Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 10.03.2017

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VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 10.3.2017, 1 S 2595/16
Leitsätze
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren ist nicht im Sinne des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO
notwendig, wenn der Widerspruch nicht statthaft war und vom hinzugezogenen Bevollmächtigten entgegen
der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Verwaltungsakts eingelegt wurde.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 30. November 2016 -
11 K 2317/14 - wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
1 Die Beteiligten streiten um die Erstattung von außergerichtlichen Kosten.
2 Mit Schreiben vom 27.06.2014 teilte das Regierungspräsidium Karlsruhe der Klägerin, einer Großen
Kreisstadt, sinngemäß mit, die Bezuschussung einer näher bezeichneten Straßenbaumaßnahme durch
Finanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) sei nicht möglich. Die Höhe der
Zuwendung sei deshalb bereits in einem früheren Bescheid auf 0,-- EUR festgesetzt worden. In Kürze werde
sie, die Klägerin, zur Rückzahlung von bereits gezahlten Fördermitteln aufgefordert. Auf dieses Schreiben
Bezug nehmend forderte das Regierungspräsidium die Klägerin mit Bescheid vom 15.07.2014 zur
Rückzahlung von 25.900,-- EUR auf. Der Bescheid enthielt die Rechtsbehelfsbelehrung, gegen ihn könne
innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Klage zum Verwaltungsgericht Karlsruhe erhoben werden.
3 Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 24.07.2014 legte die Klägerin gegen den Bescheid vom
15.07.2014 und die Mitteilung vom 27.06.2014 Widerspruch ein. Das Regierungspräsidium erwiderte, bei
Verwaltungsakten des Regierungspräsidiums finde nach § 15 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO kein Vorverfahren
statt, und gab Gelegenheit, den Widerspruch zurückzunehmen.
4 Am 13.08.2014 erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag, den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide
vom 27.06.2014 und 15.07.2014 zu verpflichten, die Ausbaumaßnahme nach näheren Maßgaben zu
fördern. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 07.10.2016 erklärte der Beklagte, die angefochtenen
Bescheide würden aufgehoben. Die Beteiligten erklärten den Rechtsstreit daraufhin übereinstimmend in der
Hauptsache für erledigt. Das Verwaltungsgericht stellte das Verfahren mit Beschluss vom 07.10.2016 ein
und legte dem Beklagten die Kosten des Verfahrens auf.
5 Am 09.11.2016 beantragte die Klägerin sinngemäß, die Hinzuziehung ihres Bevollmächtigten für das
Vorverfahren für notwendig zu erklären. Sie legte eine Kostenrechnung vor, die Gebühren und Auslagen
ihres Bevollmächtigten im „Widerspruchsverfahren“ aufführte und mit 2.480,44 EUR bezifferte.
6 Diesen Antrag lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30.11.2016 ab. Zur Begründung führte es
aus, die Bestellung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren sei offenkundig nicht erforderlich gewesen,
da das Vorverfahren nicht statthaft sei, wenn - wie hier - das Regierungspräsidium den angefochtenen
Verwaltungsakt erlassen habe.
7 Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Klägerin, deren Bevollmächtigter geltend macht,
eine Verkürzung der Kostenerstattung der Verfahrenskosten könne unter Rechtsstaatsgesichtspunkten nicht
deshalb eintreten, weil statt der unteren die Mittelbehörde handele. Die mündliche Verhandlung habe
gezeigt, dass die anwaltliche Begleitung dringend erforderlich gewesen sei. Aus dem Umstand, dass kein
Vorverfahren im Sinne der §§ 68 ff. VwGO durchgeführt worden sei, folge nichts anderes. Die
Erstattungspflicht der Kosten eines Verfahrensbevollmächtigten im Vorverfahren betreffe nämlich das
Verwaltungsverfahren als einheitliches Verfahren. Ansonsten würde der Rechtssuchende immer schutzlos in
Bezug auf die Erstattung gestellt, wenn der Gesetzgeber kein Vorverfahren vorsehe. Nachdem die Länder
die Kompetenz erhalten hätten, das Vorverfahren abzuschaffen, würde die Sichtweise des
Verwaltungsgerichts dazu führen, dass die Länder mit einer solchen Abschaffung des Vorverfahrens auch die
Erstattungsfähigkeit der Anwaltskosten im Verwaltungsverfahren gänzlich beseitigen würden. Dass dies
nicht verfassungsgemäß sei, liege auf der Hand.
