Urteil des OLG Saarbrücken vom 07.01.2005

OLG Saarbrücken: hauptsache, zugang, meinung, verjährung, erkenntnis, staat, verweigerung, beweisführung, vergleich, verwertung

OLG Saarbrücken Beschluß vom 7.1.2005, 8 W 263/04; 8 W 263/04 - 39
Prozesskostenhilfebewilligung: Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Erfolgsaussicht
der Rechtsverfolgung
Leitsätze
Bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe darf bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht der
Rechtsverfolgung lediglich geprüft werden, ob die Klage im Zeitpunkt der
Entscheidungsreife hinreichend erfolgsversprechend war. Eine erfahrungswidrig
durchgeführte Beweisaufnahme ist ebenso wenig zu berücksichtigen wie der Umstand,
dass die Partei die ihr nachteilige Entscheidung der Hauptsache nicht angefochten hat. Das
beruht auf dem verfassungsrechtlichen Gebot des chancengleichen und effektiven
Rechtsschutzes.
Tenor
Unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung wird der Klägerin für die erste Instanz
ratenfreie Prozesskostenhilfe ab dem 1.8.2004 bewilligt. Ihr wird Rechtsanwalt …,
Neunkirchen, beigeordnet.
Gründe
I. Die Klägerin hat die Beklagte im Wege der Stufenklage u.a. auf Auskunftserteilung in
Anspruch genommen und mit Einreichung der Klageschrift Prozesskostenhilfe beantragt,
wobei sie den ausgefüllten Vordruck über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
nebst Belegen beigefügt hat. Das Landgericht hat Termin zur mündlichen Verhandlung
bestimmt, nach Eingang der Klageerwiderung, in der die Beklagte die Einrede der
Verjährung erhoben hat, eine von der Beklagten benannte Zeugin hinzugeladen und die
Zeugin vernommen. Nach Durchführung der Beweisaufnahme hat es der Klägerin
aufgegeben, die eingereichte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse zu vervollständigen. Dem ist die Klägerin nachgekommen.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht aus den Gründen des am selben
Tage verkündeten Urteils den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, das Ergebnis der Beweisaufnahme sei bei
der Entscheidung zu berücksichtigen gewesen, weil der Prozesskostenhilfeantrag bis zum
Schluss der mündlichen Verhandlung unvollständig und deshalb noch nicht
entscheidungsreif gewesen sei.
Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Klägerin.
II. Die zulässige Beschwerde, der das Landgericht nicht abgeholfen hat, ist begründet. Der
Klägerin ist die beantragte Prozesskostenhilfe für die erste Instanz zu bewilligen, da die
beabsichtigte Rechtsverfolgung im maßgebenden Zeitpunkt hinreichende Aussicht auf
Erfolg hatte (§ 114 ZPO).
1. Die ZPO geht von der Konzeption aus, dass innerhalb des gerichtlichen Rechtsschutzes
das Prozesskostenhilfeverfahren und das Hauptsacheverfahren selbstständig
nebeneinander laufen. Das Prozesskostenhilfeverfahren ist beschränkt auf die Prüfung, ob
die Voraussetzungen der §§ 114, 115 ZPO vorliegen, ob also die beabsichtigte
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht
mutwillig ist und ob der Antragsteller bedürftig ist. In diesem Verfahren, das beschleunigt
durchgeführt werden soll, ist daher (nur) zu prüfen, ob die beabsichtigte oder bereits
anhängige Klage schlüssig ist; es ist nicht statthaft, über die Prozesskostenhilfebewilligung
erst nach Verhandlung und Beweiserhebung in der Hauptsache zu entscheiden (BVerfG
FamRZ 1992, 1151 f.; Zöller/Philippi, ZPO, 25. Aufl., § 114 Rn. 21a). Hat der Antragsteller
die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unvollständig
ausgefüllt oder fehlen Belege, so muss das Gericht unverzüglich eine Frist zur
Vervollständigung setzen (OLG München MDR 1998, 559); ob eine anhängig gemachte
Klage bereits vor Bewilligung von PKH zuzustellen ist, richtet sich nach § 65 Abs. 7 S. 1 Nr.
3, S. 2 GKG.
Diese Vorschriften für das Prozesskostenhilfe-Prüfungsverfahren hat das Landgericht nicht
beachtet. Es hat vielmehr - ohne vorherige Bewilligung von Prozesskostenhilfe, ohne
Anforderung eines Kostenvorschusses und ohne Glaubhaftmachung nach § 65 Abs. 7 GKG
- die Klage zugestellt, Verhandlungstermin bestimmt und Beweis erhoben, ohne zuvor auf
eine seiner Meinung nach erforderliche Vervollständigung der Erklärung über die
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hinzuwirken und über den
Prozesskostenhilfe-Antrag zu entscheiden.
