Urteil des OLG Schleswig-Holstein vom 02.04.2017

OLG Schleswig-Holstein: vollzugsplanung, strafvollzug, form, weisung, beurteilungsspielraum, datenschutz, aussetzung, anfechtung, link, quelle

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Gericht:
Schleswig-
Holsteinisches
Oberlandesgericht
2. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 VollzWs 123/08,
2 Vollz Ws 123/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 7 StVollzG, § 111 StVollzG, §
113 StVollzG, § 114 Abs 2
StVollzG, § 116 StVollzG
Strafvollzug: Anforderungen an die Umsetzung der
Verpflichtung zur Neubescheidung eines Antrags auf
Vollzugslockerungen und Statthaftigkeit eines neuen
Vornahmeantrages
Leitsatz
1. Die Verpflichtung zur Neubescheidung eines zuvor abgelehnten Antrags auf
Vollzugslockerungen kann die Justizvollzugsanstalt nicht schon durch (ablehnende)
Fortschreibung des Vollzugsplanes erfüllen.
2. Kommt die Justizvollzugsanstalt einer gerichtlich angeordneten
Bescheidungsverpflichtung nicht nach, ist hiergegen - erforderlichenfalls erneut - ein
Vornahmeantrag (§ 113 StVollzG) statthaft.
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts
Kiel - 3. kleine Strafvollstreckungskammer - vom 22. Februar 2008 einschließlich
der zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird an die Strafvollstreckungskammer zur erneuten Entscheidung -
auch zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens -
zurückverweisen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 300 €
festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller verbüßt u. a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs seiner
Tochter in Tateinheit mit Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Das
Strafende wird zum 17. Juni 2008 eintreten. In der Hauptverhandlung hatte der
Antragsteller bestritten, die ihm vorgeworfenen Taten begangen zu haben und hat
sich auch im Strafvollzug auf diesen Standpunkt gestellt. Therapieversuche waren
deshalb nicht erfolgreich.
Einen am 22. April 2007 gestellten Antrag auf Gewährung eines 90-minütigen
unbegleiteten Ausgangs innerhalb von N. wies die Antragsgegnerin mit Bescheid
vom 10. Mai 2007 zurück. Das nach Durchführung des
Vollzugsbeschwerdeverfahrens durchgeführte gerichtliche Verfahren endete mit
durch Beschluss des Senats vom 4. Oktober 2007 - 2 Vollz Ws 392/07 -
ausgesprochener Aufhebung des erwähnten Bescheides und der Verpflichtung der
Antragsgegnerin, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Senats erneut zu bescheiden.
Dieser Verpflichtung kam die Antragsgegnerin bisher nicht im Sinne einer
ausdrücklichen und förmlichen Bescheidung nach. Allerdings erstellte die
Antragsgegnerin am 30. Oktober 2007 für den Antragsteller einen neuen
Vollzugsplan, in dem es u. a. hieß:
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„Nach Auswertung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein
vom 04.10.2007:
Weiterhin Gewährung von Ausführungen zweckbezogen zur
Entlassungsvorbereitung und aus sozialen Gründen.
Bei beanstandungsfreiem Verlauf einer weiteren Ausführung und nach vorheriger
Einholung der Zustimmung der Staatsanwaltschaft Itzehoe gemäß VV Nr. 7 Abs. 4
zu § 11 StVollzG Prüfung der Gewährung von Ausgängen mit der Weisung „in
Begleitung“…“.
Nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer wurde eine
Wiedervorlagefrist von 3 Monaten notiert. Ausweislich eines nach Abschluss des
erstinstanzlichen Verfahrens zur Akte gelangten Schriftsatzes des
Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers vom 4. März 2008 habe die
Antragsgegnerin - dies ergibt sich jedenfalls aus einer beigefügten Anlage - am 25.
Februar 2008 den Vollzugsplan erneut fortgeschrieben mit dem Text
„Weiterhin Gewährung von Ausgängen mit der Weisung „in Begleitung“.
Die Gewährung weitergehender Vollzugslockerungen kommt vorerst nicht in
Betracht.
Wvl zur Überprüfung nach 2 Monaten (Entlassung)“.
Die Strafvollstreckungskammer hat mit Beschluss vom 22. Februar 2008 das als
solches ausgelegte Begehren des Antragstellers auf Neubescheidung unter
Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats und auf Gewährung eines
unbegleiteten Ausgangs von mindestens 90 Minuten innerhalb des Stadtgebietes
von Neumünster zurückgewiesen. Ersichtlich gehe es dem Antragsteller um einen
Vornahmeantrag wegen Untätigkeit der Antragsgegnerin i. S. d. § 113 StVollzG,
also um die Rechtmäßigkeit des „Liegenlassens“ des ursprünglich fehlerhaft
abgelehnten Antrags vom 22. April 2007. Von einem „Liegenlassen“ könne jedoch
nicht die Rede sein, da die Antragsgegnerin den Antragsteller zwar nicht förmlich
beschieden, aber doch den Vollzugsplan fortgeschrieben habe. Hiergegen hätte
der Antragsteller sich nach Durchführung des vorgeschriebenen
Vorschaltbeschwerdeverfahrens im Wege einer Anfechtung gesondert wenden
können, was nicht erfolgt sei.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit fristgerecht durch
seinen Verfahrensbevollmächtigten eingelegter Rechtsbeschwerde, mit welcher er
die Missachtung des Senatsbeschlusses vom 4. Oktober 2007 - 2 Vollz Ws 392/07
- durch die Antragsgegnerin rügt.
