Urteil des OLG Köln vom 15.12.1997

OLG Köln (kläger, zpo, umkehr der beweislast, kausalität, geburt, ursächlicher zusammenhang, behandlungsfehler, gutachten, abteilung, internat)

Oberlandesgericht Köln, 5 U 225/96
Datum:
15.12.1997
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 225/96
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 25 0 318/93
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 25. Zivilkammer des
Landgerichts Köln vom 23. Oktober 1996 - 25 0 318/93 - wird
zurückgewiesen. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu
tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die
Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 15.000,--
DM abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollsteckung
Sicherheit in gleicher Höhe leisten, welche auch durch
selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank,
Genossenschaftsbank oder öffentlichen Sparkasse erbracht werden
kann. Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
1
Der Kläger wurde am 27. März 1979 um 19:04 Uhr als erstes Kind seiner damals 31-
beziehungsweise 32-jährigen (die Angaben hierzu schwanken in den diversen
Behandlungsunterlagen) Mutter geboren. Errechneter Geburtstermin war der 10. März
1979 gewesen.
2
Ausweislich des Geburtsblattes der pädiatrischen Abteilung des Krankenhauses P.
erfolgte ca. vier Stunden vor der Geburt der Blasensprung, woraufhin grün-mißfarbiges
Fruchtwasser abging. Wegen wehensynchronen Absinkens der kindlichen Herztöne auf
70 bis 80/min. wurde eine Sectio durchgeführt.
3
Der Kläger wurde nach der Geburt abgesaugt und intubiert. Er wog bei der Geburt 2970
g und maß 52 cm. Die Apgar-Werte sind mit 5/8/9 notiert, waren aber laut Eintrag der
pädiatrischen Abteilung 45 min. nach der Geburt noch nicht fixiert. Zu diesem
letztgenannten Zeitpunkt wurde der Kläger von der pädiatrischen Abteilung
übernommen, die seinen Zustand zu diesem Zeitpunkt wie folgt beschrieb:
4
"Ca. 45 Minuten altes, ruhig wirkendes, übelriechendes, zentral rosiges, an der Haut
blasses, männliches Neugeborenes mit überlangen, gelb-grünen Nägeln,
Waschfrauenhänden und -füßen, Herz und Lungen auskultatorisch unauffällig, Bauch
weich, Leber/Milz nicht vergrößert. Kein Anhalt für Hüftdysplasie. Muskeltonus und
Neugeborenenreflexe regelrecht."
5
Die vorläufige Diagnose ist wie folgt bestimmt:
6
"Primäre postpartale Asphyxie bei Zustand nach Sectio wegen intrauteriner Asphyxie,
Übertragung, mißfarbiges Fruchtwasser, kleine Struma, Gleithoden beidseitig."
7
Im weiteren Verlauf erfolgte auf der pädiatrischen Abteilung Inkubatorpflege, der Kläger
wurde mit Bicarbonat gepuffert, es wurde eine Schockbehandlung mit Humanalbumin
und anschließender Infusion von 5 %-iger Glukoselösung durchgeführt. Wie es in der
Verlaufsbeschreibung heißt, erholte sich der Kläger unter dieser Behandlung rasch und
bot im weiteren keine Komplikationen. Der Nahrungsaufbau wurde in üblicher Weise mit
Aponti SM begonnen. Am 3. April 1979 wurde der Kläger auf Wunsch der Eltern zurück
in das Neugeborenenzimmer verlegt.
8
Der Kläger führt die in seinem kindlichen Entwicklungsverlauf aufgetretenen
Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, Sprachstörungen, Legasthenie, Bewegungsstörungen
sowie eine Lebensmittelallergie auf eine fehlerhafte Geburtsleitung seitens der
Beklagten zu 3. und 4. zurück, wobei er vortragen hat, daß die fehlerhafte
Geburtsleitung, insbesondere die verspätet durchgeführte Sectio, bei ihm zu einer
hypoxischen Asphyxie und damit zusammenhängend zu einer Hirnschädigung geführt
hätten.