2. Es stellte sich deshalb die Frage, wie sich diese verfahrenswidrige Weiterführung des
Hauptverfahrens auswirkte, ob insbesondere der Fortgang des Hauptverfahrens die
Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals „hinreichender Erfolg“ (§ 114 ZPO) in der
Weise veränderte, dass das Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme die Beurteilung
der Erfolgsaussicht beeinflusste.
Dem Gesetz lässt sich darüber, von welcher Grundlage das Gericht bei der Entscheidung
über den Prozesskostenhilfe-Antrag auszugehen hat, ausdrücklich nichts entnehmen.
Weitgehend unstreitig ist nur, dass hinsichtlich der subjektiven Voraussetzung - der
Bedürftigkeit - auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen ist (vgl. Zöller/Philippi,
a.a.O., § 119 Rn. 44 m.w.N.). Von welchem Zeitpunkt aus die objektive Voraussetzung -
die Erfolgsaussicht - zu beurteilen ist, ist dagegen lebhaft umstritten.
Sind zwischen Antragstellung und Entscheidung Änderungen in der rechtlichen Beurteilung
des Sachverhalts eingetreten, soll das Gericht die als zutreffend erkannte Rechtslage der
Beurteilung der Erfolgsaussicht auch dann zugrunde legen müssen, wenn eine zunächst
zweifelhafte Rechtsfrage erst im Lauf des Prozesskostenhilfeverfahrens durch eine
höchstrichterliche Entscheidung hinreichend geklärt worden ist (BGH MDR 1982, 564 f.):
Ein bedürftiger Verfahrensbeteiligter solle sich nicht darauf berufen dürfen, dass ihm die
Prozesskostenhilfe hätte bewilligt werden können, wenn das Gericht über sein Gesuch vor
der Klärung der Rechtslage entschieden hätte, weil das Gericht die Erfolgsaussicht nicht
wider bessere Erkenntnis bejahen dürfe.
Für dem Antragsteller nachteilige Änderungen der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage
zwischen frühester Entscheidungsreife und zeitlich nachfolgender Entscheidung werden
verschiedene Auffassungen vertreten.
a) Nach einer Meinung soll auf den Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Entscheidung
abzustellen sein und zwar auch dann, wenn das Gericht eine Entscheidung verzögert hat
und zwischenzeitlich aufgrund einer Beweisaufnahme feststeht, dass die Rechtsverfolgung,
die zunächst erfolgversprechend schien, in Wirklichkeit von Anfang an ohne hinreichende
Erfolgsaussicht war (vgl. die Nachweise bei Zöller/Philippi, a.a.O., § 119 Rn. 46; ebenso
Wax in: MünchKomm, ZPO, 2. Aufl., § 114 Rn. 161; Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs,
PKH und Beratungshilfe, 3. Aufl., Rn. 423 ff. m.w.N.; Schneider Rpfleger 1985, 430 ff.).
b) Andere Gerichte berücksichtigen dagegen eine zwischenzeitliche Veränderung der
Tatsachengrundlage jedenfalls dann nicht, wenn das Gericht die Bewilligungsentscheidung
durch nachlässige oder fehlerhafte Bearbeitung verzögert hat. Sie stellen in einem solchen
Fall auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife ab (vgl. die Nachweise bei MünchKomm-
Wax, a.a.O., § 114 Rn. 160, Fn. 242; Zöller/Philippi, a.a.O., § 119 Rn. 44, 46;
Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, a.a.O., Rn. 422, Fn. 60; Stein/Jonas - Bork, ZPO, 22.
Aufl., § 114 Rn. 38, Fn. 150). Nicht gelten soll das allerdings, wenn die Partei eine ihr
ungünstige Entscheidung der Vorinstanz über die Hauptsache nicht anficht. In diesem Fall
soll das Gericht, das über die Beschwerde gegen die Versagung der Prozesskostenhilfe zu
entscheiden hat, die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht anders als die Vorinstanz
beurteilen dürfen, weil die Beschwerde gegen die Verweigerung der Prozesskostenhilfe
nicht auf eine Erfolgsaussicht gestützt werden könne, die das nicht angegriffene Urteil
verneint (Zöller/Philippi, a.a.O., § 119 Rn. 47 m.w.N.; a.A.: Stein/Jonas - Bork, ZPO, 22.
Aufl., § 114 Rn. 41).
3. Nach Auffassung des Senats darf bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht der
Rechtsverfolgung lediglich geprüft werden, ob die Klage im Zeitpunkt der
Entscheidungsreife hinreichend erfolgversprechend war. Eine verfahrenswidrig
durchgeführte Beweisaufnahme ist ebenso wenig zu berücksichtigen wie der Umstand,
dass die Partei die ihr nachteilige Entscheidung in der Hauptsache nicht angefochten hat.
