtswidrige Verwaltungsakte steht danach auch nicht entgegen, dass
die Voraussetzungen einer zu Unrecht erfolgten Asylanerkennung oder
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Nachhinein scheinbar nicht entfallen
sein können, da sie begriffsnotwendig von Anfang an nicht vorlagen. Diese Sicht
verstellt den Blick für den eigenständigen, nicht an die Rechtswidrigkeit des
Ausgangsbescheids, sondern an die nachträgliche Veränderung der politischen
Verhältnisse im Verfolgerland anknüpfenden Regelungszweck der
Widerrufsbestimmung. Dies gilt erst recht für den Widerruf der auf einem
Verpflichtungsurteil beruhenden Anerkennung, von deren Rechtmäßigkeit wegen
der Rechtskraft des Urteils auch im Rahmen der Widerrufsprüfung auszugehen ist
(vgl. BVerwG, Urteil v. 22.11.2011 - 10 C 29.10 - NVwZ 2012, 1042, Urteil v.
01.03.2012 - 10 C 8.11 - AuAS 2012, 153).
41 Zwar kann ein reiner Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung
bewirken. Allerdings sind - so das Bundesverwaltungsgericht - „wegen der Zeit-
und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose
Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne
besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren
eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt“
(Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.), und können sich Widerrufsgründe nach der
Auffassung des Senats durchaus auch aus Veränderungen in der Person des
Flüchtlings ergeben (GK-AsylVfG, Stand August 2012, § 73 Rn. 23 und 28; vgl.
auch OVG Saarland, Urteil v. 25.08.2011 - 3 A 34/10 -, a.a.O.; VG Gelsenkirchen,
Urteil v. 14.05.2013 - 14a K 1699/11.A - juris).
42 Für den Widerruf der Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung ist schließlich in der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil v.
29.06.2015 - 1 C 2.15 - InfAuslR 2015, 401) entschieden, dass der
Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen ist und das
Gericht auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von
der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen hat (BVerwG, Urteil
v. 31.01.2013 - 10 C 17.12 - BVerwGE 146, 31). Denn die Aufhebung eines
solchen, nicht im Ermessen der Behörde stehenden, Verwaltungsaktes setzt nach
§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO unter anderem seine objektive Rechtswidrigkeit voraus;
daran fehlt es auch dann, wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht
angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein
angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn
der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und
er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch
andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Dies entspricht der
im Asylverfahren geltenden Konzentrations-und Beschleunigungsmaxime, nach
der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess
abschließend geklärt werden sollen (s.a. BVerwG, Urteil v. 8.09.2011 - 10 C 14.10 -
BVerwGE 140, 319; Beschluss v. 10.10.2011 - 10 B 24.11 - juris).
43 c) Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich für den Kläger aus heutiger Sicht
aufgrund der in Angola seit Mitte des Jahres 2002 eingetretenen veränderten
Verhältnisse sowie aufgrund der seither verstrichenen Zeit von über 13 Jahren und
des individuellen Vorbringens der Klägers nicht (mehr) mit der erforderlichen
beachtlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass dieser bei einer unterstellten
nunmehrigen Rückkehr nach Angola von nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. relevanten
Verfolgungsmaßnahmen betroffen werden wird, was letztlich auch die
Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom
23.03.2001 nach den o.g. Maßstäben rechtfertigt.
44 Der insoweit anzustellenden Prognose ist zunächst die Einschätzung des
Verwaltungsgerichts Stuttgart aus dem Jahr 2001 zu Grunde zu legen, wonach der
in seiner Heimat nicht tatsächlich verfolgte und von politischer Verfolgung auch
nicht unmittelbar bedroht gewesene Kläger seinerzeit in Deutschland als im Exil
befindlicher Informationssekretär der UNITA aufgrund selbstgeschaffener
Nachfluchtgründe in Angola zumindest mit seiner Inhaftierung zu rechnen hatte,
was aufgrund der dortigen spezifischen Haftbedingungen zudem eine
unmenschliche bzw. erniedrigende Maßnahme dargestellt hätte.
