Urteil des OLG Köln vom 19.06.1996

OLG Köln (kläger, untersuchung, netzhautablösung, mutter, grauer star, höhe, 1995, geistige behinderung, operation, gutachten)

Oberlandesgericht Köln, 5 U 251/95
Datum:
19.06.1996
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 251/95
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 12 O 230/94
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 21.11.1995 verkündete Urteil
der 12. Zivilkammer des Landgerichts A- 12 O 230/94 - wird
zurückgewiesen. Die Beklagten haben die Kosten des
Berufungsverfahrens zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die
Beklagten können die Vollstreckung durch den Kläger gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 130.000,- DM abwenden, wenn nicht
der Kläger vor der Vollstreckung in dieser Höhe Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 22.11.1955 geborene Kläger ist seit seiner Geburt geistig behindert. Darüber
hinaus ist er seit seiner Geburt auf dem rechten Auge schwachsichtig. Der Kläger kann
nicht sprechen, ist aber in der Lage zu lesen und zu schreiben. Er wird gesetzlich
vertreten durch seine Mutter, welche nach dem Tod seines Vaters - der den Kläger bis
dahin gesetzlich vertreten hatte- im Juli 1993 zu seiner Betreuerin bestellt worden ist.
Seit 1970 war der Kläger über zwanzig Jahre lang in der Werkstatt des Caritas-
Behindertenwerkes in A. im feinmechanischen Bereich (u.a. Produktion von Mikrochips)
tätig gewesen.
2
Anfang des Jahres 1990 stellten sowohl die Mitarbeiter des Behindertenwerkes als auch
die Eltern des Klägers fest, daß dieser sich ständig mit den Händen auf die Augen
schlug, an den Augenlidern zog und anfing, nach Gegenständen zu tasten. Daraufhin
suchte die Mutter des Klägers, die vermutete, daß bei dem Kläger eine
Sehverschlechterung eingetreten sei, am 13.3.1990 mit dem Kläger den Beklagten zu
1), einen niedergelassenen Augenarzt, auf. Der Beklagte zu 1) stellte bei dem Kläger
unter anderem eine Verdickung des Oberlides fest und nahm eine Spiegelung des
Augenhintergrundes "in Miosis" (d.h. bei normal geöffneter Pupille) vor. Eine
Visusbestimmung wie auch eine Augenhintergrunduntersuchung bei geweiteter Pupille
("in Mydriasis") erfolgten nicht. Der Beklagte zu 1) diagnostizierte eine
Bindehautentzündung und verschrieb dem Kläger hiergegen Augentropfen.
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Nachdem sich die Beschwerden des Klägers nicht besserten, suchte die Mutter des
Klägers mit diesem am 14.8.1990 erneut die Praxis des Beklagten zu 1) auf, in welcher
an diesem Tag die Beklagte zu 2) als dessen Vertretung tätig war. Die Beklagte zu 2)
führte eine Visuskontrolle bei dem Kläger durch und notierte in der Karteikarte:
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"Visusverschlechterung". Auf dem linken Auge betrug der Visus nach ihren
Eintragungen 0,2, während eine Visusbestimmung bezüglich des rechten Auges nicht
möglich war. Der Augenhintergrund des Klägers wurde von ihr wiederum "in Miosis"
untersucht, wobei sich, wie bei der ersten Untersuchung durch den Beklagten zu 1) am
13.3.1990, keine Auffälligkeiten des Augenhintergrundes ergaben. Die Beklagte zu 2)
verschrieb dem Kläger erneut Augentropfen. Am 7.9.1990 stellte die Mutter des Klägers
diesen wiederum bei dem Beklagten zu 1) vor. Dieser stellte eine Rötung von Lidern
und Haut fest und verordnete eine Salbe.
