Urteil des OLG Köln vom 18.03.1998

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Oberlandesgericht Köln, 5 U 173/97
Datum:
18.03.1998
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 173/97
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 25 O 281/95
Tenor:
Die Anschlußberufung der Beklagten gegen das Urteil der 25.
Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 16. Juli 1997 - 25 O 281/95 -
wird zurückgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des
Landgerichts teilweise dahingehend abgeändert, daß die Beklagten
zusätzlich zu dem bereits vom Landgericht zuerkannten Betrag an die
Klägerin einen weiteren Betrag von 325,20 DM nebst 4 % Zinsen seit
dem 14.09.1995 zu zahlen haben und ferner festgestellt wird, daß die
Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin jeglichen Schaden zu ersetzen,
der ihr zukünftig durch die unrichtige ärztliche Behandlung in der
chirurgischen Ambulanz des Beklagten zu 1) am 15.12.1992 entsteht,
soweit es die verspätete Erkennung und Behandlung der Durchtrennung
der langen Beugesehne des rechten Daumens anbetrifft. Die Beklagten
haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Das Urteil ist vorläufig
vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Berufung der Klägerin und die - unselbständige - Anschlußberufung der Beklagten
sind zulässig.
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In der Sache Erfolg hat lediglich die Berufung der Klägerin, wohingegen die
Anschlußberufung der Beklagten zurückzuweisen war.
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Zutreffend und mit im wesentlichen richtiger Begründung hat das Landgericht eine
Haftung der Beklagten wegen fehlerhafter Behandlung der Klägerin in der Ambulanz
des Kreiskrankenhauses D. am 15.12.1992 bejaht.
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Die Haftung der Beklagten ergibt sich aus §§ 823, 847, 31 BGB bzw. hinsichtlich des
materiellen Schadens auch aus positiver Vertragsverletzung des mit der Klägerin
geschlossenen Behandlungsvertrages, wobei der Beklagte zu 1) für den Beklagten zu
2) insoweit gem. § 278 BGB einzustehen hat. Die Beklagten haben bereits in erster
Instanz klargestellt, es sei nicht auszuschließen, daß die Rechnungen auch betreffend
die ambulante Behandlung seitens des Krankenhauses erstellt worden seien; mithin
liegt nicht etwa eine Chefarztambulanz mit alleiniger Liquidationsberechtigung und
entsprechender alleiniger Haftung des Chefarztes vor; vielmehr haften beide Beklagten
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deliktisch.
Die Ausführungen des Landgerichts zum Haftungsgrund sind vor dem Hintergrund des
erstinstanzlichen Sachverständigengutachtens, welches auch den Senat in jeder
Hinsicht überzeugt und von den Parteien auch nicht substantiiert angegriffen worden ist,
zutreffend. Sowohl was das Nichterkennen der möglichen Durchtrennung beider
Fingereigennerven des rechten Daumens als auch einer möglichen Durchtrennung der
langen Daumenbeugesehne anbetrifft, sind den Beklagten Behandlungsfehler
vorzuwerfen.
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Daß der Beklagte zu 2) die Durchtrennung der beiden Fingereigennerven des rechten
Daumens nicht erkannt hat, beruht auf dem Unterlassen der Durchführung einer Zwei-
Punkte-Diskrimination entweder bei der Erst- oder aber jedenfalls bei der
Nachuntersuchung, die der Sachverständige mit nachvollziehbarer Begründung als im
Falle des Verdachts auf Nervendurchtrennung unbedingt gebotene diagnostische
Maßnahme bezeichnet hat. Seine Feststellung, aus objektiv ärztlicher Sicht verstoße die
Verkennung der Nervenverletzung infolge unzureichender Diagnostik gegen elementare
Behandlungsgrundsätze, macht deutlich, daß dem Beklagten zu 2) insoweit ein schon
als schwer zu bezeichnender Behandlungsfehler unterlaufen ist.
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Allerdings ergibt sich hieraus gleichwohl keine Haftung der Beklagten.