45 Relevant ist vor diesem Hintergrund in erster Linie, ob sich die Verhältnisse in
Angola seither derart nachhaltig und stabil geändert haben, dass seitens des
angolanischen Staates entsprechende Maßnahmen „asylrelevanter Weise“ bei
einer unterstellten jetzigen Rückkehr des Klägers nach Angola nicht mehr mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (vgl. BVerwG, Urteil v.
01.03.2012, a.a.O.). Insbesondere ist daher von Bedeutung, ob es in Angola zu
einer hinreichend erheblichen und dauerhaften Veränderung der Umstände im
Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/83/EG gekommen ist, weil sich eine
signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die
Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass für den Kläger keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht, er insbesondere nicht mehr mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat, der dargestellten
unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
46 Die Veränderung der Verhältnisse muss danach kausal für den Wegfall der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung sein (vgl. auch VGH Baden-
Württemberg, Beschluss v. 04.08.2011 - A 2 S 1381/11- juris), wobei das
Erfordernis der Veränderung der Verhältnisse in Widerrufsfällen gerade auch
deshalb einer gesonderten Prüfung bedarf, um eine unzulässige Neubewertung
der Gefährdungslage auf ein und derselben Tatsachengrundlage zu vermeiden.
47 Nach der jüngeren Rechtsprechung (des 5. Senats) des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg stellt sich Situation in Angola nach dem schon im Jahr 2002
beendeten, insbesondere zwischen der MPLA und der UNITA geführten
Bürgerkrieg so dar, dass angolanischen Staatsangehörigen im Falle einer
Rückkehr nach Angola weder wegen Stellung eines Asylantrags und eines
Auslandsaufenthalts noch wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Bakongo
bzw. einer Nähe zur UNITA mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK
widersprechende menschenrechtswidrige Behandlung droht. Auch wenn es immer
noch zu von den staatlichen Sicherheitskräften begangenen
Menschenrechtsverletzungen komme, habe sich die Menschenrechtlage
zwischenzeitlich deutlich verbessert (Urt. v. 25.02.2010 - A 5 S 640/09 - juris). In
einem Verfahren, in welchem der dortige Kläger bereits vor seiner Ausreise aus
Angola Mitglied der UNITA gewesen ist und als tatsächlich verfolgt anzusehen war,
hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs - noch ohne Berücksichtigung des
Urteils des EuGH vom 02.03.2010 (a.a.O.) - das Folgende ausgeführt (Urteil v.
01.02.2010 - A 5 S 123/08 - juris):
48 „Dem Kläger zu 1 droht zwar aufgrund seiner früheren - unter den Beteiligten nicht
streitigen - Tätigkeit für die UNITA und seiner späteren exilpolitischen Betätigung
bei einer Rückkehr nach Angola ersichtlich nicht mehr mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (vgl. insbes. British Home Office,
Operational Guidance Note v. 11. bzw. 29.07.2008, 3.8.8 „clearly unfounded“),
doch ist er vor einer solchen - derzeit und auf absehbare Zeit - nicht hinreichend
sicher. (…)
49 Bei seiner Einschätzung geht der Senat (vgl. bereits Senatsurt. v. 11.12.2008 - A 5
S 1251/06 -, InfAuslR 2009, 215f) aufgrund der zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen von folgender Situation in Angola aus:
50 Nachdem der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen der Rebellen-UNITA und der
MPLA-Regierung im März 2002 sein Ende gefunden und die Verhandlungen
zwischen den Bürgerkriegsparteien am 04.04.2002 zu einem
Waffenstillstandsabkommen mit einer Wiederaufnahme der Umsetzung des
Lusaka-Protokolls vom November 1994 geführt hatten, gibt es seitdem in fast allen
Bereichen Fortschritte zu verzeichnen. Die UNITA wurde an der Regierung beteiligt
und erhielt daneben auch führende Positionen in den Provinzen. Die Regierung
hatte auch zugesagt, die Reorganisation der UNITA zur politischen Partei nicht zu
behindern. Die beschlossene Demobilisierung der UNITA-Kämpfer konnte trotz
Anlaufschwierigkeiten ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgeführt und am
30.07.2002 abgeschlossen werden; die demobilisierten Kämpfer erhielten Hilfen
zur Integration in das zivile Leben bzw. wurden zu einem kleinen Teil (ca. 5.000)
bis Oktober 2004 in die angolanischen Streitkräfte FAA integriert. Auch das bereits
am 02.04.2002 vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetz, das Straffreiheit
für alle UNITA-Kombattanten vorsieht, die sich innerhalb von 45 Tagen ergeben
und ihre soziale Integration in die Gesellschaft akzeptiert haben, wurde umgesetzt.
