Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 29.04.2015

einstellung des verfahrens, subjektives recht, ablauf der frist, bundesamt

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 29.4.2015, A 11 S 121/15
Zuständigkeitsbestimmung nach Dublin-VO nach Ablauf der Überstellungsfrist
Leitsätze
1. Ist die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens infolge des Ablaufs der
Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen und ist eine
Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat nicht mehr möglich, so hat der betreffende
Antragsteller einen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens durch die
Bundesrepublik Deutschland.
2. In dieser Situation ist allein die Anfechtungsklage in Bezug auf die Entscheidung,
den Asylantrag als unzulässig abzulehnen, statthaft.
3. Ein Folgeschutzgesuch im Sinne des § 71a AsylVfG liegt unter Geltung der VO
Dublin II dann nicht vor, wenn der betreffende Antragsteller nach dem nationalen
Recht des ersuchten Mitgliedstaats einen Anspruch auf formlose Wiedereröffnung
bzw. Fortführung des dort betriebenen Verfahrens gehabt hätte. Allein mit dem
Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland geht kein Verlust dieses
Rechts einher. Unter der Geltung der VO Dublin III folgt dieses unmittelbar aus Art. 18
Abs. 2 UA 2
4. Auch wenn ein Zweitantrag vorläge, der die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3
VwVfG nicht erfüllt, kann die Entscheidung nach § 31 Abs. 6 AsylVfG nicht als
Entscheidung, wonach ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird,
aufrechterhalten oder in eine solche umgedeutet werden.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom
11. November 2014 - A 3 K 4877/13 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Die in den Jahren 1980, 1982, 2002, 2004, 2006, 2008, 2010 und 2012 geborenen
Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie
reisten am 16.06.2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am
17.06.2013 Asylanträge.
2 Bei ihrer auf den Flucht- und Reiseweg beschränkten Anhörung vor dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gaben die Kläger Ziffer 1 und 2 unter
anderem an, sie hätten bereits zuvor am 12.06.2013 in Polen Asylanträge gestellt.
3 Auf ein entsprechendes Ersuchen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge
vom 21.10.2013 erklärten die zuständigen polnischen Behörden mit Schreiben
vom 24.10.2013 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge gemäß Art.
16 Abs. 1 lit. d) VO Dublin II.
4 Hierauf stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom
22.11.2013 fest, dass die Asylanträge unzulässig sind, und ordnete die
Abschiebung der Kläger nach Polen an.
5 Die Kläger erhoben am 05.12.2013 Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart und
trugen zu deren Begründung zunächst vor, dass Tschetschenen auch vor
Übergriffen im europäischen Ausland nicht zurückschreckten, zeige die
Verurteilung von drei Attentätern durch die österreichische Justiz wegen der
Tötung von Umar Isrilov am 13.01.2009. Deshalb habe die Beklagte vorliegend
ausnahmsweise von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Bei der Klage
handle es sich um eine Anfechtungsklage kombiniert mit einer Untätigkeitsklage.
Die Untätigkeit ergebe sich daraus, dass das Bundesamt gegenüber dem
zuständigen Regierungspräsidium Karlsruhe mittlerweile eingeräumt habe, dass
die Frist für ihre Rücküberstellung am 10.07.2014 abgelaufen sei. Im Übrigen sei
sie, die Klägerin Ziffer 2, nicht reisefähig. Ergänzend wurden drei ärztliche
Befundberichte des C. Bad Göppingen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
vom 08.04., 04.08. und 02.10.2014 sowie eine ausführliche psychologische
Stellungnahme der Diplom-Psychologin R... M... vorgelegt, bei der sich die Klägerin
Ziffer 2 seit dem 11.06.2014 in tiefenpsychologisch fundierter traumaadaptierter
Psychotherapie befindet.
6 Die Beklagte trat den Klagen aus den Gründen des angefochtenen Bescheids
entgegen.
7 Ein von den Klägern betriebenes Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes blieb
erfolglos (Beschluss vom 02.01.2014 - A 3 K 4848/13).
8 In der mündlichen Verhandlung gab die Klägerin Ziffer 2 nach ihrem
Gesundheitszustand befragt an, neben ihren massiven psychischen Problemen,
wegen derer sie nach wie vor in psychologischer Behandlung sei, habe sie nun
auch noch Probleme mit dem Herzen.
9 Durch Urteil vom 11.11.2014 hob das Verwaltungsgericht den angegriffenen
Bescheid auf. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus: Die Klage sei
lediglich teilweise als (isolierte) Anfechtungsklage gegen den Bescheid der
Beklagten vom 22.11.2013 zulässig. Dies gelte auch insoweit, als die Beklagte den
Asylantrag der Kläger als unzulässig verbeschieden habe. In den Fällen, in denen
die Beklagte einen von einem Ausländer gestellten ersten Asylantrag noch nicht in
der Sache beschieden habe, sei nämlich kein Raum für eine Verpflichtungsklage.
10 Die danach allein zulässige Anfechtungsklage sei auch begründet. Der
angefochtene Bescheid sei rechtwidrig und verletze die Kläger in ihren Rechten.