9
Nachdem der Kläger sich dieserhalb vorprozessual wegen Schadensersatzleistungen
an die Beklagten gewandt hatte, unterzeichneten die Eltern des Klägers als dessen
Vertreter unter dem 29. Oktober 1992 eine als "Teilvergleichs- und
Abfindungserklärung" bezeichnete Erklärung, die wie folgt lautet:
10
"Wir erklären hiermit - im eigenen Namen und im Namen unseres Sohnes L. R. -,
gegen Zahlung des Betrages von 110.000,00 DM wegen aller Ansprüche aus Anlaß
des Schadensfalles vom 27. März 1979 gegen das Krankenhaus P. und dort tätige
Mitarbeiter endgültig abgefunden zu sein, soweit es sich um die Ansprüche bis
einschließlich Oktober 1992 handelt. Diese Abfindung umfaßt sämtliche aus dem
Schadensfall abzuleitende Forderungen, gleichgültig aus welchem Rechtsgrund und
unabhängig davon, ob es sich um bekannte, voraussehbare oder nicht voraussehbare
Schäden handelt.
11
Vorbehalten bleiben alle materiellen Ersatzansprüche ab dem 1. November 1992."
12
Mit seiner Klage vom 28. Oktober 1993 hat der Kläger vorgetragen, infolge seiner
verzögerten Sprachentwicklung und seiner Schreib- und Leseschwäche sei er
insbesondere auch in seinem schulischen Fortkommen stark beeinträchtigt gewesen
und noch beeinträchtigt. Im Zusammenhang hiermit habe er seit dem Schuljahr 1991/92
ein Internat mit angeschlossenem Gymnasium/Realschule, Sekundarstufe I, in der Nähe
von G. besuchen müssen. Dies sei zum Zwecke einer möglichst weitgehenden
Behebung der Schädigungsfolgen notwendig gewesen.
13
Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Kläger mit seiner Klage zunächst Zahlung einer
monatlichen Mehrbedarfsrente von 781,40 DM ab 1. November 1992 bis zum Abschluß
der Schulausbildung im vorgenannten Internat geltend gemacht, wobei sich diese
Mehrbedarfsrente auf Kosten für Fahrten zwischen seinem Wohnort und dem Internat,
Telefonate mit den Eltern, Aufwendungen für eine der Lebensmittelallergie
entsprechende Ernährung sowie Kosten der Behandlung durch eine Heilpraktikerin
14
zusammensetzt. Ferner hat er die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten
hinsichtlich des materiellen Schadens ab dem Ende der Schulausbildung begehrt. Über
das letztgenannte Feststellungsbegehren ist im Wege des Teilanerkenntnisurteils vom
13. Juli 1994 positiv entschieden worden.
Der Kläger hat sodann seine Aufwendungen für die Behandlung durch eine
Heilpraktikerin im Wege eines Zahlungsantrages geltend gemacht und beantragt,
15
##blob##nbsp;
16
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
17
##blob##nbsp;
18
##blob##nbsp;
19
1. an ihn aufgrund der in der Zeit vom 30. Mai 1991 bis zum 26. Juli 1995
stattgefundenen Besuche bei der Heilpraktikerin 15.050,50 DM zuzüglich 4 %
Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen,
20
##blob##nbsp;
21
##blob##nbsp;
22
2. an ihn zu Händen seiner gesetzlichen Vertreter ab 1. November 1992 bis zum
Abschluß der Schulausbildung im Internat Nordeck eine monatliche Rente in Höhe
von 504,44 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.
23
Die Beklagten haben beantragt,
24
##blob##nbsp;
25
die Klage abzuweisen.
26
Sie sind dem Vorbringen des Klägers in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht
entgegengetreten und haben insbesondere die Kausalität zwischen eventuellen Fehlern
bei der Geburtsleitung und den vom Kläger geltend gemachten Schäden bestritten.
27
Das Landgericht hat zu der Frage, ob beim Kläger als Folge der fehlerhaften
Geburtsleitung eine Hyperaktivität mit Konzentrationsstörungen und Legasthenie
vorliegt, sowie ob gegebenenfalls die Unterbringung des Klägers in einem
Schullandheim aus medizinischer Sicht erforderlich war, Beweis erhoben durch
Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. N.; diesen
Sachverständigen hat es nach Eingang des schriftlichen Gutachtens auch mündlich
angehört.