Diese Bestimmungen werden auch auf Personen angewandt, die erst jetzt aus
dem Ausland zurückkehren. Ob davon auch lediglich politisch tätige Anhänger der
UNITA profitieren konnten, ist allerdings nicht bekannt (vgl. Schweizerische
Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April
2002 - Update, Oktober 2002). Am 05.09.2008 haben nunmehr auch die seit 1992
ersten Parlamentswahlen stattgefunden, die zuletzt mehrfach vertagt worden
waren. An diesen konnte sich auch die UNITA beteiligen, die sich inzwischen zu
einer ihre verschiedenen Fraktionen wieder vereinigenden politischen Partei
entwickelt hatte. Auch wenn sich politische Parteien seit 2002 grundsätz-lich
betätigen können, kann von für alle Parteien gleichen Voraussetzungen nicht die
Rede sein. Abgesehen davon, dass die staatlichen Medienanstalten zugunsten
der MPLA eingesetzt wurden (vgl. FAS v. 08.09.2008 „Die bösen Jahre sind noch
nicht vorbei“) und für die Oppositionsparteien außerhalb Luandas kein freier
Zugang zu den elektronischen Medien bestand, wurde von staatlich finanzierten
Wahlgeschenken (vgl. hierzu auch Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007)
durch die MPLA und Einschüchterungen durch deren Sympathisanten gesprochen
(vgl. British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006, S.
7; Refugee Documentation Centre (Ireland) vom 09.11.2009; FR v. 05.09.2008
„Das reichste arme Land der Welt wählt“). Die Wahl wurde von der
Regierungspartei MPLA mit knapp 82 % der abgegebenen Stimmen gewonnen,
während die UNITA nur etwas mehr als 10 % der Stimmen auf sich vereinigen
konnte. Die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Gerichte, der
Gewährleistung rechtlichen Gehörs und der Möglichkeit der Verteidigung sind zwar
verfassungsrechtlich verankert, auch sind die bestehenden Gesetze an
rechtsstaatlichen Prinzipien ausgerichtet, jedoch laufen entsprechende Rechte
aufgrund des materiell schlecht ausgestatteten, langsam arbeitenden und
korruptionsanfälligen Justizsystems weitgehend leer. Der Justizweg ist insofern
allenfalls eingeschränkt gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl-
und ab-schieberelevante Lage in der Republik Angola v. 26.06.2007,
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; Africa Yearbook 2006,
Angola, S. 410, 2007). Ermittlungsbehörden und Gerichte sind überlastet,
unterbezahlt, ineffektiv und korruptionsanfällig. Straffreiheit für kriminelle Vergehen
und Menschenrechtsverletzungen sind insofern keine Seltenheit (vgl.
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006, S. 2; amnesty
international, Jahresbericht Angola 2007).
51 Staatliche Repressionsmaßnahmen, die systematisch gegen bestimmte Personen
oder Personengruppen wegen ihrer politischen Überzeugung eingesetzt werden,
gibt es - insoweit ist dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht zu folgen - nicht
mehr. Allerdings sind solche im Einzelfall weiterhin nicht auszuschließen, zumal
der Schutz der Menschenrechte noch immer unzureichend ist und sowohl
staatliche als auch nicht staatliche Akteure weiterhin Menschenrechtsverletzungen
begehen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; British
Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006; amnesty
international, Report Angola 2008 und 2009, Jahresberichte Angola 2007; US
Department of State, Human Rights Report vom 25.02.2009; Human Rights Watch,
Bericht vom 22.06.2009).
