Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 14.03.2013

aufschiebende wirkung, vorläufiger rechtsschutz, asylbewerber, überwiegendes öffentliches interesse

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 14.3.2013, 8 S 2504/12
Prüfungsumfang im Beschwerdeverfahren - Gemeinschaftsunterkunft für
Asylbewerber im Gewerbegebiet
Leitsätze
1. Ergibt die auf dargelegte Gründe beschränkte Prüfung des Beschwerdegerichts (§
146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), dass die tragende Begründung des
Verwaltungsgerichts die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nicht rechtfertigt, hat es umfassend zu prüfen, ob vorläufiger
Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (so auch: OVG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 15.01.2009 - 9 S 70.08 - juris Rn. 3 f.; OVG Nordrhein-
Westfalen, Beschluss vom 21.12.2006 - 7 B 2193/06 - BauR 2007, 861).
2. Eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber ist in einem Gewerbegebiet auch
nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO als Anlage für soziale Zwecke
zulässig, weil sie nach ihrer gesetzlichen Zweckbestimmung für eine mehr als nur
unbeachtlich kurze Dauer Lebensmittelpunkt des einzelnen Asylbewerbers ist, ihr
damit ein wohnähnlicher Charakter zukommt und sie sich daher in einem
Gewerbegebiet als gebietsunverträglich erweist.
Tenor
Auf die Beschwerden der Antragsteller zu 1 und 2 wird der Beschluss des
Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21. November 2012 - 11 K 3405/12 - geändert,
soweit er deren Antrag ablehnt. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der
Antragsteller zu 1 und 2 gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der
Antragsgegnerin vom 21. September 2012 wird angeordnet.
Die Beschwerden der Antragsteller zu 3 bis 5 gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21. November 2012 - 11 K 3405/12 - werden
zurückgewiesen.
Die Antragsteller zu 3 bis zu 5 tragen jeweils ein Viertel der Gerichtskosten, ein Viertel
der außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin und des Beigeladenen sowie ihre
eigenen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen. Die Antragsgegnerin und
der Beigeladene tragen jeweils ein Achtel der Gerichtskosten, jeweils die Hälfte der
außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu 1 und zu 2 sowie je ein Viertel ihrer
außergerichtlichen Kosten.
Der Streitwert für das Verfahren in beiden Rechtszügen wird unter Änderung der
Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts von Amts wegen auf jeweils 15.000,--
EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Antragsteller wenden sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer dem
Beigeladenen erteilten Baugenehmigung zur Änderung der Nutzung eines
Wohnheims mit Werkstatt und Schulungsräumen in Gemeinschaftsunterkünfte für
Asylbewerber sowie Büros mit Lagerräumen.
2 Die Antragsgegnerin erteilte dem Beigeladenen mit Bescheid vom 21.09.2012 die
streitbefangene Baugenehmigung zur oben beschriebenen Nutzungsänderung
entsprechend seinem Antrag vom 11.06.2012 in Anwendung von § 31 Abs. 1
BauGB, § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Der Bauantrag war ausdrücklich auf
„Gemeinschaftsunterkünfte zur Unterbringung von Personen nach dem
Flüchtlingsaufnahmegesetz (Asylbewerber)“ gerichtet.
3 Das Baugrundstück (Flst. Nr. ...) befindet sich ebenso wie das im Miteigentum der
Antragsteller zu 1 und zu 2 befindliche Grundstück (Flst. Nr. ...) im Geltungsbereich
des Bebauungsplans „Handwerkergebiet“ der Gemeinde Oeffingen vom
29.10.1973, in dem nach Nr. 1.2 seines Textteils für das gesamte Plangebiet ein
„beschränktes Gewerbegebiet nach § 8 Abs. 4 BauNVO“ festgesetzt wird, in dem
„nur nicht wesentlich störende Betriebe im Sinne von § 6 BauNVO zulässig [sind]“.