Während eines Aufenthaltes in Süddeutschland im September 1990 äußerte der Kläger
Schmerzenslaute, wobei er auf seine Augen wies. Daraufhin stellte ihn seine Mutter am
24.9.1990 in der Ambulanz der Augenklinik der Universität M. vor, wo sie von einem
Visusabfall bei ihrem Sohn seit ca. sechs Wochen sowie von einer erhöhten
Blendungsempfindlichkeit berichtete. Der Visus des linken Auges des Klägers wurde in
der Augenklinik auf 0,1 bestimmt und eine Netzhautablösung des linken Auges
festgestellt. Bezüglich des rechten Auges wurde ein angeborener grauer Star sowie der
Verdacht auf Amblyopie diagnostiziert und der Kläger zur Operation an das Klinikum in
An verwiesen. Dort wurde er am 28.9. 1990 wegen einer Netzhautablösung an beiden
Augen operiert, wobei es gelang, die Netzhaut wieder anzulegen. Die Sehkraft des
linken Auges konnte allerdings nicht verbessert werden. Bei späteren Kontrollen durch
die Augenärztin Dr. R. im November 1990 und Februar 1991 betrug der Visus mit
Korrektur auf dem linken Auge 0,1, während der Visus - mit Korrektur- auf dem rechten
Auge mit 0,16 gemessen wurde. Dies bedeutet einen Zustand fast vollständiger
Blindheit. Seine Tätigkeit in der Behindertenwerkstätte mußte der Kläger aufgeben.
Auch bei einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens ist er auf fremde Hilfe
angewiesen.
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Mit der vor dem Landgericht An- 12. Zivilkammer- erhobenen Klage nimmt der Kläger
die Beklagten als Gesamtschuldner auf Zahlung von Schmerzensgeld sowie einer
Pflegerente in Anspruch.
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Er hat, gestützt auf Gutachten der von ihm angerufenen Gutachterkommission der
Ärztekammer Nordrhein, den Beklagten den fast vollständigen Verlust seines linken
Augenlichts angelastet und ihnen vorgeworfen, die bei den jeweils von ihnen
durchgeführten Untersuchungen gebotenen Befunde, insbesondere eine
Augenhintergrunduntersuchung bei geweiteten Pupillen, sorgfaltswidrig nicht erhoben
bzw. nicht veranlaßt zu haben. Die Netzhautablösung habe sich bei ihm in einem
langsamen Prozeß vollzogen. Bei ihrer rechtzeitigen Erkennung hätte, so hat der Kläger
behauptet, die Sehverschlechterung des linken Auges zumindest teilweise aufgehalten
werden können.
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Seinen täglichen- fast ausnahmslos durch seine Mutter erbrachten- Pflegemehraufwand
hat der Kläger mit einer Stunde zu 15,- DM pro Tag angegeben.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
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1. an ihn ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt
wird, jedoch etwa 50.000,- DM betragen sollte, nebst 4 % Zinsen seit dem 5.8.1994
zu zahlen;
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2. an ihn rückständiges Pflegegeld für die Zeit vom 1.1.1991 bis 31.5.1994 in Höhe
von monatlich 450,- DM , also 18.450,- DM nebst 4% Zinsen seit dem 5.8.1994 zu
zahlen und
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3. an ihn eine Pflegerente in Höhe von 450,- DM monatlich, beginnend mit dem 1.6.
1994, zu zahlen.
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Die Beklagten haben beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie haben behauptet, daß es bis zur dritten Untersuchung des Klägers am 7.9.1990
keinerlei Hinweise auf eine Netzhautablösung gegeben habe. Tatsächlich habe diese
auch erst später eingesetzt, möglicherweise nach einer Selbstverletzung des Klägers.
Die Mutter des Klägers habe bei der Untersuchung am 13.3.1990 nicht den Verdacht
geäußert, daß der Kläger schlechter sehen könne als früher. Im übrigen sei dem Kläger
durch eine etwaig verspätete Diagnose kein weitergehender Schaden entstanden.
Schließlich sei die Sehkraft des linken Auges bereits am 13.3.1990 stark herabgesetzt
gewesen.
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Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens
des Sachverständigen Dr. med. B., welches dieser unter dem 9.5.1995 erstattet hat.
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Mit seinem am 21.11.1995 verkündeten Urteil hat das Landgericht, gestützt auf dieses
Gutachten, der Klage stattgegeben, wobei es dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe
von 75.000,- DM zugesprochen hat. Dabei hat sich das Landgericht auf den Standpunkt
gestellt, daß den Beklagten wegen des Unterlassens einer
Augenhintergrunduntersuchung "in Mydriasis" der Vorwurf eines
behandlungsfehlerhaften Verhaltens zur Last zu legen sei. Die verbleibenden Zweifel im
Hinblick darauf, ob die nahezu vollständige Erblindung des linken Auges bei
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rechtzeitiger Diagnose zu verhindern gewesen wäre, gingen zu Lasten der Beklagten,
da dem Kläger Beweiserleichterungen zugute kämen. Wegen aller weiteren
Einzelheiten wird auf das landgerichtliche Urteil verwiesen.