52 Zwar müssen selbst ehemalige UNITA-Kämpfer in Angola grundsätzlich nicht mehr
mit staatlichen Repressionen rechnen. So spielen hochrangige ehemalige UNITA-
Militärführer inzwischen durchaus eine wichtige Rolle als Politiker bzw. sind in den
angolanischen Streitkräften FAA weiterhin als solche tätig. Allerdings kam es Mitte
Juli 2004 in vier Orten im Landesinnern zu Übergriffen der lokalen Bevölkerung auf
ehemalige UNITA-Angehörige, die sich dort niederlassen wollten. Besonders
schwer waren die Übergriffe in Cazombo in der Provinz Moxico, bei denen 80
Häuser zerstört worden sein sollen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl-
und abschieberelevante Lage in der Republik Angola v. 05.11.2004 bzw. v.
18.04.2006), nachdem ein ehemaliger UNITA-General die Leitung des dortigen
UNITA-Büros hatte übernehmen wollen. Zwar wurden entsprechende Übergriffe
von Regierungsseite öffentlich kritisiert, doch gibt es verschiedene glaubhafte
Berichte, wonach lokale MPLA-Vertreter in derartige Vorkommnisse involviert
waren und die Polizei nicht zum Schutz der Opposition einschritt (vgl. Auswärtiges
Amt, Bericht v. 26.06.2007).
53 Für UNITA-Angehörige, die sich in Angola für Dritte erkennbar politisch für die
UNITA betätigen, besteht schließlich auch mehr als sieben Jahre nach Ende des
Bürgerkriegs noch ein gewisses Risiko, erheblichen Repressionen seitens der
Anhänger der Regierungspartei MPLA bzw. ihr zuzurechnenden Gruppierungen
ausgesetzt zu sein. So beklagen die verschiedenen Oppositionsparteien –
namentlich die UNITA – regelmäßig Akte „politischer Intoleranz“ hauptsächlich in
den ländlichen Gebieten verschiedener Provinzen, wobei die Verantwortlichen
regelmäßig nicht zur Rechenschaft gezogen würden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht
v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; Human
Rights Watch, Angola: Doubts Over Free an Fair Elections, 12.08.2008; UK Border
Agency, Operational Guidance Note Angola vom 01.06.2009). An dem tief
verwurzelten Klima der Intoleranz wird sich aufgrund der weiteren Marginalisierung
der Zivilgesellschaft und zivilen Oppositionsparteien voraussichtlich auch in
absehbarer Zeit nichts ändern, da insofern das bestehende autoritäre politische
System und die politische Bipolarität zwischen den Bürgerkriegsparteien MPLA
und UNITA unangetastet bleiben dürfte (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe,
Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update,
Oktober 2002).
54 Bereits 2004 wurden von der UNITA zunehmend Fälle von Einschüchterung ihrer
Funktionäre beklagt, die u. a. von Angehörigen einer MPLA-nahen Miliz
ausgegangen sein sollen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im
Übergang - Update März 2005, 31.03.2005, S. 7; British Home Office, Operational
Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch wurde beklagt, dass
zunehmend Erpressung und Druck ausgeübt werde, in die MPLA einzutreten (vgl.
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, S. 1;
Africa Yearbook 2004, Angola, S. 388, 2005: Africa Yearbook 2005, S. 399, 2006).
Wiederholt wurde 2003/2004 von Verfolgungen, Ein-schüchterungen und Gewalt
gegen Funktionäre in verschiedenen Provinzen und Städten im Landesinneren
berichtet (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw.