Die Grundstücke der Antragsteller zu 4 und zu 5 grenzen südlich bzw. südöstlich
an das Grundstück des Beigeladenen an und befinden sich innerhalb eines durch
Bebauungsplan festgesetzten Industriegebiets. Das Grundstück der Antragstellerin
zu 3 befindet sich südwestlich des Grundstücks des Beigeladenen auf der
anderen Seite der „... Straße“ im Geltungsbereich eines weiteren Bebauungsplans,
der dort ein Gewerbegebiet festsetzt.
4 Die Antragsteller haben gegen die genehmigte Nutzungsänderung Widerspruch
erhoben. Ihre Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der
Widersprüche hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 21.11.2012
abgelehnt: Die Widersprüche der Antragsteller zu 3 bis 5 seien ersichtlich
aussichtslos. Da sich deren Grundstücke außerhalb des Geltungsbereichs des
Bebauungsplans „Handwerkergebiet“ befänden, könnten sie sich nicht auf einen
Gebietserhaltungsanspruch berufen. Das in § 15 Abs. 1 BauNVO verankerte
Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt, da nicht ersichtlich sei, aus welchen
Gründen die Antragsteller zu 3 bis 5 durch das Bauvorhaben unzumutbar
beeinträchtigt sein könnten. Hingegen erwiesen sich die Erfolgsaussichten der
Widersprüche der Antragsteller zu 1 und 2 als offen. Sie könnten sich auf einen
Gebietserhaltungsanspruch berufen. Die genehmigte Gemeinschaftsunterkunft sei
zwar nach § 8 Abs. 2 BauNVO im Gewerbegebiet nicht zulässig. Sie sei indes
nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO durch die Antragsgegnerin ausnahmsweise
zugelassen worden. Asylbewerberunterkünfte seien Einrichtungen für soziale
Zwecke im Sinne dieser Vorschrift. Die Zulassung auf der Grundlage des § 8 Abs.
3 Nr. 2 BauNVO setze aber voraus, dass die Gemeinschaftsunterkunft mit der
Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets vereinbar sei. Entscheidend sei, ob ein
Vorhaben generell geeignet sei, ein bodenrechtlich beachtliches Störpotential zu
entfalten, das sich mit der Zweckbestimmung des Baugebiets nicht vertrage. Ob
sich nach diesen Grundsätzen eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber mit
der allgemeinen Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets vertrage, das geprägt
sei von werktätiger Geschäftigkeit, sei offen. Ob es sich bei der genehmigten
Gemeinschaftsunterkunft um eine wohnähnliche Nutzung handele, könne nach
den vorgelegten Bauunterlagen nicht festgestellt werden. Die Klärung müsse dem
Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die notwendige Interessenabwägung
falle zu Lasten der Antragsteller aus. Da es sich im Wesentlichen um eine
Nutzungsänderung eines vorhandenen Gebäudes handele, wäre die Nutzung
nach einer etwaigen rechtskräftigen Aufhebung der Baugenehmigung einzustellen,
ohne dass die Antragsteller durch die geringfügigen baulichen Änderungen in ihren
Rechten verletzt würden.
5 Gegen diesen Beschluss richten sich die Beschwerden der Antragsteller, die
weiterhin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Widersprüche
begehren. Die Antragsgegnerin und der Beigeladene sind der Beschwerde
entgegengetreten.
6 Wegen der Einzelheiten wird auf die dem Senat vorliegenden Akten der
Antragsgegnerin und die Gerichtsakten verwiesen.
II.
7 Die zulässigen (§§ 146, 147 VwGO) Beschwerden der Antragsteller zu 1 und 2
sind begründet. Die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs ist anzuordnen
(1.). Hingegen haben die zulässigen Beschwerden der Antragsteller zu 3 bis 5
keinen Erfolg (2.).
8 1. Die im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat
nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben zu einer Änderung des
Beschlusses des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Antragsteller zu 1 und 2
Anlass. Mit ihrem Beschwerdevorbringen rügen die Antragsteller zu Recht die
Richtigkeit der den angefochtenen Beschluss tragenden Rechtsauffassung, die
Erfolgsaussichten ihrer Widersprüche seien offen (a)). Die deshalb erforderliche
Prüfung ihres Rechtsschutzbegehrens durch den Senat an den allgemeinen
Maßstäben des § 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO führt zur Anordnung der
aufschiebenden Wirkung der Widersprüche (b)).
