Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 14.09.2016

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VGH Baden-Württemberg Urteil vom 14.9.2016, A 11 S 1125/16
China; Zwei-Kind-Politik; nachteilig betroffene Kinder als soziale Gruppe iSv § 3b Abs. 1 Nr. 4
AsylVfG 1992
Leitsätze
Die von der chinesischen Ein-Kind-Politik, die nunmehr von einer Zwei-Kind-Politik abgelöst wurde, nachteilig
betroffenen Kinder (hier ein viertes Kind) stellen flüchtlingsrechtlich eine soziale Gruppe dar, auch wenn im
Hinblick auf die Möglichkeit einer Zahlung von Bußgeldern im Einzelfall, die zu einer Aufnahme in das
Haushaltsregister (Houkou oder Hukou) führen kann, nicht alle Mitglieder tatsächlich verfolgt werden.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 3. Mai 2016 - A 6 K 851/16
- teilweise geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffer 1 ihres Bescheids vom 18. Februar 2016 verpflichtet, dem Kläger
die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger wurde am 02.03.2015 in der Bundesrepublik Deutschland geboren und ist chinesischer
Staatsangehöriger. Er hat drei Geschwister, die am 23.07.2009 (Klägerin zu 2) im Verfahren - A 6 K
2175/14), am 27.04.2011 (Klägerin im Verfahren - A 6 K 903/13) und am 12.04.2013 (Klägerin im Verfahren
- A 6 K 2258/13) in der Bundesrepublik Deutschland geboren sind. Die Eltern des Klägers stammen aus der
Provinz Fujian. Ihre Asylanträge (auch Folgeanträge) wurden unanfechtbar abgelehnt.
2 Auf den 12.08.2015 wurde der Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter nach § 14 a Abs. 2
AsylG als gestellt fingiert.
3 Mit Bescheid vom 18.02.2016 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Anerkennung als
Asylberechtigter und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet und den
Antrag auf subsidiären Schutz ab, und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1
AufenthG nicht vorliegen. Ferner drohte es dem Kläger die Abschiebung nach China an und befristete das
gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der
Abschiebung.
4 Am 28.02.2016 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Karlsruhe.
5 Mit Schriftsatz vom 19.04.2016 erklärte die Beklagte, sie werde dem Kläger subsidiären Schutz zuerkennen
und den angegriffenen Bescheid vom 18.02.2016 insoweit aufzuheben, als er dieser Feststellung
entgegensteht. Daraufhin erklärte der Kläger den Rechtstreit insoweit für erledigt, als der Kläger die
Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach
§60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG begehrt hatte. Im Übrigen verfolgte er sein Begehren auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft weiter.
6 Die Beklagte trat der Klage entgegen.
7 Durch Urteil vom 03.05.2016 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte zur Begründung aus: Der
hier allein infrage kommende Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (vgl. § 3b Abs. 1
Nr. 4 AsylG) scheide im Falle des Klägers aus. Zwar sei nach der Auskunftslage zu befürchten, dass die Eltern
zur Legalisierung seines Status eine empfindliche Geldbuße zahlen müssten und er im Falle einer
Nichtbezahlung nicht in das Haushaltsregister (Hukou) eingetragen würde mit der Folge von
Einschränkungen im Hinblick auf soziale Leistungen. Dennoch falle nicht jedes Kind, das unter Verstoß gegen
die chinesischen Geburtenkontrollregelungen geboren worden sei, unter den Begriff einer bestimmten
sozialen Gruppe. Denn die Familienplanungspolitik der Volksrepublik China sei komplex und sehe
verschiedene Ausnahmen und Legalisierungsmöglichkeiten vor, von denen auch die Familie des Klägers
grundsätzlich Gebrauch machen könne. Die Frage, ob ein Kind von den Sanktionen eines Verstoßes gegen
die Familienpolitik betroffen sei, sei jeweils eine Frage des Einzelfalls, weshalb die Annahme der sozialen
Gruppe „Kinder, die unter Verstoß gegen die chinesischen Geburtenkontrollregelungen geboren seien“ nicht
in Betracht komme.
8 Am 09.05.2016 beantragte der Kläger die Zulassung der Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung
der Rechtssache.
9 Mit Beschluss vom 07.06.2016 ließ der Senat die Berufung zu
10 Am 16.06.2016 begründete der Kläger unter Stellung eines Antrags die Berufung und machte geltend, das
Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, bei den fraglichen Kindern könne nicht von
einer sozialen Gruppe gesprochen werden.
11 Der Kläger beantragt,
12 das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 3. Mai 2016 - A 6 K 851/16 teilweise zu ändern und die
Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 1 ihres Bescheids vom 18. Februar 2016 zu verpflichten, dem Kläger
die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
13 Die Beklagte tritt der Berufung entgegen und macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu eigen.
14 Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
15 Dem Senat liegen die Akten des Bundesamts (auch betreffend die Verfahren der Eltern des Klägers) sowie
die Akten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vor.
Entscheidungsgründe
16 Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die ordnungsgemäß geladene Beklagte in der
mündlichen Verhandlung nicht vertreten war. Denn sie wurde in der Ladung hierauf hingewiesen (vgl. § 102
Abs. 2 VwGO).