28
Durch Urteil vom 23. Oktober 1996, auf das wegen aller Einzelheiten Bezug genommen
wird, hat das Landgericht die Klage abgewiesen, soweit ihr nicht bereits durch
Teilanerkenntnisurteil vom 13. Juli 1994 stattgegeben worden ist. Zur Begründung hat
es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne von einem ursächlichen
Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Geburtsleitung beziehungsweise der durch
29
sie verursachten hypoxischen Asphyxie und den vorgetragenen Beeinträchtigungen des
Klägers nicht ausgegangen werden. Nach den Ausführungen des Sachverständigen
könne die Kammer auch auf der Grundlage des § 287 Abs. 1 ZPO den ursächlichen
Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Geburtsleitung beziehungsweise der durch
sie verursachten hypoxischen Asphyxie und den vom Kläger geklagten
Hirnfunktionsstörungen nicht feststellen. Insoweit verbleibende Zweifel gingen zu
Lasten des Klägers, da dieser die Beweislast für den streitigen ursächlichen
Zusammenhang trage.
Gegen dieses am 11. November 1996 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11.
Dezember 1996 Berufung eingelegt und diese am 12. Februar 1997, nach Verlängerung
der Berufungsbegründungsfrist bis zu diesem Tag, begründet.
30
Mit seiner Berufung hat er zunächst seine in erster Instanz abgewiesenen Klageanträge
weiterverfolgt und hierzu unter Wiederholung und Vertiefung seines früheren
Vorbringens vorgetragen, unstreitig sei die Geburtsleitung fehlerhaft gewesen,
insbesondere hätte die Asphyxie des Klägers vermieden werden können und müssen.
Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach sei auch im vorliegenden Rechtsstreit
niemals bestritten worden. Es sei auch klar, daß es sich um grobe Behandlungsfehler
handele. Zu Unrecht habe das Landgericht unter Zugrundelegung der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes zur Haftung für grobe Behandlungsfehler nicht eine
Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten angenommen. Die Heranziehung des § 287
ZPO sei nicht zutreffend, insbesondere liege die Beweislast nicht etwa bei ihm.
Richtigerweise habe auf § 286 ZPO abgestellt werden müssen, weil es vorliegend nicht
um die Feststellung einer haftungsausfüllenden Kausalität zwischen einem Erstschaden
und weiteren Folgeschäden gehe, sondern um den Kausalzusammenhang zwischen
dem Behandlungsfehler selbst und der Primärverletzung. Insoweit griffen aber
Beweiserleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast, weil den Beklagten ein
grober Behandlungsfehler vorzuwerfen sei. Unabhängig vom Vorliegen eines groben
Behandlungsfehlers kämen auch die Regeln des Anscheinsbeweises zur Geltung.
31
Im weiteren Verlaufe des Berufungsverfahrens hat der Kläger, der inzwischen die
Schule mit der mittleren Reife abgeschlossen hat und eine Ausbildung an einer
Fachhochschule anstrebt, seine Klageanträge modifiziert.
32
Er beantragt nunmehr unter Rücknahme seiner früher gestellten Anträge,
33
##blob##nbsp;
34
festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger
ab 29. Oktober 1992 alle materiellen Schäden zu ersetzen, die daraus entstanden
sind, daß es bei ihm infolge von Fehlern der Geburtsleitung am 27. März 1979 in der
geburtshilflichen Abteilung des Krankenhauses der Beklagten zu 1. zu einer
minimalen cerebralen Dysfunktion gekommen ist, die sich in Form von Verhaltens-
und Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität, Sprachstörungen, insbesondere
Dyslalie und Dysgrammatismus, Legasthenie und Bewegungsstörungen äußert,
soweit die Ansprüche des Klägers nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige
Dritte übergegangen sind.
35
Zur Begründung dieses Antrages trägt er vor, die bei ihm fortbestehende minimale
cerebrale Dysfunktion werde mit großer Wahrscheinlichkeit Quelle weiterer Schäden
36
sein. Er werde mutmaßlich größere Schwierigkeiten bei der Eingliederung in den
Arbeitsprozeß haben. Er habe noch keine Lehrstelle gefunden; in fast allen Berufen
machten sich seine hirnorganischen Funktionsstörungen als erhebliches Handicap
bemerkbar.