Das beruht auf dem verfassungsrechtlichen Gebot des chancengleichen und effektiven
Rechtsschutzes.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebieten Art. 3 Abs. 1
i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG die weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und
Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Der Staat muss den Zugang zu
den Gerichten jedermann in gleicher Weise öffnen. Dabei ist es verfassungsrechtlich
unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die
beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung Aussicht auf Erfolg hat und nicht
mutwillig erscheint (BVerfG NJW 1991, 413 unter 2. a). Die Anforderungen, die an die
Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung gestellt werden, müssen sich
jedoch an dem in Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Gedanken der
Rechtsschutzgleichheit orientieren, damit der Zweck der Prozesskostenhilfe, dem
Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, nicht verfehlt
wird (BVerfG NJW 2000, 1936, 1937).
Maßstab des Tatbestandsmerkmals „Aussicht auf Erfolg“ (§ 114 ZPO) ist, wie sich bereits
aus den verschiedenen Begriffen ablesen lässt, nicht der tatsächliche Erfolg der
Prozessführung in der Hauptsache. Für die Bejahung der Erfolgsaussicht i.S.v. § 114 ZPO
genügt es, wenn das über das Gesuch entscheidende Gericht den Rechtsstandpunkt
zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht wenigstens von der Möglichkeit
der Beweisführung überzeugt ist (vgl. die Nachweise bei Stein/Jonas/Bork, a.a.O., § 114 Rn.
22). Das Gericht hat somit lediglich eine Prognoseentscheidung zu treffen, es darf nicht
den tatsächlichen Erfolg (oder Misserfolg) in der Hauptsache abwarten. Wäre das nämlich
der Fall, könnte Prozesskostenhilfe regelmäßig nur bewilligt werden, wenn der Unbemittelte
ihrer gar nicht bedürfte. Denn im Fall einer erfolgreichen Prozessführung werden ihm keine
Gerichtskosten und keine zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen
Auslagen auferlegt, weil der Erfolg in der Hauptsache in der Regel mit der
Kostentragungspflicht des Unterliegenden einhergeht (vgl. § 91 ZPO). Folgerichtig soll die
Prozesskostenhilfe nicht den Erfolg in der Hauptsache prämieren, sondern den
Rechtsschutz nur ermöglichen. Hiervon kann aber nicht die Rede sein, wenn über einen
Bewilligungsantrag, der bei Befolgung der Vorschriften über das Prozesskostenhilfe-
Prüfungsverfahren längst spruchreif gewesen wäre, erst zusammen mit der Hauptsache
entschieden wird (vgl. BVerfG NJW 2003, 3190, 3191). Ebenso wenig kann es für die
Frage der Erfolgsaussicht, die aufgrund des Parteivortrags zu prognostizieren ist, eine Rolle
spielen, ob der Bedürftige eine ihm nachteilige Entscheidung unangefochten lässt bzw. das
Beschwerdegericht über weiter gehende, die Erfolgsaussichten beeinträchtigende
Erkenntnisse verfügt, die zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife noch nicht vorlagen. Würden
solche Umstände verwertet, liefe das auf eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung
des Unbemittelten gegenüber dem Bemittelten hinaus.
Der Senat vermag sich deshalb im Hinblick auf das aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 3
GG folgende Gebot der Rechtsschutzgleichheit auch der Auffassung, dass eine
verfahrenswidrig durchgeführte Beweisaufnahme bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht zu
berücksichtigen ist, nicht anzuschließen (ebenso: Musielak/Fischer, ZPO, 4. Aufl., § 119 Rn.
14). Die Verwertung des dem Antragsteller nachteiligen Beweisergebnisses würde die
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst unzulässigerweise in das summarische
Prüfungsverfahren verlagern und damit der unbemittelten Partei im Vergleich zur
bemittelten Partei die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig
erschweren (vgl. dazu BVerfG NJW 1991, 413; NJW-RR 2002, 1069; NJW-RR 2004, 61).
Hinzu tritt im vorliegenden Fall, dass das Landgericht eine Beweiserhebung über die
Behauptungen der Beklagten angeordnet hat. Hierin tritt klar zu Tage, dass das
Landgericht die Erfolgsaussichten der Klage zu jenem Zeitpunkt bejaht hat. Da kein Zweifel
besteht, dass die Klägerin einer rechtzeitigen Aufforderung zur Vervollständigung der
Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse jedenfalls bis zum
1.8.2004 nachgekommen wäre, hätte das die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
gerechtfertigt. Demgegenüber durfte die nach Durchführung der Beweisaufnahme
gewonnene Erkenntnis, dass die Klage wegen Verjährung geltend gemachter Ansprüche im
Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg hat, unter dem Gesichtspunkt der Rechtsschutzgleichheit
von Bemittelten und Unbemittelten kein Grund mehr sein, der Klage die Erfolgsaussichten -
nachträglich - abzusprechen (BVerfG NJW 2003, 3190, 3191).