Das beteiligte Ministerium für Justiz, Arbeit und Europa des Landes Schleswig-
Holstein hat in seiner Stellungnahme vom 2. April 2008 den Umstand
zwischenzeitlich beanstandungsfrei durchgeführter Ausgänge in Begleitung
dargestellt und - insoweit dem erwähnten Schriftsatz des Antragstellers vom 4.
März 2008 entsprechend - den per 25. Februar aktualisierten Stand der
Vollzugsplanung.
II.
Die in rechter Frist und rechter Form angebrachte Rechtsbeschwerde ist im Sinne
des § 116 StVollzG statthaft und hat auch in der Sache insoweit - vorläufigen -
Erfolg, wie die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen war.
1. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde im Sinne des § 116 Abs. 1 StVollzG
folgt bereits daraus, dass die Fallgestaltung die - vom Senat bisher nicht
beschiedene - verallgemeinerbare Rechtsfrage aufwirft, ob die Antragsgegnerin
der mit Senatsbeschluss vom 4. Oktober 2007 - 2 Vollz Ws 392/07 -
ausgesprochenen Verpflichtung zur Neubescheidung des Antragstellers unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Senats schon durch die bisherige
Fortschreibung des Vollzugsplanes nachgekommen ist.
2. Aber auch in der Sache hat die Rechtsbeschwerde jedenfalls dem Grunde nach -
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2. Aber auch in der Sache hat die Rechtsbeschwerde jedenfalls dem Grunde nach -
vorläufigen - Erfolg, weil diese Rechtsfrage in dem angefochtenen Beschluss der
Strafvollstreckungskammer nach Auffassung des Senats unzutreffend zu Lasten
des Antragstellers beantwortet worden ist.
a) Beizupflichten ist der Strafvollstreckungskammer allerdings zunächst darin,
dass sie angesichts der bisher erfolgten förmlichen Nichtbescheidung des
Antragstellers in der von diesem erhobenen Untätigkeitsbeschwerde i. S. d. § 113
StVollzG einen geeigneten Weg zur Verfolgung des Bescheidungsinteresses des
Antragstellers gesehen hat. Dieser - u. a. auch bereits vom OLG Celle in NStZ
1990, 207 f. grundsätzlich für zulässig erachtete - Weg trägt dem Umstand
Rechnung, dass das Strafvollzugsgesetz zur Vollstreckung gerichtlicher
Vornahmeverpflichtungen kein gesondertes Vollstreckungsinstrumentarium bereit
hält. Denn offensichtlich ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass die
Strafvollzugsbehörden Gerichtsentscheidungen respektieren werden oder diese
Respektierung jedenfalls durch die im Rechtsbeschwerdeverfahren gemäß § 111
Abs. 2 StVollzG zu beteiligende Aufsichtsbehörde im Wege der Dienstaufsicht
durchgesetzt werden kann (ebenso im Ergebnis Kamann/Volckart in Feest (Hrsg),
Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 5. Aufl., Rn. 81 zu § 115 StVollzG). Der
Senat hält diese Erwartung angesichts der im Strafvollzug strikten
aufsichtsrechtlichen Gegebenheiten als keinesfalls für unberechtigt und daher in
Übereinstimmung mit der schon bisher ergangenen Rechtsprechung (OLG
Frankfurt, NStZ 1983, 335; OLG Karlsruhe ZfStrVO 2004, 315) auch nicht etwa §
172 VwGO (Anordnung eines Zwangsgeldes) für entsprechend anwendbar.
Anderes folgt auch nicht aus der gemäß Artikel 19 Abs. 4 GG zu gewährleistenden
Effektivität gerichtlichen Rechtsschutzes. Denn kommt eine Behörde ihrer
Verpflichtung zur Neubescheidung ohne Angaben nachvollziehbarer Gründe nicht
nach, ist dieser Umstand im durch § 113 StVollzG erneut eröffneten Verfahren der
freien Würdigung des Gerichts zugänglich. Stellt sich danach die Verweigerung der
begehrten Maßnahme immer noch als Überschreitung von Beurteilungsspielraum
oder Ermessensgrenzen dar und sind auch keine anderweitigen Gründe ersichtlich,
die der begehrten Maßnahme entgegen stehen, kann das Gericht nach Lage des
Einzelfalles durchaus von einer Reduzierung des Einschätzungs- sowie
Entscheidungsermessens ausgehen und selbst die Verpflichtung der Behörde zur
Gewährung der begehrten Maßnahme aussprechen. Falls das Begehren eines
Antragstellers sich durch Zeitablauf zu erledigen droht, kann insoweit gemäß § 114
Abs. 2 Satz 2 StVollzG diese Entscheidung auch im Wege einer einstweiligen
Anordnung getroffen werden.
b) Nicht zu teilen vermag der Senat indessen die Auffassung der
Strafvollstreckungskammer, dass ein Fall unzulässigen „Liegenlassens“ schon
wegen der unstreitig erfolgten Fortschreibung des Vollzugsplanes nicht vorliege.