8 Der Beklagte ist der Beschwerde entgegengetreten und hat unter anderem ausgeführt, das
Regierungspräsidium habe die Klageerhebung als konkludente Rücknahme des Widerspruchs gewertet. Es
sei weder zu einer Widerspruchsentscheidung noch zu einer außergerichtlichen Erörterung zwischen dem
Bevollmächtigten der Klägerin und dem Regierungspräsidium gekommen.
9 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachstands wird auf die Akte des Verwaltungsgerichts und die
gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
10 Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
11 Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO sind Gebühren und Auslagen eines bereits im Vorverfahren
eingeschalteten Rechtsanwalts dann erstattungsfähig, wenn das Gericht die Zuziehung eines
Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig erklärt hat. Die Voraussetzungen für eine solche
Erklärung liegen hier nicht vor.
12 Das Tatbestandsmerkmal „Vorverfahren“ in § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO bezieht sich nach seinem Wortlaut
und der gesetzessystematischen Stellung auf das dem gerichtlichen Verfahren im Falle der Anfechtungs-
oder Verpflichtungsklage grundsätzlich zwingend vorgeschaltete Vorverfahren im Sinne der §§ 68 ff. VwGO
(VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 27.06.2006 - 11 S 2613/05 - VBlBW 2006, 480). Das Verwaltungsverfahren
vor der Ausgangsbehörde stellt demgegenüber kein „Vorverfahren“ im Sinne des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO
dar (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 05.06.1991 - 5 S 923/91 - NVwZ-RR 1992, 53; Kopp/Schenke, VwGO,
22. Aufl., § 162 Rn. 16 m.w.N.).
13 Ob in einem Vorverfahren die Zuziehung eines Bevollmächtigten „notwendig“ im Sinne des § 162 Abs. 2
Satz 2 VwGO war, ist unter Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls vom Standpunkt eines
verständigen Beteiligten aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Beteiligter - im Falle
einer natürlichen Person ein Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand - bei der gegebenen
Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte (vgl. BVerwG, Beschl. v.
15.09.2005 - 6 B 39.05 - Buchholz 448.0 § 17 WPflG Nr. 12; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.08.2007 - 3 S
1680/07 - VBlBW 2007, 474; Kopp/Schenke, a.a.O., § 162 Rn. 18 m.w.N.).
14 Nach diesen Grundsätzen ist kein Raum dafür, die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für
notwendig zu erklären, wenn überhaupt kein Vorverfahren im oben genannten Sinne geschwebt hat,
insbesondere weil ein solches Verfahren ausnahmsweise nicht erforderlich war (vgl. § 68 Abs. 1 Satz 2
VwGO und VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 27.06.2006, a.a.O.) und die Beteiligten dies erkannt haben. Eine
Erklärung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO kommt ferner dann nicht in Betracht, wenn ein Vorverfahren -
wie hier (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO) - nicht erforderlich war, ein Beteiligter aber dennoch
Widerspruch eingelegt hat. In einem solchen Fall schwebt zwar wegen der Einlegung des Widerspruchs ein
Vorverfahren im Sinne der §§ 68 ff. VwGO (vgl. § 69 VwGO). Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für
ein Vorverfahren ist aber nicht „notwendig“ im Sinne des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, wenn der Widerspruch
- wie hier - unstatthaft ist (vgl. OVG RP, Beschl. v. 06.03.2015 - 7 E 10186/15 - NVwZ-RR 2015, 557;
Kopp/Schenke, a.a.O., § 162 Rn. 18; Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 162 Rn. 91 f. m.w.N.). Ob dies
ausnahmsweise anders zu beurteilen ist, wenn die Einlegung des unzulässigen Widerspruchs auf eine
unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung in dem angefochtenen Ausgangsbescheid zurückzuführen ist, bedarf
hier keiner Entscheidung. Im vorliegenden Fall hat das Regierungspräsidium die Klägerin zutreffend über den
statthaften Rechtsbehelf - Klage zum Verwaltungsgericht - belehrt. Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten
der Klägerin für einen entgegen dieser zutreffenden Rechtsmittelbelehrung eingelegten, unstatthaften
Widerspruch und das dadurch eingeleitete Vorverfahren waren nicht „notwendig“ im Sinne des § 162 Abs. 2
Satz 2 VwGO.