17 Die ordnungsgemäß unter Stellung eines Antrags begründete Berufung des Klägers ist zulässig und auch in
der Sache begründet.
18 Die Beklagte ist entsprechend dem vom Kläger gestellten Antrag verpflichtet, ihm die Flüchtlingseigenschaft
zuzuerkennen (vgl. § 3 Abs. 1 AsylG bzw. Art. 2 lit. d) QRL). Der Kläger befindet sich wegen begründeter
Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines
Herkunftslandes.
19 In tatsächlicher Hinsicht geht der Senat zunächst von den zutreffenden und überzeugenden Feststellungen
des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16.07.2015 (A 6 K 786/14) aus, die der Senat ausdrücklich zum
Gegenstand des Verfahrens gemacht hatte. Das Verwaltungsgericht hat u.a. ausgeführt:
20 „..3) Was die Voraussetzungen für die Anerkennung des Klägers als Flüchtling angeht, wird auf die beiden
ausführlichen letztjährigen Entscheidungen des Gerichts zu dieser Frage verwiesen (VG Freiburg, Urteile
vom 12.3.2014 - A 6 K 730/12 und A 6 K 1868/12 -, beide jeweils in juris, die beide rechtskräftig geworden
sind, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dagegen keinen Antrag auf Zulassung der
Berufung gestellt hat).
21 Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage zum mittlerweile erreichten Stand der
chinesischen Ein-Kind-Politik und der seither ergangenen Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte zu
deren fehlender asyl- und flüchtlingsrechtlicher Relevanz sieht das Gericht derzeit keinen Anlass, von
diesen Entscheidungen abzurücken. Zwar wird allenthalben mittlerweile darüber berichtet, dass die
offizielle chinesische Politik sich langsam anschickt, sich von der Ein-Kind-Politik zu verabschieden und auf
Dauer eine Zwei-Kind-Politik anzustreben, die allen verheirateten Paaren ohne sonstige Voraussetzungen
zwei Kinder erlaubt. Denn in den letzten Jahren hat sich immer deutlicher herausgestellt, dass die rigide
Ein-Kind-Politik ein schwerer - auch in Zukunft nur schwer rückgängig zu machender - Fehler war. Die
Bevölkerung altert mittlerweile rapide, der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung ist deutlich gesunken, ja
selbst das Militär befürchtet Nachwuchsschwierigkeiten. In den Städten bewegt sich die Nachwuchsrate
mittlerweile auf einem der niedrigsten Niveaus weltweit und auf Landessdurchschnitt mit 1,6 Kindern pro
Paar noch immer unter der für einen Bevölkerungserhalt erforderlichen Quote von 2,1 Kindern pro Paar. Die
Ein-Kind-Politik hat zudem nicht nur den negativen Effekt einer weit verbreiteten Tötung von weiblichen
Föten nach sich gezogen (sogenannter „Gendercide“ = geschlechtsspezifischer Völkermord) und der
dadurch bewirkte Männerüberschuss hat zum Kriminalitätsanstieg im Bereich Prostitution, Frauenhandel,
Vergewaltigung und Entführung geführt. Vielmehr sind auch immer mehr psychosoziale Probleme daraus
erwachsen, dass ganze Generationen von Kindern ohne Geschwister groß geworden sind, die als
sogenannte „Generation der Prinzen“ die überproportionale Aufmerksamkeit einer großen Zahl von
Verwandten auf sich ziehen, sich nur um sich selbst drehen und dadurch sozial nicht sonderlich verträglich
geworden sind (vgl. zu alldem die folgenden - alle im Internet auffindbaren - Presseartikel: „The Economist“
vom 11.7.2015 - Tales oft he unexpected - China has relaxed ist one-child policy. Yet parents are not rushing
to have a second; vom 6.6.2015 - China´s one-child policy: Only and Lonely - Analysing the Psychology of a
Generation [= Review of Book written by Xinran: „Buy Me the Sky - the Remarkable Truth of China´s One-
Child Generation“]; vom 28.2.2015 - Wedding wows - How the one-child policy changed Chinese nuptials;
vom 10.1.2015 - Family Planning - Enforcing with a smile; vom 19.7.2014 - Family Planning - One-Child
Proclivity: Predictions of a baby boomlet come to little; siehe ferner: „The Epoch Times“ vom 9.3.2015 - Is
China going to abandon the One-Child Policy ? sowie www.bloomberg.com vom 20.1.2015 - China´s One-
Child Policy Backfires as Labor Pool Shrinks Again; zum sog. „Gendercide“ - in China und Indien: „The
Economist“ vom 4.3.2010 - Gendercide: The world wide war on baby girls - Technologies, declining fertility
and ancient prejudice are combining to unbalance societies; siehe zu letzgenanntem Thema auch das UN-
Committe on the Elimination of Discrimination against Women CEDAW, 14.11.2014 - Concluding
Observations on the combined 7th and 8th Periodic Reports of China, Ziff. 38 und 39c mit dem Aufruf an
China die entsprechende Praxis der Tötung vorzugsweise weiblicher Föten abzuschaffen).