Der Senat hatte nämlich in seinem schon erwähnten Beschluss vom 4. Oktober
2007 - 2 VollzWs 392/07 - die Antragsgegnerin nicht zu irgendeiner in näherem
oder weiterem Zusammenhang zur begehrten Entscheidung stehenden Aktivität
verpflichtet, sondern nach Aufhebung der als ermessensfehlerhaft erachteten
Bescheide der Antragsgegnerin vom 10. Mai 2007 sowie des entsprechenden
Beschwerdebescheides vom 5. Juli 2007 zur exakt sich mit dem zugrunde
liegenden Begehren des Antragstellers befassenden Neubescheidung. Dieser
Verpflichtung ist die Antragsgegnerin nicht schon durch die bloße Fortschreibung
des Vollzugsplanes nachgekommen.
Zwar soll nicht verkannt werden, dass der Gefangene grundsätzlich ein Recht auf
Erstellung und ggf. Fortschreibung eines Vollzugsplanes in schriftlicher Form unter
Beteiligung der Vollzugsplankonferenz hat (§ 7 Abs. 1 StVollzG) und dieser
Vollzugsplan dem Gefangenen und den Vollzugsbediensteten als
Orientierungsrahmen für den Ablauf des Vollzuges sowie für die Ausgestaltung der
einzelnen Behandlungsmaßnahmen dient. Aufgrund dieser Vorwirkung des
Vollzugsplanes sind dessen Aufstellung bzw. Fortschreibung als solche auch
grundsätzlich gesondert anfechtbar (zutreffend OLG Karlsruhe, Beschluss vom 2.
Oktober 2007 - 1 Ws 64/07 L - StraFO 2007, 519 ff.). Allerdings ändert dies nichts
daran, dass Vollzugsplan und Einzelmaßnahme des Vollzuges zueinander im
Verhältnis von Grundsatz und Einzelakt stehen. Trotz der eine Maßnahmenart
grundsätzlich befürwortenden oder ablehnenden Planung vermag im Einzelfall eine
begehrte Maßnahme gleichwohl verweigert oder gewährt zu werden. Die Existenz
des Vollzugsplanes beeinflusst insoweit die Begründungslast dahin, dass
Abweichungen von der generellen Planung im Einzelfall gesondert zu begründen
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Abweichungen von der generellen Planung im Einzelfall gesondert zu begründen
sind (s. nur OLG Frankfurt ZfStrVO 1985, 170 f.).
Selbst wenn die Antragsgegnerin in rechtlich nicht zu beanstandender Weise
bisher auf die Aufnahme der Planung von Lockerungen in Gestalt unbegleiteter
Ausgänge in die generelle Vollzugsplanung verzichtet haben sollte, enthebt sie
dies folglich nicht der Pflicht, einen konkreten Lockerungswunsch auch konkret zu
bescheiden. Dies muss um so mehr gelten, wenn sie - wie hier - diesen Weg auch
eingeleitet hatte und die zunächst ergangene Bescheidung lediglich als
ermessensfehlerhaft aufgehoben worden war. Liegt es derart und folgte - wie
vorliegend - die Abänderung der Vollzugsplanung zeitlich nach, wird zudem die
Antragsgegnerin ihre Verpflichtung zur Offenlegung der konkreten Gründe ihrer
Ausübung von Beurteilungsspielraum und Entscheidungsermessen nicht dadurch
verkürzen können, dass sie sich pauschal auf eine zwischenzeitlich erfolgte
Änderung der Vollzugsplanung zurückzieht. Denn bei pflichtgemäßen Handeln
hätte die Antragsgegnerin den Antragsteller nämlich schon zuvor oder allenfalls
zeitgleich mit der Fortschreibung der Vollzugsplanung bescheiden müssen.
c) Als Rechtsbeschwerdegericht vermag der Senat nicht festzustellen, welches
Stadium die Vollzugsplanung inzwischen erreicht hat, wie die begleiteten
Ausführungen verlaufen sind ob und auf welche Weise und mit welchen Gründen
zwischenzeitlich vielleicht die Antragsgegnerin den Antragsteller doch beschieden
haben könnte. Auch vermag allein das erstinstanzliche Gericht eine etwa nach
Aussetzung im Sinne des § 113 Abs. 2 Satz 1 StVollzG erfolgte Bescheidung als
Erweiterung des bisherigen Sachverhalts festzustellen und im ersten Zugriff
gerichtlich zu überprüfen. Von daher ist die Sache nicht entscheidungsreif (§ 119
Abs. 4 Satz 2 und 3 StVollzG) und zur erneuten Befassung der
Strafvollstreckungskammer an diese zurückzuverweisen.