Dies folge allerdings nicht schon aus § 27a AsylVfG. Danach sei ein Asylantrag
unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der
Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Für die Durchführung des
Asylverfahrens der Kläger sei Polen zuständig. Auch seien den vorliegenden
Erkenntnisquellen keine systemischen Mängel im Asylverfahren in Polen zu
entnehmen. Indessen erweise sich die im angefochtenen Bescheid enthaltene
Abschiebungsanordnung jedenfalls in dem für die gerichtliche Entscheidung
maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als rechtswidrig. Gemäß §
34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordne das Bundesamt die Abschiebung in den
zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) an, sobald feststehe, dass die Abschiebung
durchgeführt werden könne. Diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erfüllt. Zwar
sei eine Abschiebung der Kläger nach Polen nicht wegen Ablaufs der
Überstellungsfrist unzulässig geworden. Jedoch liege bei der Klägerin Ziffer 2 im
maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein inländisches
Vollstreckungshindernis vor. Es sei anerkannt, dass das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge anders als bei Erlass einer Abschiebungsandrohung bei Erlass
einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylVfG auch inlandsbezogene
Vollstreckungshindernisse und Duldungsgründe zu prüfen habe. Aus den von den
Klägern mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 13.10.2014 vorgelegten
Unterlagen ergäben sich nach Überzeugung des Gerichts bereits hinreichende
Anhaltspunkte für eine Reiseunfähigkeit der Klägerin Ziffer 2 im
entscheidungserheblichen Zeitpunkt. Liege jedoch bei der Klägerin Ziffer 2 im
maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein inländisches
Vollstreckungshindernis vor, erstrecke sich dieses im Hinblick auf das Erfordernis
der Wahrung der Familieneinheit gemäß Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 bis 11 VO
Dublin III auch auf die anderen Kläger des vorliegenden Verfahrens.
11 Das Urteil wurde der Beklagten am 21.11.2014 zugestellt.
12 Am 17.12.2014 beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung.
13 Durch am 23.01.2015 der Beklagten zugestellten Beschluss vom 14.01.2015 ließ
der Senat die Berufung zu, soweit die Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids
aufgehoben worden war, und lehnte den Antrag im Übrigen ab.
14 Am 23.02.2015 begründete die Beklagte die Berufung unter Stellung eines Antrags
und unter Bezugnahme auf ihre Ausführungen im Zulassungsantrag. Die
Überstellungsfrist nach der VO Dublin II sei zwar mittlerweile abgelaufen, es sei
auch nicht mehr beabsichtigt, die Kläger nach Polen zu überstellen. Polen würde
zwar im Falle einer Rückkehr bis zu zwei Jahre nach einer erfolgten vorläufigen
Einstellung des Verfahrens dieses wiedereröffnen. Es müsse jedoch davon
ausgegangen werden, dass Polen im Falle einer Einreise der Kläger ein
Wiederaufnahmeersuchen an die Bundesrepublik stellen würde. Damit könne die
im Streit befindliche Entscheidung, wonach die Asylanträge unzulässig seien, nicht
mehr auf § 27a AsylVfG gestützt werden. Allerdings lägen mittlerweile Zweitanträge
im Sinne des § 71a AsylVfG vor. Da aber die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis
3 VwVfG nicht vorlägen, könne die angegriffene Entscheidung insoweit
aufrechterhalten bleiben, jedenfalls könnten die Kläger nicht in eigenen Rechten
verletzt sein. Ungeachtet dessen sei der isolierte Anfechtungsantrag schon nicht
zulässig. Das Verwaltungsgericht wäre verpflichtet gewesen, die Sache spruchreif
zu machen. Deshalb seien die Klagen mit dem Anfechtungsantrag auch aus
diesem Grund abzuweisen.
15 Die Beklagte beantragt,
16 das Urteil des Verwaltungsgericht Stuttgart vom 11.11.2014 - A 3 K 4877/13 - zu
ändern und die Klagen abzuweisen.
17 Die Kläger beantragen,
18 die Berufung zurückzuweisen.
19 Sie machen sich im Wesentlichen das angegriffene Urteil zu eigen.
20 Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens wird auf die gewechselten
Schriftsätze verwiesen.
21 Dem Senat lagen die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Akten des
Verwaltungsgerichts Stuttgart vor.
Entscheidungsgründe
22 Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie rechtzeitig und den gesetzlichen
Formerfordernissen genügend begründet.
23 Die Berufung ist jedoch nicht begründet.
24 Die Klage gegen die Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids ist als Anfechtungsklage
statthaft und im Übrigen zulässig (vgl. hierzu im Folgenden). Insbesondere hat sich
der Rechtsstreit nicht durch den lediglich im Entwurf vorgelegten Bescheid vom
28.04.2015 erledigt, der den Klägern bislang noch nicht zugestellt wurde. Im
Übrigen hat der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung erläutert,
dass die Ziffer 1 nicht als Zweitbescheid, sondern lediglich als Erläuterung und
Bekräftigung der Rechtsauffassung der Beklagten zu verstehen sei.
25 Sie ist auch in der Sache begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Ziffer 1 des
Bescheids der Beklagten vom 22.11.2013, die allein noch Gegenstand des
Berufungsverfahrens ist, im Ergebnis zu Recht aufgehoben.