15 Die Klägerin kann dem nicht mit Erfolg entgegenhalten, es sei „unter Rechtsstaatsgesichtspunkten“ nicht
vertretbar, dass die Erstattung von vorgerichtlichen Kosten für die Tätigkeit eines Rechtsanwalts nicht
erstattungsfähig seien, wenn kein Vorverfahren gemäß §§ 68 ff. VwGO durchzuführen sei. Der Beschwerde
liegt offenbar die Annahme zugrunde, aus dem Rechtsstaatsprinzip folge, dass der Beteiligte eines
Verwaltungsverfahrens stets Kosten für die außergerichtliche Tätigkeit eines Rechtsanwalts erstattet
erhalten müsse, wenn er mit seinem Begehren im Ergebnis obsiegt. Das trifft jedoch nicht zu. Es besteht
auch von Verfassungs wegen kein allgemeiner Rechtsgrundsatz, wonach eine Kostenerstattung zugunsten
des Obsiegenden zu erfolgen hätte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.12.1986 - 1 BvR 872/82 - NJW 1987, 2569;
VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 27.06.2006, a.a.O.). Aus dem Recht, sich schon im Verwaltungsverfahren vor
der Ausgangsbehörde anwaltlicher Hilfe zu bedienen, folgt auch nicht die Pflicht des Staates, die Kosten des
Rechtsanwaltes zu tragen, wenn der Bürger mit seinem Begehren durchdringt (vgl. BVerwG, Beschluss vom
01.09.1989 - 4 B 17.89 - NVwZ 1990, 59; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 27.06.2006, a.a.O.). Die Erstattung
von Rechtsanwaltskosten bereits für das Verwaltungsverfahren kann ein Beteiligter daher nur dann
verlangen, wenn dies ausdrücklich einfachgesetzlich vorgesehen ist (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 162 Rn. 16;
zum Fehlen einer Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge Anwendung des § 162 Abs. 2 Satz 2
VwGO auch VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 27.06.2006, a.a.O.). Daran fehlt es hier.
16 Fehl geht daher auch der Einwand der Klägerin, die Bundesländer könnten es nicht in der Hand haben, durch
eine Abschaffung des Vorverfahrens „die Erstattungsfähigkeit der Anwaltskosten im Verwaltungsverfahren“
zu beseitigen. Dieser Einwand ist zirkelschlüssig, denn er setzt voraus, was er zu beweisen sucht, dass
nämlich „Anwaltskosten im Verwaltungsverfahren“ im Fall des Obsiegens von Verfassungs wegen stets in
irgendeiner Form erstattungsfähig sind. Das ist, wie gezeigt, gerade nicht der Fall. Die Kosten für die
Hinzuziehung eines Rechtsanwalts bereits im Verwaltungsverfahren vor der Ausgangsbehörde sind nach
geltendem, verfassungsgemäßem Recht grundsätzlich nicht erstattungsfähig. Soweit ein Bundesland das
Widerspruchsverfahren in einzelnen Bereichen oder auch in vollem Umfang abschafft, führt dies lediglich
dazu, dass mangels Notwendigkeit des Vorverfahren grundsätzlich auch keine Kosten mehr für ein solches
Vorverfahren erstattungsfähig sind. Für die davon zu unterscheidende Frage, ob Kosten eines Rechtsanwalts
im Verwaltungsverfahren vor der Ausgangsbehörde erstattungsfähig sind, hat die Abschaffung des
Vorverfahrens hingegen keine Auswirkung.
17 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
18 Einer Festsetzung des Streitwerts bedarf es nicht, weil bei Erfolglosigkeit der Beschwerde eine vom
Streitwert unabhängige Gerichtsgebühr von 60,00 EUR anzusetzen ist (vgl. Nr. 5502 des
Kostenverzeichnisses, Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG).
19 Der Beschluss ist unanfechtbar.