29.07.2008). Auch 2005 kam es zu mehreren gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Parteien (vgl. Schweizerische
Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; British Home Office, Operational
Guidance Note Angola,11. bzw. 29.07.2008). Im März 2005 sollen in der Stadt
Mavinga eine Person gar getötet und 28 weitere Personen verletzt worden sein,
als UNITA-Mitglieder ihre Parteiflagge zu hissen versuchten (vgl. British Home
Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008; amnesty
international, Jahresbericht Angola 2006). Die UNITA sprach von gezielter
Aufhetzung der Bevölkerung durch die MPLA und die lokalen Behörden mit dem
Ziel, die landesweite Errichtung oppositioneller Strukturen zu verhindern. Selbst
Angolas Präsident dos Santos soll nach den Vorfällen Ende Februar und Mitte
März die Besorgnis der UNITA als „legitim“ anerkannt haben (vgl. Schweizerische
Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 21.03.2005). 2006
berichteten UNITA und MPLA von wechselseitigen körperlichen Angriffen
politischer bzw. militanter Aktivisten auf ihre Mitglieder (vgl. U.S. Departement of
State, Angola - Country Reports on Human Rights Practices - 2006 v. 06.03.2007,
Section 3). Die UNITA sprach gar von 13 getöteten Parteimitgliedern (vgl. Africa
Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007). Auch 2007 berichteten die
Oppositionsparteien von Belästigungen, Einschüchterungen und
Körperverletzungen durch Anhänger der Regierungspartei (vgl. U.S. Departement
of State, Angola - Country Re-ports on Human Rights Practices - 2007 v.
11.03.2008, Section 3). Im März 2007 sollen Unbekannte (vgl. British Home Office,
Operational Guidance Note Angola v. 11. bzw. 29.07.2008; U.S. Departement of
State, Country Reports on Human Rights Practices - 2007, a.a.O.), möglicherweise
gar Polizisten (vgl. amnesty international, Report Angola 2008), in der Provinz
Kwanza Norte während einer Sitzung im örtlichen Parteibüro auf den zu Besuch
anwesenden Parteivorsitzenden der UNITA – Isaias Samakuva – geschossen
haben, der dabei leicht verletzt wurde; über das Ergebnis der deswegen in Gang
gesetzten Untersuchung ist - soweit ersichtlich - noch nichts bekannt. Mitglieder
der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft berichteten auch 2007 von
zunehmender „politischer Intoleranz“. Auch im unmittelbaren Vorfeld der für Herbst
2008 angesetzten Parlamentswahlen wurde von Fällen politischer Gewalt
hauptsächlich in den ländlichen Gebieten berichtet. So seien am 02.03.2008
Mitglieder einer kommunalen UNITA-Delegation im Dorf Kafindua in der Provinz
Benguela von einer Gruppe örtlicher MPLA-Aktivisten geschlagen worden, als sie
ihre Parteiflagge hätten hissen wollen. Die Polizei habe die Angreifer zwar verhört,
jedoch wieder laufen lassen; diese hätten anschließend erklärt, „die Polizei gehöre
ihnen“. Traditionelle Autoritäten seien zunehmend dem Druck der MPLA
ausgesetzt, Aktivitäten der UNITA in den verschiedenen Dörfern zu verhindern. Am
30.05.2008 habe eine Gruppe von MPLA-Anhängern den traditionellen Führer im
Dorf Bongue Kandala in der Provinz Benguela sowie fünf UNITA-Mitglieder
zusammengeschlagen, weil jener zuvor erlaubt hätte, die Parteifahne
hochzuhalten (vgl. Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free and Fair
Elections, 12.08.2008). Am 13.08.2008 sollen UNITA-Mitglieder während einer
öffentlichen Versammlung in Kipeio in der Provinz Huambo von einer Gruppe mit
Stöcken und Steinen angegriffen worden sein; eine Frau musste im Krankenhaus
behandelt werden, die anderen erlitten weniger ernste Verletzungen. Die Polizei
sei zwar eingeschritten, die Angreifer seien jedoch nicht zur Rechenschaft
gezogen worden. In der Provinz Benguela sollen UNITA-Mitglieder am 23.08.2008
gesteinigt worden sein. In Chico da Waiti sei eine 40-köpfige Delegation von
UNITA-Mitglieder mit Steinen beworfen worden, wobei 8 Personen verletzt worden
seien. Die Polizei habe die Delegation eskortiert, jedoch niemanden verhaftet. Der
zuständige Gemeindeverwaltungsbeamte habe später erklärt, dass er lediglich die
Sicherheit der Wahlbeobachter der UNITA, nicht aber für deren Wahlkampagne
garantiere (vgl. Human Rights Watch, Angola: Irregula-rities Marred Historic
Elections, 14.09.2008).