26 Nach dem für den Senat gem. § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt seiner
Entscheidung ist die Ziffer 1, mit der die Asylanträge der Kläger gem. § 31 Abs. 6
AsylVfG der Sache nach als unzulässig abgelehnt wurden (vgl. zur Auslegung des
Tenors Senatsurteil vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 - InfAuslR 2015, 77),
rechtswidrig und verletzt die Kläger auch in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1
VwGO).
27 Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand sind die Asylanträge nicht mehr
unzulässig im Sinne des § 27a AsylVfG, weil die Bundesrepublik Deutschland für
die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden ist. Maßgeblich für die
Beantwortung der Frage, welcher Mitglied- oder Vertragsstaat zuständig ist, ist hier
allein die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18.02.2003 (VO Dublin II), denn im
vorliegenden Fall haben die Kläger nicht nur ihre Asylanträge vor dem 01.01.2014
(vgl. Art. 49 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) Nr. 604/2013 vom 26.06.2013 - VO Dublin III)
gestellt, vielmehr wurde auch das Wiederaufnahmegesuch vor diesem Datum
eingereicht.
28 Polen hat dem Wiederaufnahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland am
24.10.2013 zugestimmt, weshalb die Überstellungsfrist des Art. 20 Abs. 2 Satz 1
VO Dublin II an sich am 24.04.2014 fruchtlos abgelaufen wäre. Da die Kläger das
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ohne Erfolg betrieben hatten, war der
Fristlauf zwar im Zeitraum zwischen dem Zugang des angegriffenen Bescheids
(frühestens am 27.11.2013, dem Tag nach der Datierung des dem Bescheid
beigefügten Anschreibens vom 26.11.2013) bis zur Entscheidung des
Verwaltungsgerichts am 02.01.2014 gehemmt (vgl. zu alledem Senatsurteil vom
27.08.2014 - A 11 S 1285/14 - InfAuslR 2014, 452). Der Senat geht davon aus,
dass während des Laufs der Wochenfrist nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG im
Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG sowie im Zeitraum bis zur Entscheidung des
Verwaltungsgerichts am 02.01.2014 mit Rücksicht auf § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG
die Abschiebung unmittelbar kraft Gesetzes ausgesetzt und der Ablauf der Frist
gehemmt war (vgl. im Einzelnen GK-AsylVfG, § 27a, Rn. 228). Dieses zugrunde
gelegt, wäre die Frist aber spätestens Ende Juni/Anfang Juli 2014 abgelaufen.
Infolge des Fristablaufs ist nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 VO Dublin II die
Zuständigkeit auf die Bundesrepublik übergegangen. Lediglich ergänzend weist
der Senat darauf hin, dass dann, wenn eine Überstellung noch zeitnah möglich
wäre, weil Polen den Fristablauf nicht einwendet, sich die Kläger allerdings auf den
Zuständigkeitsübergang nicht berufen könnten (vgl. Senatsurteil vom 16.04.2014 -
A 11 S 1721/13 - InfAuslR 2014, 293 und vom 18.03.2015 - A 11 S 2042/14 - juris).
Es entspricht der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs, dass, sofern
spezialgesetzlich keine besonderen Ausnahmen geregelt sind (wie z.B. in Art. 8
VO Dublin II), Antragsteller auf internationalen Schutz grundsätzlich kein
subjektives Recht auf Prüfung ihres Antrags in einem bestimmten Mitglied- oder
Vertragsstaat haben, und Fehler bei der Auslegung und Unzulänglichkeiten bei der
Anwendung der Zuständigkeitsregelungen der Verordnung grundsätzlich irrelevant
sind (vgl. Urteile vom 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012, 417; vom
14.11.2013 - C-4/11, Puid - NVwZ 2014, 170, und insbesondere vom 10.12.2013 -
C-394/12, Abdullahi - NVwZ 2014, 208; vgl. auch Senatsurteil vom 16.04.2014 - A
11 S 1721/ 13 - InfAuslR 2014, 293). Daraus folgt - dem unionsrechtlichen System
immanent - notwendigerweise, dass ein allein infolge des Ablaufs einer Frist für die
Stellung eines Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchens oder für die
Durchführung einer Überstellung erfolgter gesetzlicher Übergang der Zuständigkeit
noch kein subjektives Recht berühren kann (vgl. Senatsurteile vom 16.04.2014 - A
11 S 1721/13 - InfAuslR 2014, 293, vom 27.08.2014 - A 11 S 1285/14 - NVwZ
2015, 92, und vom 18.03.2015 - A 11 S 2042/14 - juris; ebenso OVG Schl.-Holst.,
Beschluss vom 24.02.2015 - 2 LA 15/15 - juris; Nieders. OVG, Beschluss vom
06.11.2014 - 13 LA 66/14 - juris; Hess. VGH, Beschluss vom 25.08.2014 - 2 A
975/14 A - juris; OVG Rheinl.-Pfalz, Urteil vom 21.02.2014 - 10 A 10656/13 - juris;
so wohl auch BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 - NVwZ 2014,
1093, und vom 14.07.2014 - 1 B 9/14, 1 PKH 10/14 - juris; Berlit, jurisPR-BVerwG,
17/2014, Anm. 2). Deshalb wurde entgegen verschiedener gegenteiliger Stimmen
in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur (vgl. etwa VG Düsseldorf, Urteil vom
05.02.2015 - 22 K 2262/14.A - juris) dieser Fragenkomplex durch den
Europäischen Gerichtshof eindeutig beantwortet. Eine andere Frage ist, ob im
Falle einer unzumutbaren Verzögerung der Durchführung des Aufnahme- und/oder
Überstellungsverfahrens durch den Mitgliedstaat der Antragstellung für die
Betroffenen die Möglichkeit bestehen muss, eine sachliche Prüfung durch den
Antragsmitgliedstaat zu erzwingen (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 16.04.2014 -
A 11 S 1721/ 13 - InfAuslR 2014, 293). Eine solche Fallkonstellation liegt hier
jedoch nicht vor.
