Urteil des OLG Saarbrücken vom 02.08.2007

OLG Saarbrücken: wohl des kindes, elterliche sorge, vorläufiger rechtsschutz, rechtliches gehör, trennung, sorgerecht, gefahr, gefährdung, ermessen, vormundschaft

OLG Saarbrücken Beschluß vom 2.8.2007, 9 WF 90/07
Elterliche Sorge: Entziehung durch einstweilige Anordnung bei Trennung des Kindes von
seiner bisherigen Bezugsperson; Ermessensentscheidung unter Beachtung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes
Leitsätze
In kindschaftsrechtlichen Eilverfahren müssen Eingriffe in das elterliche Sorgerecht in einer
Einzelfall bezogenen Abwägung in besonderem Maße dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit und dem Übermaßverbot (§ 1666a BGB) Rechnung tragen. Eine
Trennung des Kindes von dem sorgeberechtigten Elternteil darf nur dann erfolgen, wenn
das Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind in seinem körperlichen,
geistigen und seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist und dieser Gefahr nicht auf andere
Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.
Tenor
I. Auf die sofortige Beschwerde der Kindesmutter wird der Beschluss des Amtsgerichts –
Familiengericht – in Homburg vom 15. Juni 2007 in der Fassung des
Berichtigungsbeschlusses vom 23. Juli 2007 – 17 F 93/07 SO– aufgehoben und die Sache
zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die außergerichtlichen Kosten des
Beschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht - Familiengericht - in Homburg
zurückverwiesen.
II. Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erhoben.
III. Beschwerdewert: 500 EUR.
IV. Der Antrag der Kindesmutter, ihr Prozesskostenhilfe für das Beschwerde-verfahren zu
bewilligen, wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Der am ... Januar 2005 geborene, heute 2-jährige L. D. ist der außerhalb einer Ehe
geborene Sohn der allein sorgeberechtigten Kindesmutter und des Kindesvaters, welcher
die Vaterschaft in einer Jugendamtsurkunde vom 22. März 2005 anerkannt hat.
Aufgrund einer Gefährdungsmitteilung des Kreisjugendamtes vom 29. Mai 2007 hat das
Familiengericht durch den angefochtenen Beschluss in der Fassung des
Berichtigungsbeschlusses vom 23. Juli 2007 nach vorausgegangener mündlicher
Verhandlung der Kindesmutter durch einstweilige Anordnung bis zur Entscheidung über das
Sorgerecht für das Kind die elterliche Sorge entzogen und das Kreisjugendamt des
Saarpfalz-Kreises zum Vormund bestellt.
Das Kind ist auf Veranlassung des Kreisjugendamtes derzeit in einer Pflegefamilie
untergebracht.
Gegen die einstweilige Anordnung des Familiengerichts richtet sich die zum Senat
eingelegte sofortige Beschwerde der Kindesmutter, welche die Aufhebung des Beschlusses
begehrt und um Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren
nachsucht.
Der Kindesvater und die Verfahrenspflegerin des Kindes erachten den angefochtenen
Beschluss für sachgerecht.
Das Kreisjugendamt, dem mit Verfügung vom 9. Juli 2007 eine Frist zur Stellungnahme
binnen zwei Wochen gesetzt worden war, hat unter Hinweis auf den Jahresurlaub der
Sachbearbeiterin eine „Sachstandsmitteilung“ für Mitte September 2007 in Aussicht
gestellt.
II.
Die gemäß §§ 621g, 620 c Satz 1, 620 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen
zulässige sofortige Beschwerde der Kindesmutter hat einen vorläufigen Erfolg und führt zur
Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung der Sache an das
Familiengericht.
Der angefochtene Beschluss ist nicht in einem ordnungsgemäßen Verfahren zu Stande
gekommen. Insbesondere fehlt es an der gebotenen Beteiligung und Anhörung (§ 50a
FGG) des Kindesvaters. Dieser ist zwar im Rubrum des angefochtenen Beschlusses als
Verfahrensbeteiligter aufgeführt, aktenersichtlich haben sich die
Verfahrensbevollmächtigten des Kindesvaters jedoch erst in einem am 20. Juni 2007, d.h.
nach Erlass des angefochtenen Beschlusses eingegangenen Schriftsatz für diesen bestellt.