9 a) Die Rüge der Antragsteller zu 1 und 2, wonach sich das Verwaltungsgericht
fragen lassen müsse, weshalb es sich bei der Nutzung des Gebäudes als
Gemeinschaftsunterkunft nicht um eine wohnähnliche Nutzung handele, obwohl es
selbst „Bezüge zu einer Wohnnutzung“ festgestellt habe und es nicht bezweifelt
werden könne, dass es sich bei Gemeinschaftsunterkünften jedenfalls um
wohnähnliche Nutzungen handele, greift zunächst hinsichtlich der
Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts durch, dass diese Frage offen sei.
10 Der Ansatz des Verwaltungsgericht, dass es der Klärung im Hauptsacheverfahren
vorbehalten bleiben müsse, ob es sich bei der genehmigten
Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber um eine wohnähnliche Nutzung
handele, weil dies nach den genehmigten Bauvorlagen nicht festgestellt werden
könne, ist nämlich nicht zutreffend. Denn wäre der Baugenehmigung die mit ihr
zugelassene Art der baulichen Nutzung nicht zu entnehmen, handelte es sich um
einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot aus § 37 Abs. 1 LVwVfG; die
Baugenehmigung erwiese sich bereits als rechtswidrig. Insoweit kann es bei der
Drittanfechtung der Baugenehmigung auch nicht auf die tatsächliche sondern
allein auf die genehmigte Art der Nutzung ankommen (vgl. Sauter, LBO, 3. Aufl.,
Stand: Juni 2010, § 58 LBO Rn. 33). Die Kategorisierung der genehmigten
Nutzungsart hat nämlich anhand der Vorgaben der einschlägigen
Baunutzungsverordnung - hier die Fassung der Bekanntmachung vom 26.11.1968
(BGBl. I, S. 1237, ber. BGBl. 1969 I, S. 11) BauNVO 1968 - und der Bauvorlagen
zu erfolgen. Die Frage der Bestimmtheit der Baugenehmigung hinsichtlich der mit
ihr genehmigten Art der baulichen Nutzung kann im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes auch beantwortet werden, so sie denn entscheidungserheblich ist.
Abgesehen davon ist den genehmigten Bauvorlagen hinreichend bestimmt
jedenfalls zu entnehmen, dass eine wohnähnliche Nutzung genehmigt ist (siehe
nachfolgend b) aa) (b) (aa)).
11 b) Ergibt die auf dargelegte Gründe beschränkte Prüfung des Beschwerdegerichts
(§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), dass die tragende Begründung des
Verwaltungsgerichts die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nicht rechtfertigt, hat es umfassend zu prüfen, ob vorläufiger
Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (OVG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 15.01.2009 - 9 S 70.08 - juris Rn. 3 f.; OVG
Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 21.12.2006 - 7 B 2193/06 - BauR 2007, 861
und vom 08.05.2002 - 1 B 241/02 - NVwZ-RR 2003, 50; vgl. auch
Senatsbeschluss vom 25.11.2004 - 8 S 1870/04 - VBlBW 205, 282; Guckelberger,
in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 146 Rn. 115).
12 Die vom Senat zu treffende umfassende Interessenabwägung (§§ 80a Abs. 3, 80
Abs. 5 Satz 1 VwGO) unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des
Widerspruchs der Antragsteller zu 1 und 2 fällt zu Lasten der Antragsgegnerin und
des Beigeladenen aus. Anders als das Verwaltungsgericht misst der Senat dem
privaten Interesse des Beigeladenen, von der Baugenehmigung - dem
gesetzlichen Regelfall entsprechend (§ 212a Abs. 1 BauGB) - sofort Gebrauch
machen zu dürfen, keinen Vorrang vor dem Interesse der Antragsteller an der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Baugenehmigung bei.
Vielmehr überwiegt das Suspensivinteresse der Antragsteller zu 1 und 2.
