Urteil des OLG Köln vom 21.01.2003

OLG Köln: haftbefehl, eltern, untersuchungshaft, tatverdacht, vollzug, anklageschrift, aussetzung, widerruf, vergewaltigung, behandlung

Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 21/03
Datum:
21.01.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 21/03
Schlagworte:
Beschwerde
Normen:
StPO § 116
Tenor:
Die weitere Beschwerde wird verworfen.
Der Angeschuldigte hat die Kosten des Beschwerde-
verfahrens zu tragen.
Gründe:
1
I.
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Der Beschwerdeführer ist am 18. Oktober 2002 auf Grund des Haftbefehls des
Amtsgerichts Köln vom selben Tag in Untersuchungshaft genommen worden. Darin wird
ihm vorgeworfen, die 17-jährige bulgarische Staatsangehörige E. K. P. zwischen dem
28. September und dem 15. Oktober 2002, zweimal vergewaltigt zu haben, und zwar mit
Gewalt, mit Androhung von gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben und unter
Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos
ausgeliefert war, Vergehen und Verbrechen, strafbar gemäß § 177 Abs.1 Nr.1, 2 und 3,
Abs.2 Nr.1, § 53 StGB.
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Der Haftbefehl richtete sich zugleich gegen die Großeltern, die Mitangeschuldigten I.
und S. D., denen der Haftbefehl Beihilfe zur Vergewaltigung in zwei Fällen vorwirft.
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Auf die mit Verteidigerschriftsatz vom 5. November 2002 zur Begründung des
Haftprüfungsantrags erhobenen Einwendungen des Beschuldigten gegen den
Tatverdacht hat das Amtsgericht den Haftbefehl mit Beschluss vom 12. November 2002
unter bestimmten Auflagen und gegen die Leistung einer Sicherheit von 2.000 EUR
außer Vollzug gesetzt.
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Nachdem die Geschädigte am 19. November 2002 zur Einlassung der Beschuldigten
vernommen worden war, beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung
des Haftbefehls. Mit Beschluss vom 20. November 2002 hob die Haftrichterin, den
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des Haftbefehls. Mit Beschluss vom 20. November 2002 hob die Haftrichterin, den
Antrag der Staatsanwaltschaft als Beschwerde behandelnd, den
Verschonungsbeschluss vom 12. November 2002 auf und setzte den Haftbefehl wieder
in Vollzug. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, die von der Verteidigung
gemachten Angaben über eine zwischen den Familien vermittelte Eheschließung, eine
Zugehörigkeit der Geschädigten zum Volk der Roma und die Freiwilligkeit der ersten
sexuellen Kontakte habe sich "als nicht korrekt" erwiesen. Dies werde Auswirkungen
auf das Strafmaß haben, was wiederum den Fluchtanreiz erhöhe.
Die von dem Beschuldigten mit Schriftsatz des Verteidigers vom 11. Dezember 2002
gegen den Haftbefehl und dessen Invollzugsetzung erhobene Beschwerde hat die
Strafkammer mit Beschluss vom 16. Dezember 2002 - 102 Qs 46/02 - verworfen.
Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde vom 27. Dezember 2002, der die
Strafkammer nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 6. Januar 2003 ).
7
II.
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Die nach § 310 Abs.1 StPO statthafte und auch sonst zulässige weitere Beschwerde ist
nicht begründet. Die Strafkammer hat die Beschwerde des Angeschuldigten B. im
Ergebnis zu Recht verworfen.
9
1.
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Die weitere Beschwerde ist statthaft. Sie ist auch nicht wegen der am 3. Januar 2003
erhobenen Anklage zur großen Strafkammer in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten.
Denn die - im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels gegebene - Zuständigkeit des
Senats ist nicht dadurch entfallen, dass nach der Einlegung des Rechtsmittels Anklage
erhoben worden ist.