Zum Termin vom 4. Juni 2007 war der Kindesvater weder geladen noch erschienen.
Dass das Familiengericht im Wege der einstweiligen Anordnung auf der Grundlage des von
ihm festgestellten Verhaltens der Kindesmutter dieser das Sorgerecht in vollem Umfang
entzogen und Vormundschaft angeordnet hat, lässt nicht erkennen, ob das insoweit
gegebene Ermessen (vgl. hierzu: Schneider in Rahm/Künkel, Handbuch des
Familiengerichtsverfahrens, III B, Rz. 397 m.w.N.) ausgeübt worden ist.
Auch – und gerade – in Eilverfahren ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das
Gebot des mildesten Eingriffs zu beachten (BVerfG, FamRZ 2002, 1021, 1023; ferner:
Gießler, vorläufiger Rechtsschutz in Ehe-, Familien- und Kindschaftssachen, 2. Aufl., Rz.
110, 998 m.w.N.). Diese Prinzipien beanspruchen namentlich dann Geltung, wenn die
erwogene Maßnahme – wie hier - eine Trennung des Kindes von seiner bisherigen
Bezugsperson zur Folge hat (vgl. hierzu: Schneider in Rahm/Künkel, Handbuch des
Familiengerichtsverfahrens, III B, Rz. 397 m.w.N.).
Auch wenn das Familiengericht – allerdings ohne hinreichende Begründung – zu dem
Ergebnis gelangt ist, eine Eingriffe in das Sorgerecht rechtfertigende Gefährdung des
Kindeswohls läge vor, hätte es die in Betracht kommenden Maßnahmen unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, des geringsten Eingriffs oder
des Übermaßverbotes (§ 1666a BGB) fallbezogen gegeneinander abwägen müssen.
So wäre vorliegend etwa als weniger einschneidende Maßnahme (zunächst) in Betracht
gekommen, lediglich das Aufenthaltsbestimmungsrecht und/oder andere Teile des
Sorgerechts zu entziehen und statt Vormundschaft eine Ergänzungspflegschaft
anzuordnen. Dass das Familiengericht sein insoweit gegebenes Ermessen (Schneider,
a.a.O.) ausgeübt hat, lässt sich der Begründung des angefochtenen Beschlusses nicht
entnehmen.
Wegen der aufgezeigten Verfahrensfehler kann der angefochtene Beschluss keinen
Bestand haben. Da dem Senat eine Nachholung der gebotenen Maßnahmen in der
Beschwerdeinstanz unter den gegebenen Umständen nicht sachdienlich erscheint, ist es
angezeigt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten
Behandlung und Entscheidung an das Familiengericht zurückzuverweisen.
Bei der Neubefassung wird das Familiengericht zu beachten haben, dass Eingriffe in das
durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG geschützte Elternrecht in Ausübung des
staatlichen Wächteramtes (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) verfassungsrechtlich nur dann
gerechtfertigt sind, wenn das Wohl des Kindes durch die Sorgerechtsausübung der
Kindesmutter tatsächlich gefährdet wird, und eine Trennung des Jungen von seiner
erziehungsberechtigten Mutter gegen deren Willen nur bei strikter Wahrung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl. hierzu:
BVerfG, FamRZ 2002, 1021, 1022 f, m.w.N.).
Gerade in kindschaftsrechtlichen Eilverfahren sind vorläufige Maßnahmen in der Regel mit
erheblichen Eingriffen in das elterliche Grundrecht verbunden. Die Maßnahmen können
Tatsachen schaffen, die - insbesondere aufgrund der Dauer des Hauptverfahrens - später
nicht oder nur schwer rückgängig zu machen sind. Soweit der Erlass seiner Entscheidung
erforderlich ist, müssen daher jedenfalls die im Eilverfahren zur Verfügung stehenden
Aufklärungs- und Prüfungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden (BVerfG, FamRZ 2002,
1021, 1023).