Gegen dieses ihnen 24.11.1995 zugestellte Urteil haben die Beklagten am 27.12.1995
Berufung eingelegt und ihr Rechtsmittel mit einem am 27.2.1996 beim
Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem die
Berufungsbegründungsfrist auf ihren rechtzeitig gestellten Antrag hin bis zu diesem Tag
verlängert worden war.
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Die Beklagten halten die Voraussetzungen für Beweiserleichterungen zugunsten des
Klägers für nicht gegeben und bestreiten weiterhin- ihr erstinstanzliches Vorbringen
vertiefend- , daß ihnen ein Diagnosefehler unterlaufen sei. Für eine Spiegelung des
Augenhintergrundes bei geweiteter Pupille habe zu keinem Zeitpunkt Veranlassung
bestanden, und zwar auch nicht, nachdem die Beklagte zu 2) am 14.8.1990 eine
Visusprüfung vorgenommen hatte. Da keine Vergleichswerte vorlagen, sei es der
Beklagten zu 2) nicht möglich gewesen, die von ihr erhobenen Befunde als
Sehverschlechterung zu werten. Im Hinblick darauf, daß auch in der Universitäts-
Augenklinik in M. noch am 24.9.1990 keine Netzhautablösung auf dem rechten Auge
festgestellt worden sei, erscheine es auch unwahrscheinlich , daß im August oder gar
Januar 1990 eine Netzhautablösung an einem der beiden Augen vorgelegen haben
könnte.
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Außerdem bestreiten die Beklagten das zuerkannte Schmerzensgeld der Höhe nach.
Die Netzhautablösung auf dem rechten Auge könne ihnen nicht angelastet werden. Im
übrigen müsse sich der Kläger ein Mitverschulden seiner Mutter zurechnen lassen, die
trotz fortbestehender Beschwerden mit der Wiedervorstellung des Klägers ca. fünf
Monate zugewartet habe. Darüber hinaus lägen aktuelle Erkenntnisse über das aktuelle
Sehvermögen des Klägers nicht vor, so daß es an Grundlagen für die Bemessung fehle.
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Die Beklagten beantragen,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils
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die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er tritt der Berufung entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.
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Wegen aller weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien
gewechselten Schriftsätze und die Anlagen verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Berufung der Beklagten ist zulässig, insbesondere ist sie frist- und formgerecht
eingelegt und in der rechten Weise begründet worden. In der Sache ist das Rechtsmittel
jedoch nicht gerechtfertigt.
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Das Landgericht hat die Beklagten zu Recht gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines
Schmerzensgeldes von 75.000,- DM und zur Zahlung einer monatlichen Rente von
450,- DM wegen des mit der fast vollständigen Erblindung des Klägers auf dem linken
Auge verbundenen Pflegemehraufwandes gemäß den §§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S.2 ,
847 BGB verurteilt. Der Beklagte zu 1) hat für den materiellen Schaden des Klägers
darüber hinaus wegen sog. positiver Vertragsverletzung aufzukommen, wobei er sich
das Verschulden der Beklagten zu 2) gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muß.
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Die Beklagten haben dem Kläger für die nahezu vollständige Erblindung seines linken
Auges und die hierdurch bedingte erhöhte Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit
einzustehen. Zwar ist nicht erwiesen, daß eine - periphere- Netzhautablösung auf dem
linken Auge bereits vorlag, als der Beklagte zu 1) am 13.3.1990 und 7.9.1990 bzw. die
Beklagte zu 2) den Kläger am 14.8.1990 untersuchte. Ebensowenig ist erwiesen, daß
eine frühere Operation das Sehvermögen des Klägers auf dem linken Auge erhalten
oder nachhaltig verbessert hätte. Die insoweit verbleibenden Zweifel gehen jedoch zu
Lasten der Beklagten, weil dem Kläger wegen der Nichterhebung elementarer
Kontrollbefunde durch die Beklagten Beweiserleichterungen zugute kommen.
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I.