22 Obwohl es insoweit Anträge von Parlamentariern des Volkskongresses und Empfehlungen von
Kommissionen für Familienplanungspolitik in Richtung der Einführung einer „Zwei-Kind-Politik“ gegeben
hat, ist es jedenfalls bisher nicht zu wirklich grundlegenden Reformen gekommen, bzw. diese sind bisher
nur halbherzig angegangen worden und haben sich obendrein noch als wenig effektvoll erwiesen. So wurde
am 12.11.2013 durch das Zentralkommittee der Kommunistischen Partei Chinas lediglich beschlossen, dass
verheirateten Paaren ein zweites Kind nicht mehr nur dann erlaubt wird, wenn sie - wie nach der zuvor
geltenden Regelung - jeweils beide selbst aus einer Ein-Kind-Familie stammen, sondern dass es nunmehr
genügt, wenn nur einer der Ehepartner selbst aus einer Ein-Kind-Familie stammt. Diese Reform ist
mittlerweile auch in allen Provinzen - bis auf Xinjiang und Xizang - umgesetzt worden, (vgl. Law Library of
Congress vom 6.8.2014: China - Provincial Family Planning Regulations Amended Allowing More Couples to
Have a Second Child - = www.loc.gov/ lawweb/servlet/ lloc_news?disp3_1205404091_text; ebenso AA,
Lagebericht - China, vom 15.10.2014 [Stand: Mai 2014], Seite 20, 21). Zu den Provinzen, in denen diese
Reform umgesetzt wurde, zählt seit 31.3.2014 auch die Heimatprovinz der Eltern des Klägers, Fujian (siehe
Immigration and Refugee Board of Canada, 16.10.2014, dort Ziff.2.4.).
23 Ansonsten aber hat es keine wirklich grundlegenden Neuerungen gegeben. Es mag sein, dass es inzwischen
nicht mehr ganz so viele Zwangssterilisationen bzw. Zwangsabtreibungen gegenüber Eltern unerlaubt
gezeugter Kinder gibt, dass das Vorgehen von Beamten der Familienplanungs- Behörden von der
chinesischen Öffentlichkeit mittlerweile etwas kritischer betrachtet wird, dass es Vorschriften gegenüber
entsprechender Beamtenwillkür gibt und dass eine vorherige Geburtsgenehmigung nicht mehr erforderlich
ist. Nach wie vor aber gilt, dass Eltern mit empfindlichen Bußgeldsanktionen (sogenannte Soziale
Kompensationsgebühren“) zu rechnen haben, wenn sie unerlaubt zweite oder dritte Kinder bekommen.
Diese Sanktionen belaufen sich häufig auf enorme Summen von vielen (bis zu zehn) durchschnittlichen
Jahresgehältern.
24 Zuletzt musste selbst der - von den Klägern im Termin zur mündlichen Verhandlung insoweit zutreffend
erwähnte - berühmte und reiche chinesische Star-Regisseur Zhang Yimou, 7,5 Mio. Yuan, d.h. umgerechnet
knapp 1 Mio. EUR als Strafe an die Behörden dafür zahlen, dass er mit seiner Frau drei gemeinsame Kinder
hat (siehe Spiegel-Online, vom 9.1.2014, www.spielgel.de/panorama/leute/zahng-yimou-muss-wegen-der-
ein-kind-politik-zahlen).
25 Werden solche Bußgelder nicht bezahlt oder können sie nicht aufgebracht werden, so darf eine Eintragung
des Kindes in das sogenannte Haushaltsregister „Houkou“ nach wie vor nicht vorgenommen werden. Das
heißt diese Kinder bleiben in jeder Hinsicht und in mannigfaltiger Weise völlig rechtlos gestellt und
vermehren so die große Zahl von sogenannten „Geisterkindern“, die es legal gar nicht geben dürfte, die
mangels Houkou nicht nur jegliche Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnsitznahme, Arbeitsaufnahme,
und so weiter versagt bekommen, sondern von der chinesischen Bevölkerung verachtet werden, die es
noch immer als antipatriotisch ansieht, mehr als nur ein Kind zu haben (siehe etwa The Economist,
11.6.2015 zum Nimbus des Patriotischen einer Ein-Kind-Familie; siehe ferner Spiegel-Online, 9.1.2014 zu
der öffentlichen Entschuldigung des berühmten Regisseurs Zhang Yimou, für seine unerlaubten Kinder und
für die dadurch von ihm verursachten „negativen sozialen Einflüsse“). Diese Kinder leben infolge ihrer
juristischen Nichtexistenz und der damit verbundenen tagtäglichen Probleme völlig isoliert und
ausgeschlossen im Halbschatten der Gesellschaft als sogenannte „heihu“- d.h. illegale Menschen, finden
häufig deshalb auch keine Freunde oder später gar Lebenspartner und können sich ohne Houkou nicht
einmal in größeren Umkreisen bewegen, da selbst für Fernreisen, Zugfahren etc. wiederum ein Houkou
Voraussetzung ist (siehe die eindrucksvolle ausführliche Schilderung des Schicksals solcher Kinder und ihrer
Eltern, wenn diese ihre Kinder mangels finanzieller Möglichkeit, ihnen eine Houkou-Registrierung erkaufen
zu können, nirgendwo wirklich integrieren können, und der Behördenwillkür und -schikane, der sie
ausgesetzt sind, sowie der schweren seelischen Schäden ein solches Leben als juristische „Unperson“ für
die betroffenen Eltern und Kinder: Nathan VanderKlippe in: The Globe and Mail vom 13.3.2015: The Gost
Children of China: In the Wake of China´s One-Child-Policy a Generation is lost,
www.theglobeandmail.com/news/world/the-ghost-children-in-the-wake-of-chi na´s-one-child-policy-a-
generation-is-lost; siehe auch den Aufruf des UN-Kommittees für Frauenrechte an China, alle Sanktionen für
die unerlaubte Geburt von Kindern aufzuheben und alle Barrieren für die Registrierung solcher Kinder zu
entfernen: UN-Committe on the Elimination of Discrimination against Women CEDAW, 14.11.2014 -
Concluding Observations on the combined 7th and 8th Periodic Reports of China, Ziff. 39b).