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Zwar führt die Bejahung eines schweren Behandlungsfehlers nach den hierzu in der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen unter Umständen zu einer
Beweislastumkehr auch hinsichtlich der Schadensursächlichkeit des entsprechenden
Behandlungsfehlers. Vorliegend kann jedoch nicht als sicher feststehend erachtet
werden, daß die Nerven, soweit eine Durchtrennung durch die entsprechende Zwei-
Punkte-Diskrimination umgehend festgestellt worden wäre, sodann auch primär genäht
worden wären. Der Sachverständige hat hierzu nämlich unter Bezugnahme auf
wissenschaftliche Literatur dargelegt, daß bis zum Anfang der 90er Jahre nicht lediglich
die umgehende Nervennaht am Unfalltag als geboten beschrieben und praktiziert
wurde, sondern man in diesem Zeitraum auch die Sekundärnaht noch für richtig hielt.
Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hingewiesen,
daß auch noch im Jahre 1992 in der Literatur diskutiert wurde, ob Nervennähte nicht
besser erst nach Abheilung der Weichteilwunden in einem Zweiteingriff ausgeführt
werden sollten.
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Vor diesem Hintergrund kann schon nicht davon ausgegangen werden, daß selbst bei
rechtzeitigem Erkennen einer Nervdurchtrennung man auf seiten der Beklagten sich zu
einer Primärnaht entschlossen hätte und hätte entschließen müssen.
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Außerdem hat der Sachverständige darauf hingewiesen, daß selbst bei einer primären
Fingernervennaht (also noch am Unfalltag) gute und sehr gute Ergebnisse bei lediglich
der Hälfte der Patienten mitgeteilt werden und bei Erwachsenen nach weiteren
Untersuchungen eine Fingernervennaht, auch eine primäre, niemals mehr eine
störungsfreie und vollständig normale Tastempfindung erzeugen kann.
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Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen des Sachverständigen ist das Unterbleiben
der an sich zwingend gebotenen Zwei-Punkte-Diskriminationsprüfung im Ergebnis
irrelevant, weil nicht festgestellt werden kann, daß bei rechtzeitigem Erkennen sodann
auch unverzüglich am Unfalltag primär genäht worden wäre und darüber hinaus - was
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aber kein tragender Gesichtspunkt ist - hierbei auch ein besseres Ergebnis zu erzielen
gewesen wäre. Insoweit kommt eine Haftung entsprechend den zutreffenden
landgerichtlichen Ausführungen der Beklagten nicht in Betracht.
Anders verhält es sich hingegen mit der ebenfalls unzulänglichen Abklärung der
Verdachtsdiagnose einer Durchtrennung der langen Daumenbeugesehnen des rechten
Daumens. Hierzu hat der Sachverständige mit überzeugender und nachvollziehbarer
Begründung dargelegt, zwar ergebe sich aus einem Vermerk in der Ambulanzkarte, daß
kein Anhalt für eine Sehnenverletzung bestehe, weil Beugung gegen Widerstand gut
möglich gewesen sei und Durchblutung und Sensibilität erhalten seien. In der Akte sei
jedoch nicht vermerkt, auf welche Weise die Überprüfung von Durchblutung und
Sensibilität erfolgt ist. Es sei nicht bekannt, ob eine Zwei-Punkte-Diskriminationsprüfung
durchgeführt worden sei, und es sei weiter nicht bekannt, in welchen Gelenken des
Daumens die attestierte "aktive Bewegung gegen Widerstand" möglich gewesen sei.
Tatsächlich sei eine Prüfung der aktiven Beweglichkeit in den Daumengelenken,
sowohl im Grundgelenk als auch im Endgelenk erforderlich gewesen, um beim Verdacht
auf eine Sehnenverletzung unterscheiden zu können, welche Beugesehne
möglicherweise verletzt sei.