49
Die Beklagten haben es schuldhaft unterlassen, bei den jeweils von ihnen
durchgeführten Untersuchungen eine Augenhintergrunduntersuchung "in Mydriasis",
also bei geweiteter Pupille, vorzunehmen.
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Aufgrund des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. B. vom 17.5.1995 -
welches mit dem auf das Gutachten von Prof. Dr. H. vom 21.10.1992 gestützten
Bescheid der Gutachterkommission vom 24.6.1993 und deren Entscheidung vom
28.1.1994 übereinstimmt-, steht auch zur Überzeugung des Senats fest, daß bei allen
drei Untersuchungsterminen eine Untersuchung des Augenhintergrundes des Klägers
bei geweiteter Pupille unerläßlich gewesen wäre.
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Dahinstehen kann, ob die Mutter des Klägers dem Beklagten zu 1) bei der ersten
Vorstellung am 13.3.1990 von ihrem aus dem Verhalten des Klägers geschöpften
Verdacht einer Sehverschlechterung berichtet hat oder nicht. Das jedenfalls unstreitig
von ihr beschriebene sog. Oculo- Digitale Phänomen war bei dem geistig behinderten
Kläger ein Anzeichen dafür, daß bei ihm eine Sehverschlechterung eingetreten sein
könne, wie sowohl der Sachverständige Dr. B. als auch der von der
Gutachterkommission beauftragte Prof. H. einleuchtend dargelegt haben. Die hier für
den Kläger seit Angang des Jahres 1990 beschriebenen auto- aggressiven
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Manipulationen treten, wie Prof. Dr. H. in seiner Stellungnahme vom 21.10.1992 dazu
näher ausgeführt hat, unter geistig behinderten Patienten erfahrungsgemäß häufig bei
Sehverschlechterungen auf, so daß die diesbezüglichen Angaben der Mutter des
Klägers den Verdacht auf eine Erkrankung des Augenhintergrundes hätten lenken
müssen. Eine vollständige Untersuchung des Klägers hätte deshalb, so hat es Dr. B. in
seinem Gutachten überzeugend in Übereinstimmung mit den in der Entscheidung der
Gutachterkommission vom 28.1.1994 enthaltenen Ausführungen verlangt, am 13.3.1990
zunächst eine Visusüberprüfung durch den Beklagten zu 1) notwendig gemacht. Eine
solche Untersuchung wäre auch, wie die Tatsache zeigt, daß sie von der Beklagten zu
2) am 14.8.1990 durchgeführt werden konnte, trotz der geistigen Behinderung des
Klägers möglich gewesen; denn dieser konnte das, was er zu sehen in der Lage war,
verständlich machen, indem er die betreffenden Zahlen aufschrieb. Unabhängig von
den von ihm bestrittenen Angaben der Mutter des Klägers hätte der Beklagte zu 1) durch
eigene Befunderhebung am 13.3.1990 demnach eine Sehverschlechterung bei dem
Kläger feststellen können, der- wie seine Tätigkeiten in der Behindertenwerkstatt
deutlich machen- bis Anfang des Jahres 1990 jedenfalls auf dem linken Auge ein
annähernd komplettes Sehvermögen gehabt haben muß. Der Sachverständige Dr. B.
hat einleuchtend darauf hingewiesen, daß feinmechanische Arbeiten, wie sie von dem
Kläger ausgeführt worden waren, hohe Anforderungen an das Sehvermögen stellen.
Darüber hinaus hätte bereits am 13.3.1990 , auch das steht nach den
übereinstimmenden sachverständigen Darlegungen von Dr. B. und Prof. Dr. H.
zweifelsfrei fest, die Notwendigkeit einer Untersuchung des Augenhintergrundes "in
Mydriasis" bestanden. Nur diese Untersuchungsmethode war geeignet, Aufschluß
darüber zu geben, ob eine Augenhintergrunderkrankung, z.B. in Form einer
beginnenden peripheren Netzhautablösung, vorlag, wie sie bei einer unklaren
Sehverschlechterung notwendig in Betracht gezogen werden muß. Die von dem
Beklagten zu 1) bei normal geweiteten Pupillen vorgenommene Spiegelung des
Augenhintergrundes war ungeeignet, da mit ihrer Hilfe lediglich Erkenntnisse bezüglich
einer zentralen Netzhautablösung zu gewinnen gewesen wären. Die Ablösung der
Netzhaut in ihrem Zentrum führt indes, wie der Sachverständige Dr.B. ausgeführt hat, zu
drastischen Visusreduktionen, die, so sind seine Darlegungen zu verstehen, sich auch
durch entsprechende anderweitige Ausfälle - von denen hier nichts bekannt ist-
bemerkbar gemacht hätten. Mit der Diagnose einer Bindehautentzündung, bei der nach
Sachlage damit zu rechnen war, daß es sich hierbei nur um ein sekundäres
Beschwerdebild handeln konnte, durfte sich der Beklagte zu 1) am 13.3.1990 nicht
zufrieden geben.