Maßgeblich hierfür ist, dass sich die angegriffene Baugenehmigung in der
Hauptsache wohl als rechtswidrig erweisen wird und sie die Antragsteller dadurch
in eigenen Rechten verletzen dürfte, so dass sie wohl aufzuheben sein wird (vgl. §
113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
13 aa) Auf die von den Antragstellern aufgeworfene Frage, ob die streitbefangene
Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber auch unter Berücksichtigung der
neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom
02.02.2012 - 4 C 14.10 - BVerwGE 142, 1) in bauplanungsrechtlicher Hinsicht eine
Anlage für soziale Zwecke sein kann, kommt es für die Beurteilung der
Erfolgsaussichten in der Hauptsache allerdings nicht an. Unabhängig von der
Beantwortung dieser Frage erweist sich die erteilte Baugenehmigung
voraussichtlich als rechtswidrig.
14 (a) Sollte es sich bei der Gemeinschaftsunterkunft um keine Anlage für soziale
Zwecke handeln, wäre sie in dem (beschränkten) Gewerbegebiet ersichtlich
unzulässig, da sie dann weder unter den hier eingeschränkten Katalog von
Nutzungsarten nach § 8 Abs. 2 BauNVO 1968 noch unter eine andere in § 8 Abs.
3 BauNVO 1968 für ausnahmsweise zulässig erklärte Nutzungsart fallen könnte.
Der Senat weist jedoch darauf hin, dass er nach seiner bisherigen
Rechtsprechung bei einer „heimmäßigen Unterbringung“ von Asylbewerbern das
Vorliegen einer Anlage für soziale Zwecke angenommen hat (Senatsurteil vom
11.05.1990 - 8 S 220/90 - juris Rn. 23 = NVwZ 1990, 1202) und eine Zulassung
einer Gemeinschaftsunterkunft in einem Gewerbegebiet bislang allein in Fällen
einer Befreiung (§ 31 Abs. 2 BauGB) als rechtmäßig angesehen hat
(Senatsbeschlüsse vom 17.07.1992 - 8 S 1621/92 - DÖV 993, 257 und vom
29.09.1993 - 8 S 2160/93 - NVwZ 1994, 800 (801)). Das
Bundesverwaltungsgericht hat eine Gemeinschaftsunterkunft ,„zumindest“ als
Einrichtung für soziale Zwecke angesehen und offen gelassen, ob die
Unterbringung von Asylbewerbern generell als Wohnnutzung einzustufen sei
(BVerwG, Beschluss vom 04.06.1997 - 4 C 2.96 - NVwZ 1998, 173).
15 (b) Ebenfalls bauplanungsrechtlich unzulässig wäre die Gemeinschaftsunterkunft,
wenn es sich bei ihr um eine Anlage für soziale Zwecke im Sinne von § 8 Abs. 3
Nr. 2 BauNVO 1968 handeln sollte. Denn eine Gemeinschaftsunterkunft für
Asylbewerber ist in einem Gewerbegebiet deshalb auch nicht ausnahmsweise
nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO als Anlage für soziale Zwecke zulässig, weil sie
nach ihrer gesetzlichen Zweckbestimmung für eine mehr als nur unbeachtlich
kurze Dauer Lebensmittelpunkt des einzelnen Asylbewerbers ist, ihr damit ein
wohnähnlicher Charakter zukommt und sie sich daher in einem Gewerbegebiet als
gebietsunverträglich erweist.