29 Hieran hat sich im Übrigen durch die nunmehr in Kraft getretene VO Dublin III
nichts Grundsätzliches geändert. Die Tatsache, dass möglicherweise der
gerichtliche Rechtsschutz tendenziell aufgewertet wurde (vgl. den 19.
Erwägungsgrund; vgl. aber auch schon Art. 19 Abs. 2 Sätze 3 und 4 VO Dublin II
und Art. 47 GRCh), vermag die - völlig unveränderte - Grundstruktur des Dublin-
Mechanismus nicht infrage zu stellen (so aber etwa Karlsruhe, Beschluss vom
30.11.2014 - A 5 K 20026/14 - juris) und die jeweils für jede Konstellation
erforderliche Feststellung des subjektiven Rechts bzw. der klagefähigen
Rechtsposition, deren Verwirklichung die Rechtsschutzgarantie dienen soll, nicht
zu ersetzen.
30 Im vorliegenden Fall fehlt es jedoch an einer Übernahmebereitschaft Polens. Es ist
auch nicht ersichtlich, dass noch ein anderer Mitglied- oder Vertragsstaat
zuständig sein könnte. Das folgt schon daraus, dass infolge des Ablaufs der
Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 VO Dublin II (jetzt Art. 29 Abs. 2 Satz
1 VO Dublin III) die Zuständigkeit endgültig auf die Bundesrepublik übergegangen
ist, selbst wenn vorher noch die Zuständigkeit eines anderen Staates im Raum
gestanden hätte (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 2014, Art. 29 Rn. K
9).
31 Eine Rückkehr der Kläger nach Polen mag zwar möglich sein; eine formlose
Wiedereröffnung des Asylverfahrens (vgl. ausführlich noch unten zu den
unionsrechtlichen Vorgaben für eine Wiedereröffnung eines Asylverfahrens) wäre
nach der Rechtslage in Polen an sich auch nicht ausgeschlossen, weil die Kläger
ihre Asylanträge in Polen am 12.06.2013 gestellt haben und die Frist von zwei
Jahren nach erfolgter vorläufiger Einstellung des Verfahrens noch nicht abgelaufen
ist (vgl. hierzu auch aida, National Country Report Poland, Stand Juni 2014, S. 21).
Unter diesen Voraussetzungen könnte auch erwogen werden, dass die Kläger
kein Sachbescheidungsinteresse haben und daher die Asylanträge aus diesem
Grund unzulässig sind. Eine Prüfung der Anträge wird aber nach den Ermittlungen
der Beklagten in Polen deshalb nicht erfolgen, weil sich Polen auf die Zuständigkeit
der Bundesrepublik berufen und eine Überstellung der Kläger betreiben würde.
32 In der vorliegenden Konstellation, in der die Bundesrepublik Deutschland nach Art.
20 Abs. 2 Satz 1 VO Dublin II (vgl. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 VO Dublin III)
ausschließlich zuständig geworden ist und eine Überstellung in den anderen
Mitglied- oder Vertragsstaat Polen nicht (mehr) möglich ist, liegen die
Voraussetzungen für die Ablehnung der Anträge als unzulässig im Sinne des §
27a i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylVfG nicht mehr vor und die Kläger können die
Durchführung der Asylverfahren durch die Bundesrepublik Deutschland
beanspruchen. Dabei kann eine rein theoretische Überstellungsmöglichkeit, die
nicht durch konkrete aussagekräftige und auch eine überschaubare zeitliche
Dimension der Überstellung umfassende Fakten untermauert wird, nicht genügen,
da andernfalls das dem Dublinsystem immanente Beschleunigungsgebot (vgl.
EuGH Urteile vom 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012, 417, Rn. 79,
und vom 10.12.2013 - C-394/12, Abdullahi - NVwZ 2014, 208, Rn. 53) verletzt wird.
Der Senat kann in diesem Zusammenhang offen lassen, in welchem genauen
zeitlichen Rahmen eine Überstellung noch möglich sein muss. Ein Anspruch auf
Durchführung des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland ist
deshalb zu bejahen, weil dem Zuständigkeitssystem nämlich zugrunde liegt, dass
die Antragsteller ein durchsetzbares Recht haben müssen, dass die Anträge
jedenfalls von einem Mitglied- oder Vertragsstaat zeitnah geprüft werden. Dieses
ergibt sich unmissverständlich aus Art. 3 Abs. 1 VO Dublin II bzw. Art. 3 Abs. 1 VO
Dublin III (vgl. auch den 4. Erwägungsgrund der VO Dublin II sowie den 5.
Erwägungsgrund der VO Dublin III). Eine andere Sichtweise würde dem
Grundanliegen des gemeinsamen europäischen Asylsystems widersprechen.