26 Eltern, die ein Bußgeld nicht zahlen können, werden in aller Regel auch aus ihren Arbeitsverhältnissen
gekündigt, oft auch inhaftiert, aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, nicht selten von den
korrupten Beamten der Familienplanungsbehörde immer wieder zu Zahlungen erpresst, und gelegentlich
noch mit der Durchsuchung und gar völligen Zerstörung ihres Privateigentums sanktioniert.
27 Das Auswärtige Amt schildert insoweit in seinem Lagebericht (Stand Mai 2014), dass es zwar gegenüber
Auslandsrückkehrern, die mit einem im Ausland gezeugten Kind zurückkehren, eine gesetzlich
vorgeschriebene Entziehung des Kindes nicht mehr gebe, dass es aber gleichwohl „gelegentlich“ (d.h.
immer mal wieder) Fälle gibt, in denen die Behörden den Familien als Strafe für die Nichteinhaltung der
Familienplanungspolitik oder die Nichtzahlung der dafür festgesetzten enormen Geldbußen die Kinder
wegnehmen, an Waisenhäuser verkaufen und von dort manchmal sogar noch gegen hohe Beträge zur
Adoption ins Ausland vermitteln. „Immer wieder“ sei die Kontrolle der staatlichen Familienplanungspolitik
mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Zwangsabtreibungen selbst in fortgeschrittenen
Schwangerschaftsstadien verbunden. Häufig würden unverheiratete Frauen von den Behörden zu
„freiwilligen“ Abtreibungen gedrängt (AA, Lagebericht China 2014, S. 21).
28 Das deckt sich mit den neuesten seit den letzten beiden Entscheidungen des Gerichts vom 12.3.2014
veröffentlichten Analysen und Lageberichten anderer Auskunftsquellen zu diesem Thema (Britisches Home
Office, July 2015, Country Information and Guidance - China: Contravention of National Population and
Family-Planning Laws, Ziff. 2.3.2. - 2.3.6., wonach es auch nach Änderung der Erlaubnismöglichkeit für ein
zweites Kind für Eltern, von denen nur einer selbst aus einer Ein-Kind-Familie stammt, bisher nicht zu einer
Entspannung auf Seiten der Familienplanungsbehörden gekommen ist, sondern diese nach wie vor mit
harschen Maßnahmen die Geburtenkontrollpolitik durchsetzen, allein schon deshalb, weil die Eintreibung
der extrem hohen Bußgelder eine bedeutende Einkommensquelle für die örtlichen
Familienplanungsbehörden darstellt, siehe dazu auch Ziffern 5.3.2., 5.3.5.; 5.4.3.; 5.4.5; 5.4.8.; 5.5.4;
5.7.1. - 5.7.6; siehe ferner: Immigration and Refugee Board of Canada, 16.10.2014, dort Ziff.2.2. und 3.2.;
US-Dept.of State, Country Report on Human Rights Practices 2014- China, Section: Women - Reproductive
Rights = www.ecoi.net/local_loin/306284/443559_de.html; ACCORD -Austrian Center for Country of Origin
& Asylum Research and Documentation, vom 21.11.2014; Australian Government - Migration Review
Tribunal - Refugee Review Tribunal, 3. Auflage, 8.3.2013 - letzter Änderungsstand: 8.9.2013: Background
Paper China: Family Planning - Ziff.3.4.2., 4.4., 5., 6.2. und 6.3.).
29 All diesen Berichten ist im Übrigen auch zu entnehmen, dass eines der Haupthindernisse einer raschen
Beseitigung der harschen Geburtenkontrollpolitik das handfeste wirtschaftliche Interesse der
Familienplanungsbehörden ist, die mit der Erhebung von Bußgeldern für ihre Behörde aber auch für die
damit befassten Beamten persönlich verknüpften Möglichkeiten zur Einkommenserzielung zu nutzen, und
dass die Beamten und Behörden ihrerseits nach wie vor einer unverändert strikten Kontrolle der Einhaltung
ihrer „Planziele“ in Sachen Geburtenkontrollpolitik unterliegen und Beförderungen von den erreichten
Verhinderungen bzw. Sanktionierungen unerlaubter Geburten abhängig gemacht werden und sie
ansonsten auch durch entsprechende Berichts- und Dokumentationspflichten dauernd unter Erfolgsdruck
gesetzt bzw. sie bei Nichterreichen der Ziele mit Sanktionen belegt werden (siehe insoweit etwa The
Economist, vom 10.1.2015 - Enforcing with a smile: „Changing officials habits could prove hard. For 35
years the enforcers have been evaluated ruthlessly by their superiors fort her fulfillment of quantifiable
targets“; ebenso Home Office, July 2015, Ziff. 5.3.1. unter Verweis auf US Dept.of State, Country Report
China 2014, wonach die Beamten der Familienplanungsbehörden mit Beförderungen aber auch
Bestrafungen zur Einhaltung der Zahlenziele in ihren Abteilungen gedrängt werden und Ziff.2.3.6, wonach
sie ihre strenge Durchsetzung der Familienplanungsziele, zu der sie erneut durch die Kommunistische Partei
im November 2013 aufgerufen worden seien, nicht gelockert hätten).