Eingriffe in das Recht der Personensorge wegen Fehlverhaltens des Sorgeberechtigten
gemäß § 1666 BGB kommen nur dann in Betracht, wenn das Wohl des Kindes durch
missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes oder
durch unverschuldetes Versagen des Sorgeberechtigten - etwa wegen Überforderung oder
Ungeeignetheit der Eltern bei der Kindererziehung (2. Zivilsenat des Saarländischen
Oberlandesgerichts, Beschluss vom 15. November 2002 - 2 UF 12/02 -;
MünchKommBGB/Olzen, 4. Aufl., § 1666, Rz. 106, m.w.N.) - gefährdet wird, sofern der
Sorgeberechtigte nicht in der Lage ist, die Gefahr selbst abzuwenden. Die Trennung des
Kindes von dem sorgeberechtigten Elternteil darf darüber hinaus gemäß § 1666 a Abs. 1
BGB nur erfolgen, wenn das Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind in
seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist und dieser
Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann
(BayObLG, FamRZ 1998, 1044, 1045, m.w.N.).
Ob das Familiengericht diese – strengen – Voraussetzungen hier zu Recht bejaht hat,
erscheint jedenfalls fraglich.
Es mag durchaus sein, dass die Kindesmutter in der Vergangenheit gegenüber dem
Jugendamt beziehungsweise verantwortlichen Personen der Kindertagesstätte in einer nicht
zu billigenden Art und Weise aufgetreten ist. Eine unmittelbare Gefährdung des
Kindeswohls bei einem Verbleib im mütterlichen Haushalt lässt sich jedoch hieraus und den
bislang getroffenen Feststellungen nicht herleiten. Insbesondere kann nach dem derzeitigen
Erkenntnisstand ohne weitere Feststellungen nicht angenommen werden, bei der
Kindesmutter sei eine ordnungsgemäße Versorgung und Betreuung des Kindes nicht
gewährleistet.
Ebenso wenig vermag es eine Gefährdung des Kindeswohls zu begründen, wenn sich die
Kindesmutter in der Vergangenheit - erfolglos - darum bemüht hat, den Kindesvater zu
einem Umgang mit dem Kind zu bewegen oder wenn sie - in einer von dem Familiengericht
zu Recht missbilligten Art (wie etwa anlässlich einer mündlichen Verhandlung in einem
Unterhaltsverfahren erfolgt) – versucht hat, eine Kontaktaufnahme zwischen Vater und
Kind herzustellen.
In Anbetracht des in Rede stehenden Grundrechtseingriffs war mit der Entscheidung nicht
bis zum Eingang der im Hinblick auf den Jahresurlaub der Sachbearbeiterin des
Kreisjugendamtes erst für Mitte September 2007 angekündigten „Sachstandsmitteilung“
zuzuwarten. Rechtliches Gehör war insoweit bis zum Ablauf des 1. August 2007 gewährt,
ohne dass hiervon Gebrauch gemacht worden wäre.
Der die Gerichtskosten betreffende Kostenausspruch beruht auf § 16 KostO.
Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf § 24 Satz 1 RVG.
Die nachgesuchte Prozesskostenhilfe konnte nicht bewilligt werden, weil die Kosten der
Prozessführung der Partei vier Monatsraten voraussichtlich nicht übersteigen (§§ 14 FGG,
115 Abs. 4 ZPO).
Nach Maßgabe der PKH-Erklärung vom 10. Juli 2007 ergeben sich unter Berücksichtigung
der von der Beschwerdeführerin angegebenen Abzugspositionen monatliche Raten von 225
EUR (
).
Die bei einem Wert von 500 EUR abfallenden Kosten sind voraussichtlich niedriger als 4
Monatsraten, d.h. 900 EUR.
Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche
Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung die Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordern (§ 574 Abs. 3 Satz
1 i. V. m. Abs. 2 ZPO).