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Daß dergestalt eine Beugefähigkeit im Endgelenk des Daumens geprüft worden ist, ist
der Dokumentation der Beklagten, worauf auch der Sachverständige ausdrücklich
hingewiesen hat, nicht zu entnehmen. Eine dahingehende diagnostische Maßnahme
wäre jedoch dokumentationspflichtig gewesen, denn zu dokumentieren sind die
wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen
(Diagnoseuntersuchungen, Funktionsbefunde, ferner Medikationen (siehe die
Rechtsprechungsnachweise bei Steffen/Dressler Arzthaftungsrecht, Neue
Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung, 7. Aufl., Randziffer 458)). Daß die von
dem Sachverständigen für erforderlich erachtete mehrpunktige Prüfung der
Daumensehnenfunktion vor diesem Hintergrund dokumentationspflichtig gewesen wäre,
liegt auf der Hand. Da eine dahingehende Maßnahme nicht dokumentiert ist, ist davon
auszugehen, daß sie auch nicht durchgeführt worden ist. Nach den Ausführungen des
Sachverständigen ist aber davon auszugehen, daß eine Durchführung dieser
diagnostischen Maßnahme einen positiven Befund ergeben hätte, denn der
Sachverständige hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß bei dem von ihm als
Behandlungsstandard beschriebenen diagnostischen Vorgehen beide möglichen
Verletzungen, also nicht nur die Fingernervendurchtrennung sondern auch eine
Durchtrennung der langen Beugesehne mit großer Sicherheit erkannt worden wären.
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Bei rechtzeitigem Erkennen einer Durchtrennung der langen Beugesehne wären der
Klägerin auch die hieraus resultierenden Schadensfolgen erspart geblieben. Der
Sachverständige hat nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, daß bei primärer Naht
der Daumenbeugesehne die später notwendige Kürzung der Sehnenenden nicht
notwendig gewesen wäre. Hieran anknüpfend hat er folgerichtig ausgeführt, daß dann
bei günstigem Heilungsverlauf die festgestellte Handspannenverminderung der rechten
Hand um 5 cm und die Einschränkung der Daumenstreckung im Grund- und Endgelenk
sowie die Gesamtbeweglichkeit im Daumensattelgelenk voraussichtlich im nur deutlich
geringerem Maße aufgetreten wären. Es überzeugt deshalb in jeder Hinsicht, wenn der
Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt ist, daß die mittelgradige
Bewegungseinschränkung des Daumens und die verminderte Handspanne Folgen der
Fehldiagnostik des Beklagten zu 2) sind, woraus sich die Haftung der Beklagten für die
dahingehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin ergibt. In diesem
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Zusammenhang ist, was sich auch bereits aus den vorstehenden Ausführungen ergibt,
darauf hinzuweisen, daß eine Haftung der Beklagten nur hinsichtlich der Folgen des
Nichterkennens einer Durchtrennung der langen Daumenbeugesehne besteht nicht
auch hinsichtlich des Nichterkennens der Durchtrennung der Fingernerven des
Daumens.
In diesem Umfang, also was mögliche weitere Folgen der Verkürzung der
Daumenbeugesehne und der hierauf beruhenden mittelgradigen
Bewegungseinschränkung des Daumens und der verminderten Handspanne anbetrifft,
war auch dem Feststellungsbegehren der Klägerin stattzugeben. Die Klägerin hat
insoweit ein Feststellungsinteresse. Zwar hat der Sachverständige weitere
Nachoperationen derzeit als nicht erforderlich bzw. sinnvoll erachtet. Es ist jedoch nicht
zu verkennen, daß gleichwohl das Erfordernis späterer Operationen nicht gänzlich
auszuschließen ist und ferner die theoretische Möglichkeit besteht, daß sich aus den
vorgenannten Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit des rechten Daumens in
Zukunft weiterer Behandlungsbedarf oder sonstige nachteilige Auswirkungen dieser
körperlichen Beeinträchtigung ergeben. Diese zu bejahende und jedenfalls nicht ganz
fernliegende Möglichkeit begründet bereits ein Feststellungsinteresse der
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Klägerin, weil theoretisch Zukunftsschäden möglich und vorstellbar sind. Dies gilt auch,
soweit die Klägerin auf die Möglichkeit einer späteren Arthrose im beeinträchtigten
Gelenk hingewiesen hat. Daß solche Zukunftsschäden mit Sicherheit zu erwarten sind,
ist im Rahmen eines Feststellungsbegehrens nicht erforderlich. Insoweit hat demzufolge
die Berufung der Klägerin Erfolg.