30 4) Konkret auf den Fall des Klägers und seiner Eltern bezogen, die ihn ungenehmigt im Ausland bekommen
haben, bedeutet dies Folgendes: Lediglich sein älterer Bruder, das erste Kind seiner Eltern, das in China
verblieben ist, hat als erlaubtes erstes Kind keine Probleme. Alle weiteren Kinder der Eltern des Klägers,
also seine ältere Schwester und er selbst, sind hingegen sogenannte „unerlaubte Schwarzkinder“, deren
Existenz nach den chinesischen Regeln ungenehmigt und auch nicht genehmigungsfähig ist, wie sie in der
Heimatprovinz Fujian gelten, in welche die Eltern mit ihnen wegen des Houkou-Systems nur zurückkehren
können.
31 In China werden, wie die Eltern des Klägers in der mündlichen Verhandlung plausibel und glaubhaft
angaben, generell Frauen im gebärfähigen Alter regelmäßig, teilweise auch vierteljährlich einer
gynäkologischen Untersuchung auf unerlaubte Schwangerschaften hin unterzogen (Australian Government
- Refugee Review Tribunal, Background Paper China: Family Planning, 3. Auflage, 8.3.2013 - letzter
Änderungsstand: 8.9.2013: Ziff.3.4.2.; ebenso zur Testpflicht von Eltern eines über einem Jahr alten Kindes:
ACCORD, a.a.O., unter: Bußgeldzahlungen für unehelich geborene Kinder und Verweigerung der
Registrierung bei Nichtzahlung; siehe auch VanderKlippe, The Globe and Mail, a.a.O., Ausdruck S. 9 von 22).
Zu hohen Bußgeldzahlungen für nicht erlaubte Schwarzkinder werden nicht nur die Ehepartner jeder
einzeln heranzogen, sondern auch deren Verwandte (Australian Refugee Review Tribunal, a.a.O., Ziff.4.4).
Von daher ist es nachvollziehbar und anhand der mit unterschiedlichen Fotodaten ausgewiesenen Fotos
auch glaubhaft, dass die Eltern des Klägers zur Entlastung seiner Großeltern und um diese vor solchen
finanziell einschneidenden Sanktionen zu bewahren, diesen Fotos zum Nachweis eines Auslandsaufenthalts
ohne erneute Schwangerschaften vorgelegt haben.
32 Die in der Provinz Fujian geltenden Ausnahmeregeln für weitere Kinder greifen im Fall der Eltern des
Klägers nicht ein, so dass weder seine Existenz noch die seiner älteren Schwester im Sinne dieser
Vorschriften genehmigungsfähig ist. Die Ausnahmen betreffen nämlich nur ein zweites Kind und auch dies
nur, wenn die Eltern beide bzw. nur einer von ihnen ein Einzelkind war. Das trifft auf beide ausweislich
ihrer Angaben in ihrem eigenen Asylverfahren nicht zu (siehe BAS 27 bzw. 33 der beigezogenen
Bundesamtsakte der Eltern), wonach der Vater des Klägers noch eine Schwester habe bzw. die Mutter des
Klägers noch einen Bruder habe. Diese Angaben sind auch glaubhaft, da die Kläger seinerzeit bei ihrer
Anhörung im Jahre 2002 nicht wissen konnten, dass es darauf einmal ankommen würde, und insofern keine
Gefahr interessengeleiteter falscher Angaben besteht.
33 Auch die anderen Ausnahmen: Behinderung, Einwohnerschaft in Hong Kong, Macao, oder Taiwan,
wiederverheiratete Paar ohne vorherige Kinder, Eltern als kommunistischer Märtyrer, Sterilität der Brüder
des Kindesvaters, bisher bei ländlichen Paaren nur eine Tochter etc. (siehe dazu Australian Refugee Review
Tribunal, a.a.O., Ziff. 6.3.) sind im Fall der Eltern des Klägers ersichtlich nicht erfüllt.
34 Schließlich gibt es auch keine die Eltern des Klägers als Auslandsrückkehrer privilegierende Vorschrift in
Fujian. Denn Auslandsrückkehrer werden von den sozialen Bußgeldzahlungen für ein unerlaubtes zweites
Kind nur befreit, wenn beide Eltern im Ausland studiert haben (Australian Refugee Review Board, a.a.O.