Die Beklagten beantragen,
37
##blob##nbsp;
38
die Berufung zurückzuweisen.
39
Sie beziehen sich im wesentlichen auf das in zweiter Instanz eingeholte Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. Sch. (siehe nachfolgend) und vertreten die Ansicht, die
Beweislast hinsichtlich der für eine Haftung erforderlichen Kausalität liege hinsichtlich
der Folgeschäden beim Kläger.
40
Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluß vom 14. Mai 1997. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. Sch. vom 5. August 1997 Bezug genommen.
41
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die beiderseitigen Schriftsätze
nebst Anlagen verwiesen.
42
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
43
Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache - auch mit dem zuletzt gestellten
Feststellungsantrag - keinen Erfolg. Ein Anspruch des Klägers auf Ersatz materieller
Schäden nach Oktober 1992 ist zu verneinen, da nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem unstreitigen Fehler
bei der Geburtsleitung (verspätete Sectio nach intrauteriner Asphyxie) und den vom
Kläger im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Folgeschäden nicht festzustellen
ist, wobei insoweit theoretisch verbleibende Restzweifel zu Lasten des
beweispflichtigen Klägers gehen.
44
Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß entgegen der Ansicht des Klägers
nicht von einem schweren Behandlungsfehler anläßlich der Geburt des Klägers
ausgegangen werden kann.
45
Ein solcher ist weder der Teilvergleichs- und Abfindungserklärung vom 29. Oktober
1992 noch auch dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Sch. und ebenfalls
nicht dem in erster Instanz eingeholten Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N. zu
entnehmen.
46
Die Abfindungserklärung vom 29. Oktober 1992 verhält sich lediglich über "alle
Ansprüche aus Anlaß des Schadensfalles vom 27. März 1979 bis einschließlich
Oktober 1992", beinhaltet demzufolge allenfalls die Bestätigung eines Fehlers bei der
Geburtsleitung, nicht jedoch auch eine Bestätigung eines groben Behandlungsfehlers.
47
Als gegen eine durch einen schweren Behandlungsfehler anläßlich der Geburt
verursachte Hirnschädigung sprechend hat der Sachverständige Prof. Dr. Sch. mit
eingehender und nachvollziehbarer Begründung anhand der die Geburt des Klägers
48
betreffenden Behandlungsunterlagen mehrere Anhaltspunkte dargelegt. Hiernach
sprechen gegen eine durch einen gravierenden Fehler bei der Geburtsleitung induzierte
Hirnschädigung die 45 Minuten nach der Geburt auskultatorisch unauffällige Lunge, der
regelrechte Muskeltonus, die regelrechten Neugeborenenreflexe, die rasche Erholung
des Neugeborenen und das Fehlen sonstiger Komplikationen, sowie die schon nach
sieben Tagen erfolgte Rückverlegung des Neugeborenen auf die Normalstation. Vor
dem Hintergrund dieser Verlaufsbeschreibung überzeugen die Ausführungen des
Sachverständigen, wonach der unmittelbar postpartuale Verlauf so störungsarm und -
abgesehen von der akuten Depression einiger vitaler Parameter in der ersten
Lebensminute - so störungsfrei war, daß entgegen der Ansicht des Klägers von einer
intensivmedizinischen Behandlung nicht gesprochen werden kann. Auch die weitere
Schlußfolgerung des Sachverständigen, wonach insbesondere auch das Fehlen
wesentlicher Zeichen eines neurologischen Durchgangssyndroms gegen eine akute
hypoxisch-ischämische Hirnschädigung sprechen, überzeugt.
Insbesondere das Fehlen jeglicher Durchgangssyndrome hat der dem Senat aus einer
Vielzahl von Geburtschadensfällen als überaus qualifiziert und sorgfältig arbeitende
Sachverständige immer wieder als nahezu zwingendes Indiz gegen eine akute
geburtsinduzierte hypoxisch-ischämische Hirnschädigung bezeichnet.