16 (aa) Die Wohnähnlichkeit der Nutzung ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Baurechtlich genehmigt ist die Nutzung des Gebäudes des Beigeladenen für den
dauernden Aufenthalt von 68 Personen. Diese können sich in den ihnen
zugewiesenen Räumen und den Gemeinschaftsräumen uneingeschränkt zu jeder
Zeit aufhalten. Für den einzelnen Asylbewerber stellt sich die
Gemeinschaftsunterkunft daher regelmäßig für die Dauer seines Asylverfahrens
als sein räumlicher Lebensmittelpunkt dar; erst mit dem Abschluss des
Asylverfahrens (oder mit einem erstinstanzlich obsiegenden Urteil, § 53 Abs. 2
Satz 1 AsylVfG) endet in aller Regel die vorläufige Unterbringung (vgl. § 7 Abs. 4
und 5 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen -
Flüchtlingsaufnahmegesetz - FlüAG - vom 11.03.2004, GBl. S. 99, zuletzt geändert
durch Art. 71 der Achten Verordnung des Innenministeriums zur Anpassung des
Landesrechts an die geänderten Geschäftsbereiche und Bezeichnungen der
Ministerien vom 25.01.2012 (GBl. S. 65)), die grundsätzlich in der
Gemeinschaftsunterkunft erfolgt, § 6 Abs. 1 Satz 1 FlüAG. Der gesetzliche Begriff
der vorläufigen Unterbringung aus § 6 FlüAG grenzt dabei lediglich die
Unterbringungsform von derjenigen der Anschlussunterbringung (vgl. §§ 11 ff.
FlüAG) ab. Aus ihm kann gerade nicht auf eine nur unbeachtlich kurze Dauer der
Unterbringung des einzelnen Asylbewerbers geschlossen werden. Hinsichtlich der
Verweildauer ist zu berücksichtigen, dass ein Asylverfahren auch bei günstigem
Verlauf die Dauer von einigen Monaten kaum unterschreiten kann, häufig
tatsächlich diese Zeit aber deutlich überschreiten wird. So gibt etwa das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für das Jahr 2011 eine durchschnittliche
Gesamtverfahrensdauer für das Verwaltungs- und Gerichtsverfahren von 12,2
Monaten an, die sich im ersten Halbjahr 2012 auf 13,1 Monate erhöht hat
(Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Das deutsche Asylverfahren -
ausführlich erklärt, Nürnberg 2012, S. 40). Im Jahr 2011 lag der Median-Wert der
Verfahrensdauer bei acht Monaten (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(Hrsg.), Das Bundesamt in Zahlen 2011, Nürnberg 2011, S. 54). Die sich daraus
ergebende nicht nur kurze Verweildauer des Einzelnen in der Unterkunft als
seinem Lebensmittelpunkt - die dessen Schutzwürdigkeit bauplanungsrechtlich
grundsätzlich erhöht - ist letztlich ausschlaggebend für die Einstufung der Nutzung
als „wohnähnlich“ (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 29.04.1992 - 4 C 43.89 -
BVerwGE 90, 140 zu einem Arbeitnehmerwohnheim als „Beherbergungsbetrieb“).
17 (bb) Aus der Wohnähnlichkeit ihrer Nutzung folgt, dass eine
Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber trotz der ausnahmsweisen Zulässigkeit
von Anlagen für soziale Zwecke (§ 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO) in einem
Gewerbegebiet mangels ihrer Gebietsverträglichkeit nicht ausnahmsweise
zulässig ist.
18 Die Zulässigkeit eines bestimmten Vorhabens innerhalb eines Baugebiets der
Baunutzungsverordnung richtet sich nicht allein nach der Einordnung des
Vorhabens in eine bestimmte Nutzungs- oder Anlagenart, sondern auch nach der
Zweckbestimmung des jeweiligen Baugebiets. Die Prüfung der
Gebietsverträglichkeit rechtfertigt sich aus dem typisierenden Ansatz der
Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung. Der Verordnungsgeber will
durch die Zuordnung von Nutzungen zu den näher bezeichneten Baugebieten die
vielfältigen und oft gegenläufigen Ansprüche an die Bodennutzung zu einem
schonenden Ausgleich im Sinne überlegter Städtebaupolitik bringen. Dieses Ziel
kann nur erreicht werden, wenn die vom Verordnungsgeber dem jeweiligen
Baugebiet zugewiesene allgemeine Zweckbestimmung den Charakter des Gebiets
eingrenzend bestimmt (BVerwG, Urteil vom 02.02.2012 - 4 C 14.10 - BVerwGE
142, 1 Rn. 16; vgl. auch Urteile vom 18.11.2010 - 4 C 10.09 - BVerwGE 138, 166
Rn. 19 und vom 21.03.2002 - 4 C 1.02 - BVerwGE 116, 155 (158)). Hinsichtlich des
Gebietstypus des Gewerbegebiets gilt, dass Bauvorhaben, die außerhalb des
Anwendungsbereichs des § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO einer Wohn- oder
wohnähnlichen Nutzung zu dienen bestimmt sind, mit dem Charakter eines
Gewerbegebietes - abgesehen von gebietsakzessorischen Wohnnutzungen
sonstiger Art - unvereinbar sind. Denn in Gewerbegebieten soll nicht gewohnt
werden. Neben der Wohnnutzung nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO kann allein ein
sehr kurzfristiger, vorübergehender Aufenthaltszweck in Anlagen nach § 8 Abs. 3
Nr. 2 BauNVO zulässig sein (BVerwG, Beschluss vom 13.05.2002 - 4 B 86.01 -
NVwZ 2002, 1384 (1385)). Wohnähnliche Nutzungsformen sind daher regelmäßig
abstrakt gebietsunverträglich.