Ziff. 6.3.), was bei den Eltern des Klägers nicht der Fall ist: Sie haben beide in Deutschland (und auch schon
zuvor in China) nicht studiert, sondern haben allenfalls eine Mittelschulbildung. Der Vater arbeitet als
ungelernte Kraft auf der Basis des gesetzlichen Mindestlohns in der Gastronomie, die Mutter ist infolge
ihres Verkehrsunfalls nicht arbeitsfähig.
35 Für den somit in zwei Fällen vorliegenden Verstoß der Eltern sind nach den in Fujian geltenden Regeln
soziale Kompensationsgebühren, d.h. Bußgelder in Höhe zwischen zwei bis sechs durchschnittlichen
Jahreslöhnen zu bezahlen, um im Gegenzug für das unerlaubte Kind eine Houkou-Registrierung zu erhalten
(Australian Refugee Review Tribunal, a.a.O., Ziff. 6.2.1.). Dass die Eltern prognostisch betrachtet nach einer
Rückkehr finanziell dazu in der Lage wären, dem Kläger ein Schicksal als unregistriertes „illegales
Schwarzkind“ (bzw. juristisch und sozial betrachtet „Geisterkind“) durch die Zahlung eines Bußgeldes zu
ersparen, ist zur Überzeugung des Gerichts nicht zu erwarten.
36 Die Festsetzung der konkreten Höhe dieser Bußgelder steht unter anderem im Ermessen der Behörden,
deren Willkür hier auch Tür und Tor geöffnet ist. Bei Rückkehrern aus dem Ausland, wie den Eltern des
Klägers, werden die Behörden grundsätzlich das Vorhandensein von im Ausland erworbenem Reichtum
bzw. Wohlstand vermuten und ihre Bußgeldforderungen entsprechend hoch ansiedeln. Das dürfte vor dem
Hintergrund der zitierten generellen Informationen realistisch zu erwarten sein. Hinzu käme im
vorliegenden Fall der Umstand, dass die Kläger die heimatlichen Behörden - für diese dann offenkundig
erkennbar - durch jahrelange Falschangaben bezüglich ihrer Kinderzahl getäuscht haben. Das aber wird
nicht eben die Verhängung eines Bußgeldes im unteren Bereich der möglichen Sanktionenskala zur Folge
haben, sondern im Gegenteil wohl straferschwerend gewertet werden….
37 5) Auch an der rechtlichen Würdigung, dass dies in Anknüpfung an die Zugehörigkeit des Klägers zu einer
sozialen Gruppe eine Verfolgungshandlung von menschenrechtsverletzendem Gewicht darstellt, hält das
Gericht nach wie vor fest.
38 Die gegenteiligen mittlerweile ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen vermögen insoweit
nicht zu überzeugen (vgl. BayVGH, B. v. 8.1.2015 - 15 ZB 15.30001; VG Frankfurt a.M., B. v. 23.10.2014 -
2 L 2186/14.F.A.; VG Bayreuth, U. v. 4.11.2014 - B 3 K 13.30190; VG Frankfurt a.M., U. v. 20.3.2014 - 2 K
2826/13/F.A.; VG Meiningen, U. v. 2.4.2014 - 1 K 20223/10 Me. - alle in juris).
39 Die Gruppe der - aus Sicht der chinesischen Regierung und Mehrheitsbevölkerung - „kinderreichen“
Familien, bzw. der Kinder mit einem oder mehr Geschwistern, ist eine klar erkennbare und gesellschaftlich
wahrnehmbare Gruppe. Dass unter Umständen Ausnahmen für einzelne Zweit- oder gar Drittkinder
möglich sein mögen, je nach Provinz, Ausnahmetatbestand oder Bußgeldzahlung, und daher verschiedene
Gruppenbildungen möglich sind, ändert (entgegen der in der oben zitierten
Verwaltungsgerichtsrechtsprechung vertretenen Ansicht) nichts daran, dass es in der jeweiligen Provinz,
die man aufgrund des Houkou-Systems legal nicht einfach verlassen kann, im Grundsatz diese Zielgruppe
ist, auf die sich - wenn eben solche Ausnahmetatbestände nicht vorliegen - die Sanktionspolitik der
chinesischen Regierung richtet.
40 Die unter Verstoß gegen diese Grundregeln gezeugten Kinder sollen nämlich entweder durch
Zwangsabtreibung schon am Geborenwerden gehindert und eliminiert werden, bzw. die Geburt weiterer
solcher Kinder durch die Zwangssterilisation ihrer insoweit als asozial eingestuften Eltern verhindert
werden, die der „sozialen“ Gruppe der asozial die Mehrheitsbedürfnisse nach Bevölkerungskontrolle
missachtenden Eltern zuzurechnen sind, bzw. die gleichwohl existierenden Kinder werden, falls für sie kein
Bußgeld gezahlt werden kann und da man sie nach ihrer Geburt nicht mehr umbringen kann und will, dann
eben als juristisch nicht existent ins Vakuum der Rechtlosigkeit gestoßen, indem man ihnen die in jeder
Hinsicht für ein Überleben in der chinesischen Gesellschaft unerlässliche Houkou-Registrierung verweigert
wird und sie damit zum Dahinvegetieren als Entrechtete am Rande der Gesellschaft verdammt.