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Zwar geht mit der Anklageerhebung die Zuständigkeit für Haftentscheidungen gemäß §
126 Abs.2 StPO auf das hierdurch mit der Sache befasste Gericht über. Dies hat
grundsätzlich zur Folge, dass die zuvor eingelegte, aber noch nicht erledigte weitere
Beschwerde nunmehr als Haftprüfungsantrag zu behandeln ist, über den der jetzt
zuständige Haftrichter - hier die Strafkammer - zu entscheiden hat (vgl. Meyer-Goßner,
StPO, 46. Aufl.,.§ 117 Rdn.12; Boujong in: Karlsruher Kommentar, StPO, 4.Aufl., § 126
Rdn.8, vgl. auch Schäfer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. § 111 a Rdn.90). Erst
gegen dessen Entscheidung ist wieder die Beschwerde gegeben.
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Etwas anderes gilt aber, wenn das aufgrund der Anklage mit der Sache befasste
Gericht, wie hier, auch die angefochtene Beschwerdeentscheidung getroffen hat. In
diesem Fall ist die Behandlung der Beschwerde als Haftprüfungsantrag nicht
sachdienlich, weil das selbe Gericht seine eigene, vor kurzer Zeit getroffene
Entscheidung im Zweifel bestätigen wird und der Senat - mit vermeidbarer zeitlicher
Verzögerung - doch zur Entscheidung angerufen werden würde.
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2.
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Die weitere Beschwerde ist unbegründet. Denn die Voraussetzungen der
Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO liegen vor.
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a)
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Der Angeschuldigte ist der ihm im Haftbefehl zur Last gelegten Straftaten der
Vergewaltigung in zwei Fällen nach §§ 177 Abs.1 Nr.1, 2, 3, Abs. 2 Nr.1, § 53 StGB
aufgrund des bisherigen Ergebnisses der Ermittlungen und der in der Anklageschrift
angegebenen Beweismittel dringend verdächtig. Der Senat schließt sich der
ausführlichen und zutreffenden Würdigung des Tatverdachts durch die Strafkammer an.
Ergänzend sei lediglich darauf hingewiesen, dass die Zeugin P. keinen Grund gehabt
hätte zu fliehen, ohne irgend jemanden in K. zu kennen, an den sie sich hätte wenden
können, wenn die von ihr geschilderte Behandlung keinen realen Hintergrund hätte.
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b)
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Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs.2 Nr.2 StPO, weil es auf
Grund folgender Tatsachen wahrscheinlicher erscheint, dass sich der Angeschuldigte
dem Verfahren im Fall seiner Freilassung durch Flucht entziehen, als dass er sich ihm
stellen wird:
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Der Angeschuldigte ist ledig und geht keiner legalen Beschäftigung nach. Er hält sich
überwiegend bei seinen Großeltern auf, die Mitbeschuldigte des Verfahrens sind. Zu
seinen Eltern hat er keinen Kontakt. Er weiß eigenen Angaben zufolge nicht einmal, wo
sich sein Vater aufhält. Damit sind durchgreifende fluchthemmende Bindungen nicht
vorhanden. Der Aufenthalt des Angeschuldigten beschränkt sich auch nicht auf den
Kölner Raum, wie der ihm zur Last gelegte räuberische Diebstahl in D. - 100 Js 3043/02
StA Düsseldorf - zeigt (seine Anwesenheit in D. bestreitet der Angeschuldigte
ausweislich der Anklageschrift jenes Verfahrens nicht).
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Andererseits ergibt sich aus der hohen Strafandrohung - § 177 Abs.2 StGB sieht eine
Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren vor, straferschwerend dürfte es sich auswirken,
wenn entsprechend der Anklage alle Alternativen des § 177 Abs.1 StGB erfüllt sein
sollten - ein so erheblicher Fluchtanreiz, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
davon ausgegangen werden muss, der Angeschuldigte werde die ihm zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten des Untertauchens nutzen.
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c)
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Ohne Erfolg wendet sich die weitere Beschwerde gegen die Aufhebung der
Haftverschonung.
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Dabei kann dahingestellt bleiben, ob im Zeitpunkt der Aufhebung der Haftverschonung
die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO für einen Widerruf der
Haftverschonung wegen neu hervorgetretener Umstände vorlagen.