Dieses darf um seiner Effektivität willen nicht so ausgelegt und angewandt werden,
dass die betroffenen Antragsteller in keinem Staat eine Prüfung ihres
Schutzgesuchs erhalten können und – wenn auch nicht dem potentiellen Verfolger
ausgeliefert – doch ohne den im Unionsrecht vorgesehenen förmlichen
Schutzstatus bleiben. Andererseits bedeutet dies nicht, dass den Betroffenen
prinzipiell nicht ein erfolgloses und abgeschlossenes Verfahren, das in einem
Mitglied- oder Vertragsstaat durchgeführt worden war, entgegengehalten werden
könnte (vgl. hierzu noch im Folgenden).
33 Vor diesem Hintergrund kann die angegriffene Ziffer 1 nicht mehr auf § 27a i.V.m. §
31 Abs. 6 AsylVfG gestützt werden und ist daher aufzuheben.
34 Der Beklagten ist im Ausgangspunkt zwar nicht zu widersprechen, dass eine im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung gestellte
Verfügung nicht allein deshalb aufzuheben ist, weil die für die Verfügung
herangezogene und in der Begründung als maßgeblich zugrunde gelegte
Rechtsgrundlage diese nicht (mehr) zu tragen vermag, wenn sie gleichwohl in
anderen rechtlichen und/oder tatsächlichen Gründen ihre Rechtfertigung erfährt
(vgl. etwa Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 113 Rn. 79 ff. m.w.N.). Dieser
Gesichtspunkt kann aber hier ein Aufrechterhalten der angegriffenen Verfügung
nicht rechtfertigen.
35 Dabei ergeben sich im vorliegenden Fall zunächst Besonderheiten schon deshalb,
weil es der Sache nach auch um die Versagung einer Begünstigung geht, nämlich
der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, ggf. auch des subsidiären
Schutzstatus (vgl. § 13 AsylVfG in der seit 01.12.2013 geltenden Fassung).
Vorrangig ist daher die von der Beklagten zu Recht aufgeworfene Frage zu
beantworten, ob der Senat verpflichtet ist, die Sache spruchreif zu machen (vgl.
allgemein Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 113 Rn. 422 ff. m.w.N.).
Ungeachtet der hier noch offen zu lassenden Frage, ob mittlerweile, wie die
Beklagte meint, der Sache nach sog. Zweitanträge im Sinne des § 71a AsylVfG
vorliegen, verneint der Senat dieses (vgl. schon ausführlich Senatsurteil vom
16.04.2014 - A 11 S 1721/13 - juris, Rn. 18). Selbst wenn hier mittlerweile
Zweitanträge vorlägen (vgl. aber noch im Folgenden), so bestünde gleichwohl
keine Verpflichtung zur Spruchreifmachung und zu einer Entscheidung hierüber.
Abgesehen davon, dass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht (vgl.
Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 - NVwZ 1998, 861) aus der Sicht des Senats
ohnehin erheblichen Bedenken begegnet, auf die das Verwaltungsgericht im
angegriffenen Urteil bereits zutreffend hingewiesen hat, bestehen schon
gegenüber der zugrunde liegenden Folgeantragssituation nach § 71 AsylVfG
zusätzliche grundlegende Unterschiede, die zu den Einwänden gegen eine
Verpflichtung zur Spruchreifmachung im Falle eines Folgeantrags (vgl. ausführlich
GK-AsylVfG, § 71 Rn. 296 ff., demnächst Rn. 367 ff.) noch hinzutreten. Geht man
sachgerecht davon aus, dass die von den Klägern am 17.06.2013 eingereichten
Asylanträge sinngemäß unter allen denkbaren Gesichtspunkten, also auch unter
dem Aspekt eines möglichen Folgeschutzgesuchs, gestellt worden waren, konnten
diese Anträge zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten am 22.11.2013
wegen der Zuständigkeit Polens keine Zweitanträge im Sinne des § 71a AsylVfG
sein und wurden auch nicht als solche beschieden. Des Weiteren kann nicht außer
Acht gelassen werden, dass in einem Zweitantragsverfahren umfangreichere
Verfahrensgarantien bestehen, insbesondere auch nach § 25 AsylVfG (i.V.m. §
71a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG) – jedenfalls in der Regel – eine Anhörung stattzufinden
hat, bei der sich das Bundesamt auch der (formellen und materiellen) Grundlagen
des notwendigerweise in einem anderen Mitglied- oder Vertragsstaat
durchgeführten Erstverfahrens zu vergewissern hat (vgl. GK-AsylVfG § 71a Rn. 30
ff.). Auch ist originär und nicht nur in einem Wiederaufnahmeverfahren in Bezug auf
den Herkunftsstaat über das Bestehen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 5 und 7 AufenthG zu entscheiden, um das unionsrechtliche und
völkerrechtliche Refoulement-Verbot zu sichern. Diese Aufgabe ist zuvörderst dem
mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Bundesamt zugewiesen (vgl. hierzu
auch § 72 Abs. 2 AufenthG). Weiter ist zu bedenken, dass das Verfahren im Falle
der negativen Vorprüfen der Asylrelevanz wie auch im Falle einer negativen
Sachprüfung auf eine Aufenthaltsbeendigung in den Herkunftsstaat gerichtet ist,
was – insofern anders als im Folgeverfahren (vgl. § 71 Abs. 5 AsylVfG) – zwingend
den erstmaligen Erlass einer Abschiebungsandrohung nach sich ziehen muss (vgl.
