Urteil des OLG Köln vom 16.06.2000

OLG Köln: fahrverbot, innerorts, geschwindigkeitsüberschreitung, rüge, verwertungsverbot, nummer, höchstgeschwindigkeit, sanktion, geeignetheit, berechtigung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ss 241/00 B - 101 B -
16.06.2000
Oberlandesgericht Köln
1. Strafsenat
Beschluss
Ss 241/00 B - 101 B -
Das angefochtene Urteil wird unter Verwerfung der weitergehenden
Rechtsbeschwerde dahin abgeändert, dass das Fahrverbot entfällt. Die
Kosten der Verfahren vor dem Rechtsbeschwerdegericht werden der
Betroffenen auferlegt, jedoch wird die Gebühr um 1/2 ermäßigt. Die der
Betroffenen im Rechtsbeschwerdeverfahren entstanden notwendigen
Auslagen werden zu 1/2 der Staatskasse auferlegt; im übrigen hat die
Betroffene ihre Auslagen selbst zu tragen.
G r ü n d e
Durch Urteil vom 27.04.1999 hat das Amtsgericht die Betroffene wegen einer fahrlässigen
Zuwiderhandlung gegen die §§ 3 Abs. 3 Nr. 1, 49 Abs. 1 Nr. 3 StVO, 24, 25 StVG zu einer
Geldbuße von 150,00 DM verurteilt und ihr ein Fahrverbot von einem Monat auferlegt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen hat der Senat durch Beschluss vom 24.08.1999
das Urteil aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen, weil das Urteil
keine Gründe enthielt, obwohl die Voraussetzungen des § 77 b OWiG, unter denen von der
Fertigung der Urteilsgründe abgesehen werden kann, nicht gegeben waren; die
nachträglich erfolgte Anfertigung der Gründe hatte der Senat für unzulässig erachtet.
Durch Urteil vom 15.02.2000 hat das Amtsgericht die Betroffene erneut verurteilt; die
Urteilsformel lautet wie diejenige des Urteils vom 27.04.1999.
Nach den Feststellungen befuhr die Betroffene, die von Beruf (angestellte) Taxifahrerin ist,
am 13.04.1998 gegen 21.00 Uhr mit einem Taxi die B 55 innerhalb geschlossener Ortschaft
von F.-K. mit einer durch das Geschwindigkeitsmessgerät Typ T.-S ermittelten
Geschwindigkeit von 81 km/h (= 84 km/h abzüglich eines Toleranzwertes von 3 km/h),
obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h betrug.
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen mit der Rüge der Verletzung
formellen und materiellen Rechts.
Die Rechtsbeschwerde hat ein Teilerfolg.
Zum Schuldspruch ist das Rechtsmittel entsprechend dem Antrag der
Generalstaatsanwaltschaft als offensichtlich unbegründet zu verwerfen, weil die
Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung aufgrund der
Rechtsbeschwerdebegründung insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Betroffenen
ergeben hat (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i. V. m. § 349 Abs. 2 StPO).
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Insoweit ist - abweichend von der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft - lediglich
folgendes anzumerken:
Die Rüge, die im Urteil verwerteten Eichscheine seien nicht in die Hauptverhandlung
eingeführt worden, ist schon nicht zulässig erhoben (§ 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 344 Abs. 2
Satz 2 StPO), weil nicht behauptet worden ist, dass die Schriftstücke (auch) nicht nach § 78
Abs. 1 Satz 1 OWiG durch Bekanntgabe ihres wesentlichen Inhalts eingeführt worden sind.
Die Rüge, der Sachverständige H. habe "gleichzeitig ... als Zeuge zur Sache" bekundet,
ohne dass eine "Entscheidung über seine Vereidigung als Zeuge gefallen" sei, ist
ebenfalls nicht zulässig erhoben. Dem Rechtsbeschwerdevorbringen lässt sich nicht
entnehmen, zu welchen Tatsachen der Sachverständige als Zeuge gehört worden ist. Die
Bezugnahme auf die "Urteilsfeststellungen" ersetzt das notwendige Rügevorbringen schon
deshalb nicht, weil sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass der
Sachverständige über Tatsachen (nämlich Zusatztatsachen, vgl. BGH NStZ 1993, 245,
246) Auskunft gegeben hat, die nicht über das Sachverständigengutachten in die
Hauptverhandlung eingeführt werden durften.