55 Für 2009 sind den bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung
vorliegenden Erkenntnismitteln zwar keine entsprechenden Vorkommnisse im
Zusammenhang mit der UNITA zu entnehmen, lediglich in Zusammenhang mit
dem Vorgehen des Militärs gegen bewaffnete Rebellen der Liberation Front of the
Enclave Cabinda (FLEC) in der Provinz Cabinda soll es in 2009 zu willkürlichen
Verhaftungen gekommen sein (Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009). Es
ist aber noch völlig offen, ob sich diese positive Entwicklung in der Zukunft
verstetigt. Derzeit und auf absehbare Zeit kann deshalb nach wie vor nicht davon
ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 bei einer Rückkehr nach Angola vor
erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre.“
56 Dem Kläger des zu entscheidenden Berufungsverfahrens, der im Gegensatz zu
dem Kläger zu 1 jenes Verfahrens vor seiner Ausreise keine Verfolgung erlitten hat
und der von einer solchen auch nicht unmittelbar bedroht gewesen ist, droht
danach im Falle einer Rückkehr nach Angola politische Verfolgung jedenfalls nicht
(mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil v.
03.12.2009 - A 5 S 122/08 - juris, Urteil v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 - InfAuslR
2009, 215, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1729/97 - juris, Urteil v. 01.02.2002 - A 13
S 1730/97 - juris).
57 Diese Einschätzung ist auch unter Berücksichtigung der in das
Berufungsverfahren eingeführten neueren Erkenntnisquellen für den
gegenwärtigen Zeitpunkt aufrecht zu erhalten.
58 So hat sich die Situation in Angola in den vergangenen Jahren weiter verstetigt,
ohne dass es dabei zu besonderen Veränderungen mit einer Tendenz zum
Besseren oder zum Schlechteren gekommen wäre. Von besonderer Bedeutung
auch für den politischen Prozess der Aussöhnung zwischen den früheren
Bürgerkriegsparteien waren die am 31.08.2012 abgehaltenen Parlamentswahlen,
bei welchen die regierende MPLA zu Gunsten der Oppositionsparteien
Stimmenverluste hinnehmen musste. Die UNITA als größte Oppositionspartei
vermochte ihren Stimmenanteil auf 18,66 % auszubauen, obwohl sich von ihr
zuvor die neue Oppositionspartei CASA-CE abgespalten hatte, die ihrerseits 6 %
der Stimmen errang. Alle am Bürgerkrieg beteiligten Parteien unterstützen die
Wiederaufbauphase, in der sich das Land nach wie vor befindet (Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 22.09.2009 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden).
59 Hingegen ist die MPLA die führende und die Geschicke des Landes
vorherrschend bestimmende Organisation geblieben, die letztlich alle anderen
Parteien im Fokus hat und alle führenden Persönlichkeiten überwacht (Deutsche
Botschaft Luanda, Auskunft vom 15.09.2011 an das Verwaltungsgericht Minden).
In dieser Situation kommt es in Angola immer noch zu
Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei, etwa durch den exzessiven
Einsatz von Gewalt und staatlichem Mord. Nur wenige Beamte mussten sich
hierfür bislang strafrechtlich verantworten. Es wurde über willkürliche Festnahmen
und Inhaftierungen durch die Polizei berichtet, die ihre Funktionen zudem
parteiisch ausübt, vor allem während einiger gegen die Regierung gerichteter
Demonstrationen. Bei der Auflösung von Demonstrationen wurde zum Teil mit
exzessiver Gewalt vorgegangen (Amnesty international, Report Angola 2010 und
2012).