41 Diese bewusst als Sanktion verhängte Vorenthaltung von Ausbildungs- und
Gesundheitsversorgungsleistungen, die dem Staat möglich sind und auch tatsächlich von ihm erbracht
werden, stellt insofern eine gezielte und bewusste Benachteiligung und somit etwas ganz anderes dar, als
das generelle Fehlen solcher staatlicher Leistungen in Staaten, die solche nicht aufbringen können, und auf
die nach den internationalen Menschenrechtsstandards zwar ein Recht bestehen mag, das aber wie bei
allen sozialen Rechten nur unter dem Vorbehalt des Finanzierbaren und Möglichen gewährt werden kann.
Die generelle Verweigerung einer Houkou-Registrierung als Sanktion für eine unerlaubte Geburt ist auch
etwas anderes, als die in China vorzufindende Zweiteilung in Houkou-Registrierungen für den Aufenthalt
auf dem Land bzw. für den Aufenthalt in der Stadt, welche zahlreichen Wanderarbeitnehmer, die nur eine
ländliche Houkou-Registrierung besitzen, von einem legalen Leben, Wohnen und Arbeiten in der Stadt
ausschließt und sie - falls sie sich dort doch aufhalten - in den Städten in die Illegalität drängt, wo sie und
ihre Kinder mangels städtischer Houkou-Registrierung keinen Anspruch auf Schulbesuch, Gesundheits- und
Sozialleistungen haben (zu diesem System: The Economist vom 20.3.2014 - Urbanisation, Moving on Up).
42 Die Verweigerung der Houkou-Registrierung stellt mithin nicht nur im asylrechtlichen Sinne wortwörtlich
eine „Ausgrenzung aus der staatlichen Friedensordnung“ dar, sondern eben auch eine flüchtlingsrechtliche
Verfolgung in Anknüpfung an eine soziale Gruppenzugehörigkeit, nämlich die Gruppe der per se als
„überflüssig“ angesehenen Menschen in China.
43 Das haben in sehr ausdifferenzierten gründlichen Entscheidungen zur Anwendbarkeit des Begriffs der
„sozialen Gruppe“ im Sinne der GFK auf unerlaubte chinesische „Schwarzkinder“ unter anderem der High
Court of Ireland und der High Court of Australia sowie das Refugee Review Tribunal von Australien so in den
letzten Jahren entschieden (vgl. High Court - Ireland, Decision, dated 12/10/2014, in der Sache: S.J.L. -vs. -
Refugee Appeals Tribunal & ors. - [2014] IEHC 608, Rz. 14. ff. [50.]; High Court of Australia, in der Sache: A.
vs. Minister for Immigration and Ethnic Affairs., Decision dated 24.2.1997 - [1997] HCA 4; (1997) CLR 225;
(1997) 142 ALR 331; und Australian Refugee Review Tribunal, Decision dated 1.3.2012, RRT Case Number:
1108245 [2012] RRTA 120). Auch das britische Home Office ist offenbar der Ansicht, dass Mütter, die unter
Verstoß gegen die chinesische staatliche Geburtenkontrollpolitik ein Kind bekommen haben,
flüchtlingsrechtlich eine „soziale Gruppe“ darstellen (siehe Home Office, July 2015, a.a.O. Ziff. 2.2.1. unter
Verweis auf Country Guidance Case of AX [Family Planning Scheme] China CG [2012] UKUT 00097 [IAC]
vom 16.4.2012). Auf diese Entscheidungen wird im Einzelnen verwiesen. Wie der Ausschuss des
amerikanischen Kongresses zu China (Congressional Executive Commission on China - One Year Later,
Initial Impact of China´s Population Planning Policy - Adjustment smaller than expected, 9.12.2014)
ausführte, verletze die chinesischen Geburtenkontrollpolitik unter anderem die Standards wie sie in der
„Bejing Declaration and Platform for Action“ von 1994 und in dem „Programme of Action of the Cairo Intl.
Conference on Population and Development“ festgelegt sind, ebenso, wie der Ausschluss von unerlaubten
Kindern aus dem Registrierungssystem (Houkou) eine nach der „Internationalen Konvention zum Schutz
der Kinderrechte“ und nach dem Internationalen Pakt über die Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen
Rechte“ verbotene Diskriminierung darstelle.
44 Vor diesem Hintergrund lässt sich - anders als von den genannten Verwaltungsgerichten vertreten - die
chinesische Geburtenkontrollpolitik nicht einfach als eine jeden gleichermaßen ohne Unterschied treffende
und daher nicht diskriminierende, rein ordnungspolitische Maßnahme zur Bekämpfung einer für das
wirtschaftliche und soziale Überleben des chinesischen Staates und seiner Einwohner schädlichen
Überbevölkerung einstufen. Vielmehr liegt die Diskriminierung hier bereits darin, dass diese Maßnahmen an
die Ausübung eines allgemeinen Menschenrechts zur freien Entscheidung über die eigene Reproduktion
anknüpft, also an ein im Grundsatz erlaubtes Verhalten, das genauso schutzwürdig ist, wie das Ausleben
einer politischen oder religiösen Überzeugung, und daher für staatliche Eingriffe keinen legitimen
Anknüpfungspunkt darstellen kann.