19 In Anwendung der vorstehenden Grundsätze erweist sich damit eine
Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in einem Gewerbegebiet als nicht
ausnahmsweise zulässig nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Nichts anderes gilt hier
aufgrund der Festsetzung eines beschränkten Gewerbegebiets nach § 8 Abs. 4
BauNVO 1968. Denn auch ein derartiges Gebiet entspricht seiner allgemeinen
Zweckbestimmung nach dem Typus eines Gewerbegebiets (BVerwG, Beschluss
vom 15.04.1987 - 4 B 71.87 - NVwZ 1987, 970; VGH Baden-Württemberg, Urteil
vom 11.03.1997 - 10 S 2815/96 - NVwZ 1999, 439 (440)). Aus dem Vorstehenden
ergibt sich auch, dass die Rechtsauffassung des Beigeladenen nicht zutrifft, dass
das Verwaltungsgericht es dem Hauptsacheverfahren überlassen müsse, die
Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets zu klären. Denn bezogen auf die
Zweckbestimmung des Gebiets nach § 8 BauNVO 1968 stellen sich keine nicht
höchstrichterlich abschließend geklärten Fragen. Die Eigenart des konkreten
Gewerbegebiets des Bebauungsplans „Handwerkergebiet“ ist für die typisierende
Gebietsverträglichkeit der zugelassenen Nutzung nicht relevant, sondern erst bei
der Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO.
20 bb) Die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan hat zu Gunsten
der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet eine nachbarschützende
Funktion (BVerwG, Urteile vom 16.09.1993 - 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 und
vom 02.02.2012 - 4 C 14.10 - BVerwGE 142, 1 Rn. 24; Senatsurteil vom
29.01.2008 - 8 S 2748/06 - VBlBW 2008, 377), mit der Folge, dass eine
rechtswidrige baurechtliche Zulassung einer Nutzungsart - so wie sehr
wahrscheinlich hier - die anderen Grundstückseigentümer im Baugebiet auch in
eigenen Rechten verletzt.
21 c)Gegebenenfalls wird die Widerspruchsbehörde die im bisherigen Verfahren von
keinem der Beteiligten erörterte Frage zu klären haben, ob die Nutzung als
Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber nicht (teilweise) von der möglicherweise
ursprünglich erteilten Baugenehmigung für ein Wohnheim mit umfasst und
abgedeckt wird, sofern diese Baugenehmigung noch wirksam sein sollte. Dann
käme es gegebenenfalls jedenfalls für einen Teil der Nutzung auf die
Rechtmäßigkeit der hier gegenständlichen Baugenehmigung nicht an. Überdies ist
zu berücksichtigen, dass für den Fall, dass bereits ursprünglich eine wohnähnliche
Nutzung genehmigt worden sein sollte, sich dies möglicherweise auch auf die
Schutzbedürftigkeit der Antragsteller zu 1 und 2 auswirken kann.