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Neu im Sinne des § 116 Abs.4 Nr. 3 StPO sind Umstände, die die Gründe des
Haftverschonungsbeschlusses in einem wesentlichen Punkt erschüttern und den
Haftrichter bewogen hätten, eine Aussetzung nicht zu bewilligen, wenn er sie bei seiner
Entscheidung schon gekannt hätte (OLG Düsseldorf, StV 2002, 207 f. = StraFo 2002,
142 f.= OLGSt StPO § 116 Nr.3). "Neu hervorgetretene Umstände" können auch darin
liegen, dass sich die Straferwartung im Vergleich zum Zeitpunkt der Aussetzung in
einem Maße erhöht, dass minder schwere Maßnahmen nicht länger geeignet
erscheinen, den Beschuldigten an einer Flucht zu hindern (SenatsE v. 20. November
2001 - 2 Ws 498/01 m.w.Nachw.). Dem Aufhebungsbeschluss lässt sich entnehmen,
dass die Haftverschonung wesentlich von der Vorstellung der Haftrichterin bestimmt
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gewesen war, die dem Beschuldigten zur Last gelegten Straftaten seien unter einer
Reihe von erheblich strafmildernden Umständen begangen worden (einvernehmlich
herbeigeführte Verbindung des Beschuldigten und der Geschädigten nach Sitte des
Romavolkes und - vor allem - zunächst einverständlich zustande gekommene und von
der Geschädigten freiwillig geduldete sexuelle Kontakte), ohne dass dadurch offenbar
der Tatverdacht als solcher in Frage gestellt werden sollte.
Ob die Erschütterung dieser Bewertung durch die nachfolgende Aussage der Zeugin P.
als "neuer Umstand" im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO gewertet werden könnte,
erscheint nicht unproblematisch. Denn der Beschuldigte hatte in Kenntnis der schwer
wiegenden Tatvorwürfe alle Auflagen erfüllt und keine Anstalten zur Flucht getroffen
(vgl. zu dieser Problematik: Senat, a.a.O.; KK-Boujong, § 116, Rdn.32; OLG Frankfurt,
StV 1998, 31; OLG Stuttgart, StV 1998, 553; OLG Bremen, StV 1988, 392; OLG
Düsseldorf, StV 1988, 207 = NStE Nr.1 zu § 116 StPO).
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Dies bedarf aber keiner Entscheidung. Denn die Aufhebung der Haftverschonung
erfolgte unter Beschwerdegesichtspunkten. Die Haftrichterin hat den Antrag der
Staatsanwaltschaft auf Wiederinvollzugsetzung in möglicher Anwendung des § 300
StPO als Beschwerde im Sinne des § 304 StPO behandelt. Hiergegen bestehen im
Hinblick auf den kurzen Zeitablauf zwischen Haftverschonung (12. November 2002) und
Antrag (19. November 2002) keine Bedenken. Damit handelte es sich bei der
Aufhebung des Verschonungsbeschlusses um eine Abhilfeentscheidung im Sinne des
§ 306 Abs.2 StPO, und es kommt es nicht darauf an, ob der Widerruf der
Haftverschonung wegen neuer Umstände rechtlich möglich war (vgl. hierzu Senat,
a.a.aO.; OLG Düsseldorf a.a.O. und StV 1993, 480 f. = VRS 85 (1993), 352 f.=OLGSt
StPO § 304 Nr.7; Meyer-Goßner, § 116 Rdn.22), sondern darauf, ob im Zeitpunkt der
Abhilfeentscheidung bei Würdigung der gegebenen Umständen die Voraussetzungen
für eine Haftverschonung nach § 116 Abs. 1 StPO vorlagen.
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Dies war auch nach Auffassung des Senats nicht der Fall. Denn die soziale Einbindung
des Beschuldigten ist im Hinblick auf die erhebliche Strafandrohung und darauf, dass
die einzigen sozialen Bezugspersonen zugleich Mitbeschuldigte sind, nicht in einer
Weise fluchthemmend eng, dass eine Flucht trotz der erteilten Auflagen nicht
überwiegend wahrscheinlich erschiene.
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3.
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Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist schließlich auch nicht unverhältnismäßig,
zumal das Verfahren inzwischen durch Anklageerhebung weiter gefördert worden ist.
30
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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