45 Selbst wenn man aber die Zielsetzung einer Eindämmung der Bevölkerungszahl als eine legitime
ordnungspolitische unpolitische und nichtdiskriminierende Zielsetzung ansieht, deren Verfolgung -
zumindest im Grundsatz - einen Eingriff in das Menschenrecht auf freie Entscheidung über die eigene
Reproduktion - etwa als gleichgewichtiger Wert von Verfassungsrang bzw. wegen kollidierender Grundrecht
Dritter rechtfertigen könnte, lässt sich im Fall der chinesischen Bevölkerungspolitik nicht übersehen, dass
diese sich selbst unter diesen Gesichtspunkten als unverhältnismäßig, überflüssig und im Ergebnis (s.o.)
sogar im Gegenteil als sozialschädlich erwiesen hat und daher solche Eingriffe schon deshalb nicht zu
rechtfertigen vermochte und nach wie vor nicht vermag (siehe insoweit den Artikel in The Economist,
11.7.2015, mit einer unter dem Titel „unnecessary force“ abgedruckten Tabelle der Weltbank zum
Rückgang der Bevölkerungszahlen auch in Ländern, wie unter anderem sogar im bevölkerungsreichen
Indien, die eine solche harsche Politik der Bevölkerungskontrolle nicht betrieben haben). Die Maßnahmen
der chinesischen Politik, die in erster Linie auf gewaltsame Vernichtung der Reproduktionsfähigkeit von
Eltern mit überschießendem Kinderwunsch durch Zwangsterilisation abzielen, bzw. auf die Eliminierung
unerlaubt empfangener Föten (durch Zwangsabtreibung) bzw. auf die Ausgrenzung und Rechtlosstellung
gleichwohl geborener „überzähliger“ unerlaubter Kinder abzielen, erweisen sich zudem wegen ihres
direkten Durchgriffs auf den Wesenskern der Existenz und die Integrität ihrer menschlichen Zielobjekte
schließlich auch schon deshalb als diskriminierend, weil sie an deren So-Sein bzw. an deren
menschenrechtlich geschütztem Verhalten ansetzen und unverhältnismäßig sind, da demgegenüber
bedenkenfreie Maßnahmen zur Bevölkerungsstabilisierung, wie etwa wirtschaftliche Anreize, die
Einführung eines Sozialversicherungssystems, Aufklärung und vor allem auch Verhütungskampagnen als
mildere Mittel zur Verfügung stehen und insoweit überall sonst in der Welt zur Bevölkerungskontrolle
genutzt werden, während in China zwar 85 Prozent der Frauen empfängnisverhütende Mittel benutzen,
aber offenbar nur 12 % der Frauen zwischen 25 und 30 Jahren die Verhütungsmethoden wirklich
verstanden haben und 68 % der Frauen sich über die Methoden und ihre Wirkung im Einzelnen im
Unklaren waren (vgl. Home Office, July 2015, a.a.O., Ziff. 5.2.2. unter Verweis auf US Dept. of State,
Country Report China 2014, a.a.O.).“
46 Diesen Ausführungen schließt sich der Senat für die Beurteilung der Situation des Klägers, dessen Eltern
ebenfalls aus der Provinz Fujian stammen, an und macht sie sich unter Berücksichtigung der aktuellen
Entwicklungen zu Eigen. Seit Herbst 2015 ist China allerdings zu einer „Zwei-Kind-Politik“ übergangen (vgl.
etwa Auswärtiges Amt Lagebericht vom 20.11.2015), die auch mittlerweile umgesetzt wird und zu ersten
Nachregistrierungen der „Zweitgeborenen“ geführt hat und weiter führt (vgl. Nathan van der Klippe in The
Globe and Mail vom 03.04.2016). Dass sich hierdurch auch mittelbar die Situation der „Drittgeborenen“
oder, wie der Kläger, der „Viertgeborenen“ grundlegend geändert haben könnte, ist nach den vom Senat
zusätzlich herangezogenen Erkenntnismitteln, insbesondere auch nach dem Lagebericht vom 20.11.2015,
nicht ersichtlich und bleibt abzuwarten. Nach wie vor können sich die Betroffenen oder deren Eltern nur
durch die Zahlung horrender Summen „freikaufen“, wozu die Eltern, die, wie sich in der mündlichen
Verhandlung ergeben hat, nach wie vor faktisch (so die Mutter) bzw. aus ausländerrechtlichen Gründen (so
der Vater) nicht arbeiten, ersichtlich nicht in der Lage sein werden.
47 Was die Begriffsbestimmung der sozialen Gruppe im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG betrifft, ist mit
Rücksicht auf die Ausführungen im angegriffenen Urteil zur Verdeutlichung noch darauf hinzuweisen, dass
es hierfür unerheblich ist, dass etwa alle Mitglieder der Gruppe auch tatsächlich verfolgt werden. Dass etwa,
wie hier, unter Umständen einzelne Angehörige der Gruppe sich durch die genannten Bußgeldzahlungen
freikaufen können, ist nicht von Belang. Die Bestimmung der sozialen Gruppe und das Phänomen der
Gruppenverfolgung dürfen nämlich nicht in eins gesetzt werden (vgl. etwa Marx, Handbuch des
Flüchtlingsrechts, 2. Aufl., § 24 Rn. 16 ff.; Göbel-Zimmermann/Hruschka, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl., § 3b
AsylG Rn. 31).
48 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
49 Gründe die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).