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Entsprechendes gilt hinsichtlich des Betrages für das vorprozessual eingeholte
Privatgutachten. Die Einholung dieses Gutachtens diente in sachdienlicher Weise der
Vorbereitung der Klage der Klägerin, die als medizinischer Laie gehalten war, sich mit
medizinisch fachkundiger Hilfe sachkundig zu machen. Die entsprechenden Kosten
halten sich auch in einem angemessenen Rahmen. Zwar hat unstreitig der
Rechtsschutzversicherer der Klägerin diese Kosten bereits vorprozessual erstattet.
Nach Übergang des entsprechenden Erstattungsanspruches auf den
Rechtsschutzversicherer vertritt die Klägerin mit Recht die Ansicht, daß eine
Rechtschutzgewährung für eine Klage, mit der auch der vom Versicherer schon
erstattete Kostenbetrag für ein Privatgutachten geltend gemacht wird, als konkludente
Einverständniserklärung mit der prozessualen Geltendmachung durch den
Versicherungsnehmer zu werten ist. Außerdem hat die Klägerin eine entsprechende
Abtretungserklärung des Rechtsschutzversicherers vorgelegt, so daß der Klage bzw.
Berufung auch hinsichtlich des entsprechenden Betrages in Höhe von 325,20 DM nebst
Rechtshängigkeitszinsen stattzugeben war.
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Die Berufung der Klägerin hatte mithin in vollem Umfang Erfolg.
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Demgegenüber war die Anschlußberufung der Beklagten zurückzuweisen. Der vom
Landgericht zuerkannte Schmerzensgeldbetrag von 5.000,00 DM ist im Ergebnis
sachlich angemessen. Zwar ist den Beklagten zuzugeben, daß die landgerichtlichen
Ausführungen zur Schmerzensgeldbemessung nicht eindeutig erkennen lassen, ob das
Landgericht sich bei seinen dahingehenden Überlegungen ausschließlich von den
Folgen der verspäteten Operation der durchtrennten Beugesehne hat leiten lassen.
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Ausweislich des Gutachtens des erstinstanzlichen Sachverständigen hat dieser zur
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Haftung der Beklagten führende Fehler eine mittelgradige Bewegungseinschränkung
des Daumens sowie eine verminderte Handspanne als Dauerschaden ausgelöst. Die
den Beklagten demgegenüber nicht anzulastende Verminderung des Tastgefühls im
rechten Daumen ist demgegenüber von verschwindend geringer Bedeutung.
Angesichts einer permanenten Verminderung der Handspanne sowie einer
Bewegungseinschränkung des Daumens im Grund- und Endgelenk sowie einer
Bewegungseinschränkung im Daumensattelgelenk ist schon von einer nennenswerten
Beeinträchtigung der Greiffunktion der rechten Hand auszugehen. Zusätzlich ist auch
die von der Klägerin geklagte und vom Sachverständigen nicht als unglaubhaft
bezeichnete Schmerzsymptomatik zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund dieser
Beschwerdesymptomatik und angesichts des Alters der Klägerin, die demzufolge noch
über einen längeren Lebenszeitraum mit dieser Behinderung leben muß, erscheint das
zuerkannte Schmerzensgeld auch unter Außerachtlassung einer Beeinträchtigung des
Tastempfindens aufgrund der den Beklagten nicht anzulastenden Folgen der
Nervdurchtrennung angemessen. Die Anschlußberufung der Beklagten war deshalb
zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 91 ZPO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 713
ZPO.
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Berufungsstreitwert und Wert der Beschwer der Beklagten:
25
10.325,20 DM
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