Urteil des OLG Oldenburg vom 26.01.1999

OLG Oldenburg: lege artis, zahnärztliche behandlung, hebung, behandlungsfehler, schmerzensgeld, zahnarzt, unterlassen, ausnahmefall, gutachter, einwilligung

Gericht:
OLG Oldenburg, 05. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 5 U 160/98
Datum:
26.01.1999
Sachgebiet:
Normen:
BGB § 847, BGB § 256
Leitsatz:
Die Höhen der unteren Frontzähne geltend in der zahnärztlichen Funktionslehre als unantastbar.
Volltext:
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und auf Feststellung wegen fehlerhafter
zahnärztlicher Behandlung in Anspruch.
Der Beklagte behandelte die Klägerin seit Oktober 1995 und versah am 29.11.1995 den Zahn 11 mit einer VMK-
Krone. Im Mai 1996 wandte sich die Klägerin wegen Beschwerden mit dieser Krone an den Beklagten, der die Krone
entfernte, den Zahnstumpf durch einen Schraubenaufbau verstärkte und die Krone wieder einsetzte. Zugleich schliff
der Beklagte die
Zähne 42, 41 und 31 selektiv im Schmelzbereich ein.
Die Klägerin hat unter Hinweis auf das zahnärztliche Gutachten Timmermann vom 08.08.1996 behauptet, die Krone
sei mangelhaft gefertigt worden. Der Kronenrand sei überkonturiert, so daß sich eine Plaque-Retentionsnische
gebildet habe, die zu einer lokalen
Zahnfleischentzündung geführt habe. Außerdem sei die zu lange Krone gegen den Antagonisten gestoßen. Anstatt
die Krone entsprechend zu kürzen und anzupassen, habe der Beklagte fehlerhafterweise die Zähne 42, 41 und 31
eingeschliffen, um Platz für die überdimensionierte Krone zu schaffen. Infolgedessen seien die vor dem Eingriff
völlig
gesunden Zähne 42, 41 und 31 extrem schmerz- und temperaturempfindlich geworden. Sie müßten nunmehr
überkront werden. Seitdem leide sie - die Klägerin - an unerträglichen Schmerzen. Ein Schmerzensgeld von
mindestens 8.000,-- DM sei daher angemessen.
Die 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg hat die Klage nach Erhebung von Sachverständigenbeweis durch
Urteil vom 25.09.1998 abgewiesen. Ob dem Beklagten ein Behandlungsfehler unterlaufen sei, kann nach Auffassung
der Kammer offenbleiben, weil die Klägerin dem Beklagten keine Gelegenheit zur Nachbesserung gegeben habe.
Dazu sei sie
aber verpflichtet gewesen.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie geltend macht:
Das Landgericht habe verkannt, daß der Beklagte ihre gesunden Vorderzähne nicht nur im Schmelzbereich
eigenmächtig eingeschliffen habe, ohne sie - die Klägerin - vorher zu belehren und aufzuklären. Die Rechtfertigung
des Beklagten, schwierige Bißverhältnisse hätten ihm keine Wahl gelassen, sei durch das
Sachverständigengutachten widerlegt. Damit sei dem Beklagten ein grober Behandlungsfehler unterlaufen.
Richtigerweise hätte der Beklagte die vorhandene fehlerhafte Verzahnung durch eine Bißhebung korrigieren müssen.
Auch die Nachbehandlungsmaßnahmen des Beklagten seien in jeder Hinsicht unzureichend gewesen.
Unhaltbar sei der ihr gemachte Vorwurf, sie habe es unterlassen, ihren Mitwirkungspflichten nachzukommen. Dazu
sei ein Patient nur dann verpflichtet, wenn es erforderlich sei, Ungenauigkeiten und Abweichungen vom Idealzustand
eines sonst grundsätzlich lege artis gefertigten Zahnersatzes zu beheben. Davon könne jedoch nicht die Rede sein,
wenn ein Zahnarzt ohne Einwilligung eines Patienten dessen Zähne abschleife.
Die zulässige Berufung ist überwiegend auch sachlich gerechtfertigt. Der Beklagte schuldet der Klägerin ein
Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 DM; ferner ist der Feststellungsantrag in dem aus dem Tenor ersichtlichen
Umfang begründet (§§ 823 Abs. 1, 847 BGB, 256 ZPO).
1.) Bei der Überkronung des Zahnes 11 ist dem Beklagten allerdings kein vorwerfbarer Behandlungsfehler
unterlaufen. Der Sachverständige hat dazu festgestellt, daß die Krone nicht "überkonturiert" ist. Es sind auch keine
Plaque- und Retentionsnischen durch eine Überkonturierung oder durch andere sichtbare Mängel entstanden.
Ebensowenig liegt ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen der Krone und der festgestellten
Zahnfleischentzündung vor. Demgemäß hat das Landgericht insoweit eine fehlerhaft zahnärztliche Behandlung
verneint, ohne daß die Berufung dies beanstandet.
2.) Dem Beklagten ist aber vorzuwerfen, die Unterkieferzähne 42, 41 und 31 fehlerhafterweise ohne Grund
eingeschliffen und dadurch so stark beschädigt zu haben, daß zumindest die Zähne 41 und 42 extrem temperatur-
und schmerzempfindlich geworden sind. Der Sachverständige Dr. Schmidt hat dazu ausgeführt, daß die unteren
Frontzahnhöhen in der
zahnärztlichen Funktionslehre als "sakrosant" gelten, sie also nur in Ausnahmefällen gekürzt werden sollten. Ein
solcher Ausnahmefall ist von dem Beklagten nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht erkennbar. In dem über
die Klägerin geführten Krankenblatt des Beklagten ist nur das Abschleifen der Zähne dokumentiert; Gründe für diese
Maßnahmen sind
dort nicht niedergelegt. Das Unterlassen der Dokumentation dieses aufzeichnungspflichtigen Tatbestands indiziert,
daß die Voraussetzungen eines Ausnahmsfalls nicht vorlagen (vgl. dazu: Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 7.