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Dies gilt erst recht für die Beklagte zu 2), nachdem diese am 14.8.1990 ausweislich der
Eintragung in der Karteikarte des Klägers eine Visusprüfung vorgenommen und eine
Visusverschlechterung notiert hatte. Im Hinblick auf diese Eintragung ist die mit der
Berufungsbegründung der Beklagten vorgetragene Behauptung, auch am 14.8.1990
habe es noch keine Hinweise auf eine Sehverschlechterung gegeben, nicht
nachvollziehbar.
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Die diesbezügliche Eintragung hätte wiederum für den Beklagten zu 1) bei der erneuten
Vorstellung des Klägers am 7.9.1990 selbst bei vermeintlich geringfügiger Besserung
der Symptome eindeutig Anlaß für eine Augenhintergrunduntersuchung sein müssen,
welche jedoch erneut unterblieb.
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Das Unterlassen dieser jeweils zweifelsfrei gebotenen Befunderhebungen gereicht
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beiden Beklagten zum Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens.
II.)
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Infolge der Netzhautablösung ist bei dem Kläger eine nahezu vollständige Erblindung
des linken Auges eingetreten. Dies wird von den Beklagten auch mit ihrem
Berufungsvorbringen nicht wirksam bestritten. Angesichts der bei der Untersuchung des
Klägers durch den Sachverständigen Dr. B. am 6.3.1995 erhobenen Befunde, wonach
auf dem linken Auge eine Sehschärfe von 0,05 verblieben ist, bedarf es keiner
neuerlichen Untersuchung des Klägers. Eine Verbesserung erscheint auch gänzlich
unwahrscheinlich. Eher deutet der Verlauf auf eine weitere Verschlechterung hin, wenn
man den Befund des Sachverständigen mit den Ergebnissen der Untersuchungen durch
die Augenärztin Dr. R. im November 1990 und Februar 1991 vergleicht, bei denen die
Visusprüfung links noch eine Sehkraft von 0,1 ergeben hatte. Anderweitige Ursachen
als die Netzhautablösung für diese durch die Operation offenbar nicht mehr aufzuhalten
gewesene Sehkrafteinbuße sind nicht ersichtlich.
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Ob bei den drei Untersuchungen durch die Beklagten allerdings mit Hilfe der
Untersuchungsmethode "in Mydriasis" eine beginnende Netzhautablösung festgestellt
worden wäre und zu welchem Grad das Augenlicht des Klägers links erhalten geblieben
bzw. teilweise wiederhergestellt worden wäre, läßt sich nicht sicher feststellen. Insoweit
haben sich sowohl der Sachverständige Dr. B. in seinem schriftlichen Gutachten vom
9.5.1995 als auch schon der von der Gutachterkommission beauftragte Prof. Dr. H.
zurückhaltend geäußert, einen solchen Kausalverlauf freilich auch keineswegs als
ausgeschlossen bezeichnet.
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Die hiermit verbundenen Unwägbarkeiten gehen, wie das Landgericht zutreffend
erkannt hat, zu Lasten der Beklagten. Dem Kläger kommen vorliegend
Beweiserleichterungen zugute, welche die verbleibenden Zweifel einmal hinsichtlich
der Kausalität wie auch hinsichtlich der Heilungsprognose zum Schweigen bringen.
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Nach den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes entwickelten Grundsätzen,
welchen sich der Senat anschließt, führt die unterlassene Erhebung und Sicherung von
medizinisch zweifelsfrei gebotenen Befunden zugunsten des Patienten zu
Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr, wenn dadurch die Aufklärung
eines immerhin wahrscheinlichen Ursachenzusammenhanges zwischen ärztlichem
Fehlverhalten und einem eingetretenen Gesundheitsschaden erschwert oder sogar
vereitelt wird und die Befunderhebung gerade wegen des erhöhten Risikos des in Frage
stehenden Verlaufs geschuldet war (vgl. dazu BGH NJW 1987, 1482, 1483; NJW 1988,
1513,1514; NJW 1989, 2332).