60 Insbesondere im Vorfeld der Wahlen von 2012 gab es Berichte über sporadische
politisch motivierte Gewalttaten von Mitgliedern der MPLA, die sich gegen die
UNITA und das Bündnis CASA-CE richteten. Den Berichten zufolge war aber auch
die UNITA für vereinzelte gewaltsame Handlungen gegen die MPLA
verantwortlich, die politisch motiviert waren (Amnesty international, Report Angola
2013).
61 Am 23.11.2013 wurden in Luanda bei einer vom Innenministerium verbotenen
Demonstration, zu der die UNITA aufgerufen hatte, 292 Personen festgenommen.
Die Demonstration sollte an das ungeklärte Schicksal zweier Aktivisten erinnern,
nachdem Informationen bekannt geworden waren, wonach die beiden im Mai 2012
durch staatliche Kräfte entführt, gefoltert und getötet worden sein sollen (BaMF-
Briefing Notes vom 25.11.2013).
62 Auch für das Jahr 2014 berichtet Amnesty International nach wie vor über -
allerdings ausdrücklich nur sporadische - politisch motivierte Gewalttaten zwischen
Mitgliedern der regierenden MPLA und solchen der UNITA. Friedliche
Demonstrationen wurden mitunter von Polizei und Sicherheitskräften unter
Anwendung von Gewalt unterbunden (Amnesty international, Report Angola 2015).
63 Am 09.03.2014 störten Mitglieder der MPLA in der Provinz Kwanza Sul eine
Gedenkveranstaltung der UNITA zu deren 48-jährigem Bestehen, wobei drei
Provinzführer der UNITA während einer gewaltsamen Auseinandersetzung
zwischen einzelnen Unterstützern der beiden Parteien getötet worden sein sollen.
Öffentlich zugängliche Informationen über irgendwelche Verhaftungen oder
Untersuchungen durch die Polizei wegen dieser Angelegenheit seien nicht
erhältlich gewesen. Die Regierung unternahm gleichwohl generell einige Schritte
zur Verfolgung und Bestrafung des Missbrauchs durch Beamte, welche indes nur
schwer nachvollzogen werden können (US Department of State, Country Report
on Human Rights Angola 2014).
64 Auch auf der Basis der dem Senat im Übrigen zur Verfügung stehenden
Erkenntnisquellen muss festgestellt werden, dass in Angola das geltende
Verfassungsrecht und die gegebene Verfassungswirklichkeit nicht immer
übereinstimmen, was sich vor allem in der Machtausübung der Sicherheitskräfte,
der weitreichenden Korruption und einer Behinderung der Arbeit von Journalisten
zeigt. Gelegentlich wird dieses Bild auch durch einzelne mitunter gewaltsame
Machtdemonstrationen Angehöriger der MPLA gegenüber Anhängern der
Oppositionsparteien bestätigt, ohne dass jedoch angenommen werden müsste,
dass die Betätigung der Oppositionsparteien in Angola generell gefährlich ist bzw.
eine solche gar staatlicherseits unterbunden wird (vgl. US Department of State,
Country Report on Human Rights Angola 2011 und 2012; Refugee Documentation
Centre Ireland v. 22.10.2009; UK Border Agency v. 01.09.2010; Freedom House
Länderberichte 2010, 2011 und 2012).
65 Zutreffend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in diesem
Zusammenhang auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom
10.09.2015 zu Angola (2015/2839(RSP)) hingewiesen, welche vor dem
Hintergrund insbesondere der Festnahme des angolanischen
Menschenrechtsaktivisten José Marcos Mavungo am 14.03.2015 die
angolanische Regierung u.a. dazu auffordert, Fällen von willkürlicher Verhaftung,
rechtswidriger Inhaftierung und Folter durch Polizei- und Sicherheitskräfte
unverzüglich ein Ende zu setzen.