Im Rechtsfolgenausspruch führt das Rechtsmittel auf die Sachrüge zum Wegfall des
angeordneten Fahrverbots.
Zur Rechtsfolgenseite heißt es im angefochtenen Urteil u. a.:
"Die Bußgeldkatalogverordnung sieht unter der laufenden Nummer 5.3.3 bei
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerorts von 31 km/h eine
Geldbuße von 200,00 DM vor. Das Gericht erachtet unter Berücksichtigung der
wirtschaftlich angespannten Situation der Betroffenen ein Bußgeld von 150,00 DM für tat-
und schuldangemessen.
Daneben war der Betroffenen gemäß § 25 StVG ein Fahrverbot von einem Monat
aufzuerlegen:
Sie hat die Geschwindigkeitsüberschreitung unter grober und beharrlicher Verletzung der
Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begannen... In beiden Fällen kommt in der Regel ein
Fahrverbot in Betracht. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts von 31 km/h
handelt es sich objektiv um einen groben Pflichtverstoß. In subjektiver Hinsicht hat die
Betroffene besonders verantwortungslos gehandelt... Dieser Verkehrsverstoß war zugleich
auch ein beharrlicher, nachdem der Betroffenen bereits dreimal wegen erheblicher
Geschwindigkeitsüberschreitungen innerhalb geschlossener Ortschaften Bußgelder
auferlegt worden waren. Die letzte Bußgeldentscheidung war erst 8 Monate zuvor
rechtskräftig geworden. Durch die zeitnahe Wiederholung gleichartiger Verkehrsverstöße
hat die Betroffene gezeigt, dass ihr die notwendige Einsicht in zuvor begannenes Unrecht
fehlt. .. Die zuvor verhängten Geldbußen und die Eintragungen in das
Verkehrszentralregister hat die Betroffene nicht als Warnung dienen lassen... ."
Die vom Amtsgericht erwähnte "letzte Bußgeldentscheidung" ist am 8.08.1997 rechtskräftig
geworden.
Danach hätte das Amtsgericht die angeführten Vorbelastungen bei seiner Entscheidung
nicht berücksichtigen dürfen. Die für Ordnungswidrigkeiten geltende zweijährige
Tilgungsfrist (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 StVG) beginnt mit dem Tag der Rechtskraft der
Bußgeldentscheidung (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG). Der maßgebliche Zeitpunkt für ein
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Verwertungsverbot wegen Tilgungsreife ist der Tag des Erlasses des letzten
tatrichterlichen Urteils (vgl. zu allem § 29 Abs. 8 StVG und Jagusch/Hentschel, StVR, 35.
Auflage, StVG § 29 Rnr. 12, 15 mit Nachweisen). Im Zeitpunkt der Verkündung des Urteils
vom 15.02.2000 war somit auch die am 8.08.1997 rechtskräftig gewordene "letzte
Bußgeldentscheidung" tilgungsreif, so dass hinsichtlich sämtlicher Vorbelastungen ein
Verwertungsverbot bestand (vgl. auch § 29 Abs. 6 StVG).
Die Anordnung des Fahrverbots beruht auf der rechtsfehlerhaften Verwertung der
Vorbelastungen. Das Amtsgericht hat das Fahrverbot auch - sogar gleichrangig - auf den
Gesichtspunkt der beharrlichen Pflichtverletzung (§ 2 Abs. 2 BKatV) gestützt.
Die rechtsfehlerhafte Verwertung der Vorbelastungen führt hier nicht zu einer
Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung über die
Rechtsfolgenseite. Vielmehr kann der Senat gemäß § 79 Abs. 6 OWiG insoweit selbst
befinden, wobei er wegen der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und der Entscheidung
über die Frage des Fahrverbots über den Rechtsfolgenausspruch insgesamt neu zu
entscheiden hat. Die dazu notwendigen Feststellungen lassen sich dem angefochtenen
Urteil entnehmen.