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt:
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Wie sich aus allen bei den Akten befindlichen sachverständigen Stellungnahmen ergibt,
war die Untersuchung des Augenhintergrundes "in Mydriasis" bei dem Kläger bereits
am 13.3. 1990 als unerläßlich geboten. Noch viel mehr gilt dies für die Untersuchungen
am 14.8. und 7.9.1990, nachdem eine Visusverschlechterung positiv festgestellt war.
Weshalb die erforderliche Untersuchung des Augenhintergrundes "in Mydriasis"
unterblieb, ist gänzlich uneinsichtig. Sollten die Beklagten im Hinblick auf die geistige
Behinderung des Klägers unüberwindliche Schwierigkeiten befürchtet haben, hätten sie
daran denken müssen, den Kläger zwecks Durchführung dieser Untersuchung in eine
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Augenklinik einzuweisen.
Nach Auffassung des Senats liegen auch genügend Anhaltspunkte dafür vor, daß eine
beginnende periphere Netzhautablösung schon am 13.3.1990 , erst recht aber am
14.8.1990 und 7.9.1990 bei einer ordnungsgemäßen Augenhintergrunduntersuchung
erkennbar gewesen wäre. Hierfür spricht, daß einerseits zuvor, bis etwa Anfang 1990,
bei dem Kläger Sehkrafteinbußen linksseitig oder dem nunmehr aufgetretenen Oculo-
Digitale- Phänomen vergleichbare Hinweise hierauf nicht aufgefallen waren und eine im
Jahre 1988 bei der Augenärztin Dr. R. durchgeführte Untersuchung des
Augenhintergrundes bei geweiteter Pupille auch noch ohne Befund gewesen war.
Andererseits sind der bei der Operation in An festgestellte Oralriß wie auch die
proliferative Vitreoretinopathie (PVR) nach den überzeugenden Ausführungen des
Sachverständigen Dr. B. Zeichen eines längerdauernden fortschreitenden Prozesses ,
welcher sich durchaus über Monate hingezogen haben kann. Hierauf mag auch
hindeuten, daß sich der Visus des Klägers auf dem linken Auge in der Zeit zwischen
den Untersuchungen durch die Beklagte zu 2) am 14.8.1990 und durch die M.
Universitäts- Augenklinik am 24.9.1990 von 0,2 auf 0,1 verschlechterte. Demgegenüber
fällt der Umstand, daß bei der letztgenannten Untersuchung eine Netzhautablösung am
rechten Auge nicht dokumentiert und wohl auch nicht diagnostiziert wurde, nicht ins
Gewicht. Zum einen lassen sich aus der Entwicklung am rechten Augenhintergrund
keine zwingenden Schlüsse auf den Zustand der Netzhaut des linken Auges ziehen;
daß der Krankheitsverlauf insoweit nicht parallel verlaufen sein muß, deutet sich aus der
Tatsache an, daß der bereits erwähnte Orariß und die proliferativen Vernarbungen nur
an dem linken Auge festgestellt wurden, worin ein Hinweis dafür liegt, daß dort der
Ablösungsprozeß länger dauerte und also auch früher eingesetzt hatte. Zum anderen
kann es angesichts der am rechten Auge des Klägers bei der Untersuchung in M.
vorgefundenen Eintrübung - der Einblick wurde als Folge des grauen Stars als reduziert
bezeichnet - auch so gewesen sein, daß der Augenhintergrund rechts nicht sicher zu
beurteilen war.
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Die von den Beklagten behauptete Selbstverletzung nach dem 7.9.1990 erscheint
demgegenüber äußerst unwahrscheinlich, zumal eine solche Verletzung auch wohl
deutliche Spuren am äußeren Teil des Auges hinterlassen hätte, wovon niemand
berichtet hat.