§ 71a Abs. 4 AsylVfG). Nicht anders als in den Fällen der zu Unrecht erfolgten
Behandlung eines Asylantrags nach § 32 oder § 33 AsylVfG (vgl. nochmals
BVerwG, Urteile vom 07.03.1995 - 9 C 264/94 - NVwZ 1996, 80, und vom
05.09.2013 - 10 C 1.13 - NVwZ 2014, 158) gebietet der in § 113 Abs. 5 Satz 1
VwGO niedergelegte Grundsatz, wonach die Verwaltungsgerichte grundsätzlich
verpflichtet sind, den Rechtsstreit spruchreif zu machen, im vorliegenden Fall eine
Entscheidung zur Sache durch den Senat nicht, wenn wesentliche
Verfahrensgrundlage aufgrund der früher (an sich noch zu Recht)
vorgenommenen Weichenstellung bislang ungeklärt geblieben sind (vgl. Wolff, in:
Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 113 Rn. 43; Stuhlfauth, in: Bader u.a., VwGO, 6.
Aufl., § 113 Rn. 101 f.).
36 Schließlich kann - ungeachtet der vorliegenden Fallkonstellation, für die, wie
dargelegt, feststeht, dass eine formlose Wiedereröffnung des Verfahrens in Polen
möglich ist - gar nicht immer pauschal unterstellt werden, dass überhaupt eine
„Zweitantragssituation“ vorliegt und daher möglicherweise zumindest von
konkludent und (nur) hilfsweise durch die Kläger gestellten Hilfsanträgen
ausgegangen werden muss. Denn § 71a AsylVfG setzt nicht anders als § 71
AsylVfG, dem die Vorschrift sachlich nachgebildet ist, voraus, dass das Verfahren
im anderen Mitglied- oder Vertragsstaat erfolglos, d.h. unanfechtbar
abgeschlossen wurde (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 71a Rn. 14 f.). Schon
unter der Geltung der Verordnung Dublin II sowie der Richtlinie 2005/85/EG vom
01.12.2005 (Verfahrensrichtlinie – VRL a.F.) war es den Mitgliedstaaten
überlassen, ob sie im Falle einer konkludenten Rücknahme bzw. eines
Nichtbetreibens des Verfahrens im ersten Mitgliedstaat, wovon in Anbetracht
fehlender Anhaltspunkte im Falle der Kläger auszugehen sein wird (vgl. auch zur
Praxis Polens aida, a.a.O.), die Fortsetzung des Verfahrens nur im Regime des
Folgeantrags zulassen oder - weitergehend - eine formlose Wiedereröffnung
ermöglichen (vgl. Art. 20 Abs. 2 UA 1 VRL a.F.). Im letzteren Fall hätte der
Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland aber die notwendige
Folge, dass nicht von einem „erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens“ im Sinne
des § 71a Abs. 1 AsylVfG ausgegangen werden kann. Denn dem
unionsrechtlichen Zuständigkeitsübergang infolge einer Fristversäumung ist
immanent, dass der zuständig gewordene Mitgliedstaat das Verfahren in dem
Stadium übernimmt, den es zum Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs erreicht
hatte. Der VO Dublin II (wie auch der VO Dublin III) kann keine Regelung
entnommen werden, die über den Zuständigkeitsübergang hinaus bestimmt, dass
mit diesem auch ein formeller wie materieller Rechtsverlust verbunden sein könnte.
Die Prüfung und Aufklärung all dieser Fragen ist unerlässlicher Inhalt des
Verfahrens beim Bundesamt hinsichtlich der Verfahrensgrundlagen des
Erstverfahrens.
37 Noch viel mehr gilt dies nach dem nunmehr maßgeblichen, hier allerdings noch
nicht anwendbaren Regime von Dublin III sowie künftig der bis zum 20.7. diesen
Jahres umzusetzenden Richtlinie 2013/32/EU vom 26.06.2013 – VRL n.F. Nach
Art. 18 Abs. 2 UA 2 Satz 1 VO Dublin III hat der zuständige Mitgliedstaat (hier
nunmehr die zuständig gewordene Bundesrepublik Deutschland) in den Fällen
(Absatz 1 lit. c), in denen über den Erstantrag im ersten Mitgliedstaat in erster
Instanz keine sachliche Entscheidung getroffen worden war (wovon nach den
Ermittlungen der Beklagten im Falle der Kläger auszugehen ist), sicherzustellen,
dass die Betroffenen einen neuen Antrag stellen können, der nicht als Folgeantrag
gewertet werden darf. Wenn es in Satz 2 sodann heißt, dass „die Mitgliedstaaten“
(und nicht nur „der Mitgliedstaat“) in diesen Fällen gewährleisten, dass die Prüfung