66 Zusammenfassend lässt sich für den Senat festhalten, dass seit der
Flüchtlingsanerkennung des Klägers und weitere 6 Jahre nach dem zitierten Urteil
des Verwaltungsgerichtshofs vom 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - sich die
Verhältnisse in Angola derart verstetigt haben, dass der Kläger nunmehr dort
jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu
befürchten hat.
67 Diese Einschätzung beruht überdies auf der individuellen Situation des Klägers,
der bereits seit Längerem nicht mehr als exilpolitischer Aktivist für die Sache der
UNITA angesehen werden kann. So hat er im Rahmen des Widerrufsverfahrens
nicht mehr von einer ins Gewicht fallenden Fortsetzung seiner Betätigung für die
UNITA für die Zeit nach seiner Flüchtlingsanerkennung berichtet. In der
mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er gar eingeräumt, seit einem ihm
gegenüber ausgesprochenen Verbot der politischen Betätigung durch die Stadt
xxx vom 07.05.2001 nur noch „auf kleiner Flamme“ politisch tätig zu sein. Insoweit
gebe es nichts weiter zu berichten. Der Kläger vermittelte dem Senat auch
keineswegs den Eindruck, er werde nach einer Rückkehr nach Angola seine
Aktivitäten für die UNITA wieder aufnehmen, weil er sich etwa hierzu aufgrund
einer tiefen inneren Überzeugung verpflichtet fühle. Die damit anzunehmende
zwischenzeitliche Veränderung auch in der Person des Klägers (vgl. dazu
allgemein bereits oben) verdeutlichen dem Senat, dass dieser im Fall seiner
nunmehrigen Rückkehr nach Angola auch nicht von einer im Jahr 2015
möglicherweise wieder etwas verschärfteren Situation für Regimegegner betroffen
wäre.
68 Anhaltspunkte für das Vorliegen von dem Kläger nicht geltend gemachter
Anfechtungsgründe (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015, a.a.O.) lassen sich für den
Senat im Übrigen nicht erkennen.
69 Dass der Kläger schließlich - wie dies sein Prozessbevollmächtigter in der
mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat - aufgrund des verhängten Verbots
der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 einem Flüchtling,
dem die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu Gute kommt,
gleichzustellen sei, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen.
70 d) Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat schließlich auch
nicht aufgrund der Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG auszuscheiden.
Denn der Kläger kann sich ersichtlich nicht auf zwingende auf früheren
Verfolgungen beruhende Gründe berufen, um eine Rückkehr nach Angola
abzulehnen.
71 2. Aus dem Vorgenannten ergibt sich zugleich, dass der von dem Kläger
angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
10.02.2005 auch hinsichtlich seiner Nr. 2, wonach die Voraussetzungen des § 60
Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vorliegen, rechtmäßig ist.
72 Es kommt daher für die Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht darauf
an, ob der von ihm gewählte isolierte Antrag auf Aufhebung der diesbezüglichen
Entscheidung des Bundesamtes überhaupt sachdienlich ist.
73 Gem. § 60 Abs. 1 AufenthG i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes
vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722, darf in Anwendung des Abkommens vom 28.
Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein
Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder
seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu
einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung
bedroht ist (vgl. im Übrigen §§ 3 bis 3e AsylG).
74 Eine nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr drohende
Gefährdung kommt ausgehend von dem Vorbringen des Klägers ebenfalls nur mit
Blick auf die Befürchtung von Repressionen im Zusammenhang mit seinem
geltend gemachten exilpolitischen Verhalten in Betracht. Wie bereits ausgeführt,
kann insoweit jedoch für den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der
Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht
von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden, was in erster
Linie darin begründet ist, dass der Kläger bereits seit Längerem so gut wie gar
nicht mehr exilpolitisch tätig ist und er auch für den Fall seiner Rückkehr nach
Angola in keiner Weise bekundet hat, sich dort zukünftig aktiv für die UNITA
politisch betätigen zu wollen.
75 Die Berufung des Klägers ist nach allem mit der sich aus § 154 Abs. 2 VwGO
ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.
76 Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
77 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs.
2 VwGO gegeben ist.