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Was die Chancen angeht, durch eine frühzeitigere Operation das Sehvermögen des
Klägers auf dem linken Auge zu verbessern, haben sich der Sachverständige Dr. B. wie
auch Prof. Dr. H. noch zurückhaltender als zur Frage des Beginns der Krankheit
geäußert, wobei die äußerst vorsichtige Einschätzung von Prof. H. allerdings auf den
Fall bezogen war, daß der Kläger unter günstigeren Umständen nach der Untersuchung
durch die Beklagte zu 2) im August 1990 hätte operiert werden können. Angesichts der
Tatsache, daß diese Zweifel gerade durch das Diagnoseversäumnis der Beklagten zu
2) mitverursacht sind, kann dies der Beklagten zu 2) indes nicht weiterhelfen, wie sich
aus § 830 Abs. 1 S. 2 BGB ergibt.
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Es erscheint dem Senat durchaus denkbar, daß die Heilungschancen des Klägers bei
einer alsbald nach dem 13.3.1990, also frühzeitig, durchgeführten Operation noch
erheblich besser gewesen wären. Dies läßt sich indes im Nachhinein nicht mehr
aufklären, da es an Befunden fehlt, auf die sich eine Prognose stützen ließe. Da diese
Unwägbarkeiten gerade auf den vorwerfbaren elementaren Befundungsversäumnissen
der Beklagten beruhen, muß auch und erst recht hierfür gelten, daß die Beklagten die
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beweisrechtlichen Nachteile zu tragen haben.
Ein Mitverschulden seiner Eltern- die Mutter war im fraglichen Zeitraum im übrigen noch
nicht gesetzliche Vertreterin des Klägers- muß sich der Kläger nicht anrechnen lassen.
Die Tatsache, daß die Mutter trotz fortbestehender Beschwerden des Klägers ca. fünf
Monate bis zu der zweiten Konsultation verstreichen ließ, kann nicht losgelöst davon
gesehen werden, daß die von dem Beklagten zu 1) am 13.3.1990 gestellte Diagnose
einer Bindehautentzündung den Eindruck vermitteln konnte, der Kläger habe nichts
Besorgniserregendes. Daß er auf die Notwendigkeit der Wiedervorstellung für den Fall
hingewiesen habe, daß die Beschwerden eine bestimmte Zeit überdauerten, trägt der
Beklagte zu 1) nicht vor. Zudem sind von dem Kläger unwidersprochen Gründe
vorgetragen -Sorge um den Vater des Klägers wegen dessen schwerer Erkrankung-, bei
denen eine möglicherweise verhältnismäßig harmlos erscheinende
Bindehautentzündung durchaus für mehrere Monate aus dem Blickfeld geraten kann.
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Schließlich ist auch nicht ersichtlich, daß der Beklagte zu 1), wenn der Kläger
tatsächlich früher wieder vorgestellt worden wäre, nun diagnostisch richtig vorgegangen
wäre; im Gegenteil: Noch am 14.8.1990 und am 7.9.1990 wurden die notwendigen
Befunderhebungen nicht veranlaßt, und dies, obwohl nun eine Visusverschlechterung
ausdrücklich notiert war.
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III.)
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Die Höhe des Schmerzensgeldes hat das Landgericht in Ausübung des ihm hierfür
gemäß § 287 ZPO eingeräumten Ermessens angemessen geschätzt. Für den nahezu
vollständigen Verlust der Sehkraft eines Auges erscheinen 75.000,- DM keineswegs
zuviel, zumal das linke Augenlicht des Klägers besonders kostbar war, da das rechte
Auge von Geburt an schwachsichtig war. Welchen Grad der Kläger an Sehschärfe noch
wiedererlangt hätte, wenn er rechtzeitig hätte operiert werden können, kann aus den
bereits ausgeführten Gründen nicht festgestellt werden und bedarf auch keiner Klärung.
Zumindest steht nicht fest, daß der Kläger in jedem Falle auf dem linken Auge nahezu
vollständig erblindet wäre.
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Gegenüber der maßvollen Rente, die auf einem Pflegemehrbedarf von einer Stunde pro
Tag basiert, haben die Beklagten keine spezifizierten Einwendungen erhoben, so daß
zu ihr hier auch nicht Stellung genommen zu werden braucht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidungen bezüglich der
vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Wert des Berufungsverfahrens und Beschwer der Beklagten: 120.450,- DM (wie
Senatsbeschluß vom 6.3.1996, Bl. 196 d. A.)
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