des Antrags abgeschlossen wird, so macht auch dieses deutlich, dass der
Zuständigkeitsübergang allein nicht zum Verlust der formalen und materiellen
Rechtsstellung führt, vielmehr der andere nunmehr zuständige Mitgliedstaat das
Verfahren weiter zu führen hat. Nach Art. 18 Abs. 2 UA 3 VO Dublin III muss der
Aufnahmemitgliedstaat weit über das Regime von Dublin II hinausgehend in den
Fällen des Absatzes 1 lit. d), wenn der Antrag nur in erster Instanz, aber mit einer
Sachentscheidung abgelehnt worden war, sogar ohne jede Einschränkung für die
Betroffenen sicherstellen, dass noch ein wirksamer Rechtsbehelf eingelegt werden
kann, und zwar auch dann, wenn die Sachentscheidung unanfechtbar geworden
ist. Dabei muss, damit die Vorschrift zur Anwendung kommen kann, der Eintritt der
Unanfechtbarkeit sicherlich darauf beruhen, dass die Entscheidung infolge der
Ausreise der Betroffenen in deren Abwesenheit ergangen und ihnen nicht
persönlich zur Kenntnis gebracht und infolge dessen von ihnen nicht angefochten
werden konnte; auf einzelne Abgrenzungsfragen kommt es an dieser Stelle
allerdings nicht an; sie werden aus gegebenem Anlass zu klären sein. Da
allerdings das nationale Verfahrensrecht nicht vorsieht, dass eine
Sachentscheidung eines anderen Mitglied- oder Vertragsstaat gerichtlich überprüft
werden kann, könnte die Konsequenz dieser unionsrechtlich zwingenden Vorgabe
die sein, dass im Falle eines Zuständigkeitsübergangs die Bundesrepublik eine
neue Sachentscheidung zu treffen hat; allerdings fällt auf, dass in UA 3 ein dem in
UA 2 enthaltener vergleichbarer Satz 2 fehlt, was auch die Deutung zulassen
könnte, dass mit dem Zuständigkeitsübergang in dieser Konstellation ein
Rechtsverlust einhergehen könnte; einer abschließenden Entscheidung bedarf es
auch insoweit hier jedoch noch nicht.
38 Art. 28 Abs. 2 UA 1 VRL n.F. bestimmt zusätzlich, dass die Antragsteller im Fall
einer stillschweigenden Rücknahme oder eines Nichtbetreibens des Verfahrens
berechtigt sind, um eine Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen
neuen Antrag zu stellen, der nicht nach Maßgabe der Art. 40 und 41, d.h. nicht als
Folgeantrag, geprüft werden darf. Nach Art. 28 Abs. 2 UA 2 VRL n.F. besteht
allerdings unter bestimmten Kautelen die Möglichkeit, dass die Mitgliedstaaten –
nur teilweise – restriktivere Regelungen vorgeben können. Auch insoweit bestehen
Einschränkungen der nunmehr zuständig gewordenen Bundesrepublik
Deutschland, einen weiteren Asylantrag dem Regime des Zweitantragsverfahrens
zu unterwerfen, insbesondere solange die Bundesrepublik von der Möglichkeit des
teilweisen „Opt-Out“ keinen Gebrauch gemacht hat.
39 All diese differenzierten Gründe grundsätzlicher und struktureller Art zwingen nach
Auffassung des Senats dazu, den Verfahrensgegenstand des gerichtlichen
Verfahrens strikt auf die Anfechtung der Ablehnungsentscheidung des Asylantrags
als unzulässig nach § 27a AsylVfG zu beschränken und die weitere Prüfung dem
Bundesamt zu überlassen; diese Sachgründe setzen sich nach Überzeugung des
Senats gegenüber einer pauschalen Berufung auf ein sicherlich nicht zu
verkennendes Beschleunigungsinteresse durch.
40 Aufgrund der vorgenannten Überlegungen kommt es auch nicht in Betracht, die
isoliert angefochtene Entscheidung als eine negative Entscheidung über einen
Zweitantrag aufrechtzuerhalten, so denn überhaupt ein solcher vorliegt, was hier,
wie ausgeführt, nicht der Fall ist. Dieses liegt schon daran, dass dann nach den
Vorstellungen der Beklagten der Sache nach ein Antrag auf Wiederaufgreifen und
nicht ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wäre, was sich aber – nicht nur
wegen der unterschiedlichen Tenorierung, was unter Umständen nicht hinreichend
sein könnte – als eine Veränderung des Verwaltungsakts seinem Wesen nach
darstellen würde (vgl. hierzu Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 113 Rn. 81
und 86 m.w.N.).