Aufl., 1997, Rn. 465 m.w.N.). Der Beklagte hat
die hiernach gegen ihn sprechende Vermutung nicht widerlegt. Er hat sich zu den Umständen, die ihn zum
Abschleifen der Vorderzähne veranlaßten, wechselnd und widersprüchlich eingelassen:
Mit Schriftsatz vom 31.01.1997 hat er ausgeführt, die Schneidekanten der Zähne seien selektiv im Schmelzbereich
eingeschliffen worden "was bei schwierigen Platzverhältnissen durchaus üblich ist", und die "außergewöhnlich
schwierigen Bißverhältnisse hätten ihm keine
andere Wahl gelassen, als die ohnehin schon durch natürlich Abrasion abradierten Zähne 41 und 42 noch etwas
einzuschleifen" (Schriftsatz vom 29.05.1998). Der Sachverständige hat dieser Einschätzung bei seiner Anhörung vor
dem Landgericht widersprochen: Es sei zwar zutreffend, daß bei der Klägerin schwierige Gebißverhältnisse vorlägen.
Das Einschleifen der Zähne 41 und 42 sei jedoch keineswegs die einzige Therapiemöglichkeit gewesen. Angesichts
der umfassenden pathologischen Mundverhältnisse wäre als Alternative ein Behandlungskonzept in Betracht
gekommen, das diese Mißstände erfaßt hätte. Das Problem der fehlerhaften Verzahnung hätte nur durch eine
umfangreiche Bißhebung vor einer
Formkorrektur der Unterkieferfront behoben werden können.
Der Gutachter hat weiter ausgeführt, daß es vorstellbar sei, daß wegen der bereits erheblichen Vorschäden der
Zähne im Schmelzbereich die Einschleifmaßnahmen sinnvoll erschienen oder gar notwendig waren. Zu möglichen
Vorschäden der Zähne 41 und 42 könne er sich jedoch
im Nachhinein naturgemäß nicht mehr äußern.
Im zweiten Rechtszug hat der Beklagte seine Darstellung zur Notwendigkeit des Abschleifens der Frontzähne den
letztgenannten Ausführungen des Sachverständigen angepaßt. Abgesehen davon, daß dieser Sachvortrag
angesichts der dargelegten Widersprüche nicht zu überzeugen
vermag, kann nicht festgestellt werden, daß die abgeschliffenen Frontzähne 41 und 42 Vorschäden aufwiesen.
Somit bleibt offen, ob der vom Gutachter in Betracht gezogene Ausnahmefall tatsächlich vorgelegen hat. Dies geht -
wie vorstehend ausgeführt - zu Lasten des Beklagten.
Im übrigen wäre es - wie der Sachverständige weiter ausgeführt hat - zahnmedizinisch geboten gewesen, die
Klägerin über alternative Behandlungskonzepte (Bißhebung) aufzuklären. Ein solches Gespräch über
Behandlungsalternativen hat jedoch nicht stattgefunden. Der Beklagte, der anderweitige Behandlungsmaßnahmen
offenbar nicht in Betracht gezogen hat, behauptet selbst nicht ausdrücklich, mit der Klägerin entsprechende
Alternativen erörtert zu haben. Der Beklagte haftet der Klägerin daher auch aus diesem Grund wegen fehlender
wirksamer Einwilligung in die Behandlung auf Schadensersatz.
Der Senat ist im Gegensatz zum Landgericht der Auffassung, daß der Klägerin nicht vorgeworfen werden kann,
gegen ihre Mitwirkungspflichten im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung verstoßen zu haben. Derartige
Mitwirkungspflichten treffen den Patienten nur dann, wenn es darum geht, Ungenauigkeiten und Abweichungen vom
Idealzustand eines grundsätzlich lege artis gefertigten Zahnersatzes zu beheben (Senatsurteil vom 11.11.1997, 5 U
70/97). Diese Voraussetzungen sind jedoch dann nicht gegeben, wenn wie hier - ein Zahnarzt die Vorderzähne ohne
rechtfertigenden Grund einschleift. In diesem Fall ist es dem
Patienten auch nicht zuzumuten, sich erneut in die Behandlung desselben Zahnarztes begeben zu müssen.
Der Beklagte schuldet der Klägerin nach alldem ein Schmerzensgeld (§ 847 Abs. 1 BGB), das in einer Höhe von
5.000,00 DM angemessen ist. Wie der Sachverständige ausgeführt hat, sind die Zähne 41 und 42 durch das
Beschleifen so stark beschädigt worden, daß sie infolgedessen
stark temperatur- und schmerzempfindlich geworden sind. Die Klägerin hat sich darüber hinaus einer
Nachbehandlung zu unterziehen,die mit weiteren Beeinträchtigungen verbunden ist.
Der Feststellungsantrag ist bezüglich der materiellen Schäden ohne Einschränkungen begründet (§ 256 ZPO).
Hinsichtlich der immateriellen Schäden war er auf die künftigen Beeinträchtigungen zu begrenzen.