Für fahrlässige Geschwindigkeitsüberschreitungen zwischen 31 und 40 km/h innerorts ist
in §§ 1 Abs. 1 und 2, 2 Abs. 1 Nr. 1 BKatV in Verbindung mit laufender Nummer 5.3.3
Tabelle 1 a des BKat eine Regelbuße von 200,00 DM sowie ein Fahrverbot von einem
Monat vorgesehen.
Was die Geldbuße anbelangt, hält der Senat - wie das Amtsgericht - im Hinblick auf die
wirtschaftlich angespannte Situation der Betroffenen eine Reduzierung des Regelbetrages
auf 150,00 DM für angemessen.
Von der Anordnung eines Fahrverbots sieht der Senat ab.
Das Fahrverbot nach § 25 StVG hat nach der gesetzgeberischen Intention in erster Linie
eine Erziehungsfunktion. Es ist als Denkzettel - und Besinnungsmaßnahme gedacht und
ausgeformt (BVerfGE 27, 36, 42 = NJW 1969, 1623, 1624), als Sanktion bei groben und
beharrlichen Verstößen gegen § 24 StVG. Als solche kann es seinen Sinn verloren haben,
wenn zwischen dem Verkehrsverstoß und dem Wirksamwerden seiner Anordnung ein
erheblicher Zeitraum liegt und in der Zwischenzeit kein weiteres Fehlverhalten im
Straßenverkehr festgestellt worden ist (BayObLG NZV 1998, 82 am Ende = DAR 1997,
115; OLG Stuttgart zfs 1998, 194; Senatsentscheidung vom 6.08.1996 - Ss 346/96 B und
vom 21.12.1999 - Ss 583/99 B; vgl. auch Senatsentscheidung vom 16.12.1999 - Ss 559/99
B = NZV 2000, 217, 218). Wann bei langer Verfahrensdauer der Zeitablauf entweder allein
oder zusammen mit anderen Umständen ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen kann,
ist eine Frage des Einzelfalles (Senatsentscheidung vom 6.08.1996 - Ss 346/96 B). Bei
ihrer Beantwortung sind insbesondere auch die Ursachen der langen Verfahrensdauer mit
zu berücksichtigen. Ist sie z. B. maßgebblich auf Beweisanträge des Betroffenen
zurückzuführen, die im Nachhinein die Wertung rechtfertigen, sie seien aufs "Geratewohl",
"ins Blaue hinein" gestellt worden, muss die Länge des Verfahrens noch kein Grund sein,
dem Fahrverbot die Geeignetheit als Denkzettel - und Besinnungsmaßnahme
abzusprechen. Sind für eine lange Verfahrensdauer dagegen maßgeblich Umstände
außerhalb des Einflußbereichs des Betroffenen ursächlich, kann der Zeitablauf die
Berechtigung eines Fahrverbots in Frage stellen.
Vorliegend sind seit der Tat mehr als zwei Jahre und zwei Monate verstrichen. Davon
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entfällt eine Verzögerung von zumindest 10 Monaten auf einen Fehler innerhalb der Justiz.
Hätte bereits das erste amtsgerichtliche Urteil vom 27.04.1999 zulässige Urteilsgründe
enthalten, hätte der Senat eine materiell-rechtliche Überprüfung der Urteilsgründe bereits
mit dem Beschluss vom 24.08.1999 vornehmen können.
Unter zusätzlicher Berücksichtigung des Umstandes, dass die
Geschwindigkeitsüberschreitung der Betroffenen an der untersten Grenze der für die
Verhängung eines Fahrverbots wegen grober Pflichtverletzung bedeutsamen
Erheblichkeitsschwelle lag (Überschreitung der zulässigen Höchstbeschwindigkeit
innerorts um 31 km/h), hält es der Senat danach nicht mehr für angemessen, die Betroffene
jetzt noch mit der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme des Fahrverbots zu belegen.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO in Verbindung mit §
46 Abs. 1 OWiG.