41 Auch eine Umdeutung nach § 47 VwVfG ist nicht möglich. Aus dem Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts vom 18.02.2015 (1 B 2.15 - juris) ergibt sich nichts
anderes. Zunächst betrifft er die nicht vergleichbare Fallkonstellation einer auf die
§§ 32 und 33 Abs. 1 AsylVfG gestützten Verfahrenseinstellung, zum anderen lässt
die Entscheidung jede Erläuterung vermissen, weshalb in dieser
Verfahrenskonstellation eine Umdeutung oder Aufrechterhaltung überhaupt
möglich sein soll. Eine Umdeutung scheitert im hier zu entscheidenden Fall, wie
sich aus den vorgenannten Ausführungen ergibt, schon daran, dass der
Verwaltungsakt nicht auf das gleiche oder ein im Wesentlichen gleiches Ziel
gerichtet wäre (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 15. Aufl., 2014, § 47 Rn. 13 ff.). Die
Entscheidung der Beklagten war im vorliegenden Fall auf die Unzulässigkeit im
Sinne des § 31 Abs. 6 AsylVfG gerichtet und darauf, die zwingende Rechtsfolge
des § 34a Abs. 1 AsylVfG herbeizuführen. Hingegen wird mit der Entscheidung zu
§ 71a AsylVfG die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, d.h. ein
Wiederaufgreifen eines nicht mehr angreifbaren Verfahrens abgelehnt, die dann in
erster Linie die Rechtsfolge des § 71a Abs. 4 i.V.m. § 34 bzw. § 36 AsylVfG (in
Bezug auf den Herkunftsstaat) auslöst und damit eine völlig andere Qualität hat als
eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (in den anderen
Mitglied- oder Vertragsstaat). Diese Entscheidung würde aber voraussetzen, dass
nicht nur ein Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylVfG vorliegt, sondern auch die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu verneinen sind, was, wie
dargelegt, im Rahmen eines eigenständigen Verwaltungsverfahren mit eigenen
Verfahrensgarantien zu klären und zu entscheiden ist, ungeachtet der Frage, ob
die Antworten auf diese Fragen ein mehr oder weniger großes Maß an Evidenz
aufweisen. Zwar verweist § 71a Abs. 4 auch auf § 34a AsylVfG; diese
Verfahrensweise ist jedoch gerichtet auf die Überstellung nach der
Drittstaatenregelung des § 26a AsylVfG und nicht nach dem Dublin-System,
worauf aber gerade der angegriffene Bescheid abzielt. Hinzukommt, dass fraglich
ist, ob im Anwendungsbereich des Dublin-Systems überhaupt noch der andere
Mitgliedstaat als sicherer Drittstaat behandelt und von der nationalen
Drittstaatenregelung Gebrauch gemacht werden darf mit der Folge, dass die
Drittstaatenregelung nur noch solche – gegenwärtig nicht existierende –
Drittstaaten betreffen könnte, die nicht Teil des Dublin-Systems sind (vgl. GK-
AsylVfG, § 27a Rn. 56 ff.). Abgesehen davon ist hier die Rechtsfolge des § 34a
AsylVfG allenfalls optional und von einer Ermessensentscheidung der Beklagten
abhängig.
42 Legt man, wie ausgeführt, zugrunde, dass die Antragsteller nach den
Grundstrukturen des gemeinsamen Europäischen Asylsystems jedenfalls einen
Anspruch darauf haben, dass ihre Asylanträge zumindest in einem Mitglied- oder
Vertragsstaat geprüft werden, so verletzt die Aufrechterhaltung der Ablehnung der
Anträge als unzulässig auch ihre Rechte, selbst wenn nach diesen Strukturen
äußerstenfalls am Ende eine Entscheidung durch das Bundesamt stehen kann,
dass das Verfahren nicht wiederaufgegriffen wird, so denn überhaupt eine
Zweitantragssituation vorliegt, was dieses jedoch vorrangig in eigener
Zuständigkeit zu prüfen hat.
43 Geht man hingegen davon aus, dass im vorliegenden Fall die Kläger im Zeitpunkt
des Zuständigkeitsübergangs nach polnischem Recht eine formlose
Wiedereröffnung des Verfahrens beanspruchen konnten und somit kein
Folgeschutzgesuch vorliegt, so kann der angegriffene Bescheid gleichfalls keinen
Bestand haben. Nicht anders als in den Fällen einer unzutreffenden Einstellung
des Verfahrens wegen einer rechtsgeschäftlich erklärten oder einer fingierten
Antragsrücknahme nach § 32 und § 33 (vgl. BVerwG, Urteile vom 07.03.1995 - 9 C
264/94 - NVwZ 1996, 80, und vom 05.09.2013 - 10 C 1.13 - NVwZ 2014, 158), in
denen das Bundesamt - wie auch hier - entweder in der Sache noch gar nicht
befasst, jedenfalls aber noch keine Sachentscheidung getroffen und eine
eigenständige Bewertung des Vorbringens vorgenommen hatte, hat dieses
zunächst das Verwaltungsverfahren in eigener Kompetenz durchzuführen und
abzuschließen, weshalb der angegriffene Bescheid auf die von Klägern auch
gestellten Anfechtungsanträge lediglich aufzuheben ist. Der Umstand, dass die
Kläger auch Verpflichtungsanträge gestellt hatten (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom
07.03.1995 - a.a.O., in dem dieses offen gelassen hatte, ob im Falle eines
gestellten Verpflichtungsantrags abschließend in der Sache zu entscheiden sein
könnte), diese aber vom Verwaltungsgericht nach dem Tenor der angegriffenen
Entscheidung nicht ausdrücklich abgewiesen wurden, ändert hieran nichts, selbst
wenn man nicht der Auffassung des Senats folgen wollte, dass hier
Verpflichtungsanträge generell nicht statthaft sind. Diese sind nicht Gegenstand
des Berufungsverfahrens geworden. Denn entweder wurden nach den
Entscheidungsgründen die Klagen insoweit abgewiesen, ohne dass die Kläger
dieses angegriffen haben; dagegen spricht allerdings die Kostenentscheidung und
die hierfür gegebene Begründung, die allein § 154 Abs. 1 VwGO zitiert; oder aber
die Kläger haben es unterlassen, innerhalb der vorgesehenen Frist einen
Ergänzungsantrag nach § 120 VwGO zu stellen.
44 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG.
45 Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die es rechtfertigen würden, die
Revision zuzulassen, liegen nicht vor.