22 d) Angesichts der nach dem Vorstehenden sehr wahrscheinlich rechtswidrigen
und die Antragsteller in eigenen Rechten verletzenden Baugenehmigung kommen
den privaten Interessen des Beigeladenen und den öffentlichen Interessen am
weiteren Vollzug der Baugenehmigung nur geringe Gewichte zu. Die Interessen
der Antragsteller an der Abwehr einer rechtswidrigen Nutzung des Grundstücks
überwiegen deutlich. Soweit der Beigeladene ein überwiegendes öffentliches
Interesse aus Art. 16a GG und der staatlichen Schutz- und Unterbringungspflicht
für Asylbewerber einerseits und aus dem akuten Mangel an
Unterbringungsmöglichkeiten andererseits herleiten will, vermag dies hier zu keiner
anderen Würdigung zu führen. Der Vortrag bleibt pauschal und unsubstantiiert.
Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit der Rechtswidrigkeit der angegriffenen
Baugenehmigung müsste dem für die Unterbringung zuständigen Land Baden-
Württemberg eine anderweitige Unterbringung der in der genehmigten Unterkunft
wohnenden Flüchtlinge nicht möglich oder zumutbar sein, um dem
Vollzugsinteresse dennoch den Vorrang einräumen zu können. Dafür ist nichts
vorgetragen oder sonst ersichtlich. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass für
den Fall eines tatsächlichen und erheblichen Mangels an
Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbewerber gegebenenfalls an eine Befreiung
von den Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB
gedacht werden könnte. Eine solche ist bislang aber nicht erteilt.
23 2. Die Beschwerden der Antragsteller zu 3 bis 5 haben hingegen aus den
dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6
VwGO beschränkt ist, keinen Erfolg.
24 a) Das Verwaltungsgericht hat sich zur Begründung seiner Auffassung zutreffend
darauf gestützt, dass die Festsetzung von Baugebieten durch einen
Bebauungsplan nur zu Gunsten der Grundstückseigentümer im jeweiligen
Baugebiet eine nachbarschützende Funktion zukommt (BVerwG, Urteile vom
16.09.1993 - 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 (155) und vom 02.02.2012 - 4 C 14.10
- BVerwGE 142, 1 Rn. 24; Senatsurteil vom 29.01.2008 - 8 S 2748/06 - VBlBW
2008, 377). Hiergegen wenden sich die Antragsteller zu 3 bis 5 mit dem Vortrag,
dass es zwar stimme, dass ihnen ein Gebietserhaltungsanspruch nicht zukomme,
mit der planungsrechtlichen Festsetzung „Industriegebiet“ die auf dem
benachbarten Baugrundstück geplante wohnähnliche Nutzung unter dem Aspekt
des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO aber nicht vereinbar sei. Nutzungen nach § 9
BauNVO seien außerhalb der in § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO geregelten Ausnahmen
prinzipiell mit wohnähnlichen Nutzungen unvereinbar. Die Zulassung der
wohnähnlichen Nutzung gefährde die bisherige Nutzung der Grundstücke der
Antragsteller zu 4 und 5. Mit diesem Vortrag sind mögliche Erfolgsaussichten der
Widersprüche dieser Antragsteller nicht dargetan. Denn allein der Umstand, dass
die in einem festgesetzten Industriegebiet liegenden Grundstücke der Antragsteller
zu 4 und 5 unmittelbar an das Grundstück des Beigeladenen angrenzen, sagt
noch nichts über die behauptete Rücksichtslosigkeit der Nutzungsänderung aus.
Die beiden Antragsteller behaupten zwar, die bisherige Grundstücksnutzung sei
durch „die Zulassung der wohnähnlichen Nutzung gefährdet“. Dieser Vortrag ist
jedoch unsubstantiiert. Weder im bisherigen behördlichen Verfahren bis zur
Erteilung der Baugenehmigung noch im gerichtlichen Verfahren nach § 80a Abs. 3
und § 80 Abs. 5 VwGO haben die Antragsteller nämlich zu den auf ihren
Grundstücken genehmigten Nutzungen konkret vorgetragen. Allein der
Beigeladene hat sich im Beschwerdeverfahren dazu verhalten, was mit Blick auf §
146 Abs. 4 Satz 6 VwGO hier aber nicht zugunsten der Antragsteller relevant sein
kann. Damit verfehlt die Beschwerde die einzelfallbezogene Sichtweise, die das in
§ 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO konkretisierte Rücksichtnahmegebot verlangt (vgl.
BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 - 4 C 6.98 - BVerwGE 109, 314).
25 Soweit die Beschwerde zutreffend darauf hinweist, das Verwaltungsgericht gehe
fälschlicherweise davon aus, dass das Grundstück der Antragstellerin zu 3 in
einem festgesetzten Industriegebiet liege, führt dies ebenfalls zu keiner ihr
günstigeren Entscheidung. Mit der Beschwerde wird nicht dargetan, was aus dem
Umstand, dass das Grundstück in einem festgesetzten Gewerbegebiet - das nicht
dasjenige ist, in dem sich das Grundstück des Beigeladenen befindet - folgen soll.
Ein Gebietserhaltungsanspruch kommt der Antragstellerin zu 3 jedenfalls ebenso
wie den Antragstellern zu 4 und 5 nicht zu.
26 b) Im Übrigen weist der Senat jedoch für das Widerspruchsverfahren hinsichtlich
der Antragsteller zu 4 und 5 auf folgende zwei Gesichtspunkte hin. Ausweislich der
dem Senat vorliegenden Behördenakten hat der Antragsteller zu 4 als Eigentümer
des Grundstücks Flst. Nr. ... (... Straße ...) zwar Widerspruch eingelegt. Jedoch
finden sich von ihm keine innerhalb von vier Wochen nach Zustellung der
Angrenzerbenachrichtigung im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 1 LBO erhobenen
Einwendungen, so dass er aufgrund von § 55 Abs.2 Satz 2 LBO mit allen
Einwendungen ausgeschlossen sein könnte. Insbesondere wird weder der
Antragsteller zu 4 noch das Grundstück „... Straße ...“ im Einwendungsschreiben
seines jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 31.07.2012 erwähnt. Auch die
Antragstellerin zu 5 hat innerhalb der Vierwochenfrist keine in den Bauakten
dokumentierten Einwendungen erhoben. Jedoch finden sich im
Einwendungsschreiben ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 31.07.2012
Einwendungen einer „... GmbH“ bezogen auf das Grundstück ... Straße ... Hier
könnte es sich um eine rechtlich unbeachtliche Falschbezeichnung der
Antragstellerin zu 5 handeln, was gegebenenfalls aufzuklären wäre.
27 3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 und 3, 155 Abs. 1 Satz 1,
159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO, § 162 Abs. 3 VwGO.
28 Da der Beigeladene mit seinem Antrag auf Zurückweisung der Beschwerde ein
Kostenrisiko eingegangen ist (§ 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, den
Antragstellern zu 3 bis 5 anteilsmäßig die außergerichtlichen Kosten des insoweit
obsiegenden Beigeladenen aufzuerlegen. Darüber hinaus tragen er und die
Antragsgegnerin anteilig die Kosten des Verfahrens, soweit sie - nämlich bezogen
auf die Antragsteller zu 1 und 2 - unterlegen sind.
29 4. Die Streitwertfestsetzung und -abänderung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53
Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 39 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 GKG und lehnt sich
entsprechend der ständigen Senatsrechtsprechung (vgl. etwa Beschluss vom
29.01.2008 - 8 S 2748/06 - juris Rn. 44) an die Nrn. II.1.5 und II.9.7.1 des
Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327) an.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist bei der Drittanfechtung einer
Baugenehmigung kein Raum für die Anwendung des § 52 Abs. 2 GKG. Da mit
dem Vollzug der Nutzungsänderung keine vollendeten, unumkehrbaren Tatsachen
geschaffen werden können, ist der Streitwert von 7.500 EUR - je betroffenem
Grundstück - zu halbieren, so dass insgesamt ein Streitwert von 15.000,- EUR
(4*3.750,- EUR) festzusetzen ist.
30 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).