49
Diese Erkenntnis entspricht ausweislich der von dem Sachverständigen zitierten
Studienergebnisse auch dem akuten wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Hiernach
führte ein perinataler Sauerstoffmangel nur dann zu bleibenden Hirnschäden, wenn
auch die Zeichen der akuten posthypoxischen Encephalopathie in der
Neugeborenenperiode nachweisbar sind, d.h., wenn die Kinder während der ersten
Lebenstage apathisch oder gar komatös sind, nicht selbst trinken, sondern sondiert
werden müssen und insbesondere, wenn sie schwere Tonusstörungen der Muskulatur
und Krämpfe aufweisen.
50
Ist hiernach bereits ein durch eine verspätete Sectio nach intrauteriner Asphyxie
verursachter Hirnschaden zu verneinen, so fehlt es nach den weiteren Ausführungen
des Sachverständigen Prof. Dr. Sch. darüber hinaus insbesondere auch an einer
nachweisbaren Kausalität zwischen dem vorgenannten Fehler bei der Geburtsleitung
und den vom Kläger behaupteten Folgeschäden in Form einer minimalen cerebralen
Dysfunktion mit den daraus resultierenden Beeinträchtigungen.
51
Beim Kläger fehlen - was auch der Sachverständige besonders hervorgehoben hat -
insgesamt drei wichtige Charakteristika der perinatalen Hirnschädigung, nämlich
neurologisches Durchgangssyndrom der Neugeborenenperiode, Cerebralparese als
Restschadenssyndrom, bildmorphologisch erkennbare Residuen hypoxischer
Hirnschäden. Darüber hinaus hat der Sachverständige ausdrücklich darauf
hingewiesen, daß die hier vorliegende Entwicklungsstörung mit Verhaltens- und
Aufmerksamkeitsstörungen, mit motorischer Überaktivität, mit Sprach- und
Lernstörungen im Bereich des Lesens und Schreibens keinesfalls typisch für die Folgen
perinatal hypoxisch-ischämischer Hirnschäden sei. Charakteristisches
Restschadenssyndrom sind nach seinen Ausführungen vielmehr die teils spastische,
teils extrapyramidale Bewegungsstörung, also eine Cerebralparese, die beim Kläger
gerade nicht vorliegt. Insbesondere die letztgenannte Cerebralparese ist nach den
überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen gerade zwingend mit einer
hypoxisch-ischämischen Hirnschädigung als Folgewirkung verbunden, weil bei einem
durch eine Versorgungsstörung nachhaltig geschädigten Gehirn die motorischen
52
Regionen zwangsläufig mitgeschädigt werden müssen.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen des Sachverständigen überzeugt seine
weitere Feststellung, wonach das hyperkinetische Syndrom, wie es beim Kläger
vorliegt, sowie die minimale cerebrale Dysfunktion eindeutig nicht zu den typischen
Folgeschäden nach perinatal hypoxisch-ischämischer Hirnschädigung gehören. Das
Fehlen eines kausalen Zusammenhangs zwischen perinatalen Versorgungsstörungen
und dem hyperkinetischen Syndrom entspricht nach dem Sachverständigen der heute
vorherrschenden Meinung, insbesondere in bezug auf jene Kinder, bei denen auch die
geringsten Anzeichen einer neuromotorischen Störung, wie leichte Zeichen von Spastik
oder extrapyramidalen Dystonien und Hyperkinesen, fehlen. Es spricht für die
wissenschaftliche Sorgfalt des Sachverständigen, wenn er ausdrücklich darauf
hingewiesen hat, daß allerdings im Rahmen der Kinderneurologie auch die gegenteilige
Ansicht zumindest in Betracht gezogen wird und deshalb eine abschließende
wissenschaftliche Beurteilung der Frage, ob die Ursachen des hyperkinetischen
Syndroms und damit verbundenen Verhaltens- und Lernstörungen Folge einer
hypoxischen Hirnschädigung sind, für den Einzelfall nicht mit abschließender Sicherheit
abzugeben ist. Selbst vor dem Hintergrund dieser theoretischen Möglichkeit einer
gegenteiligen Meinung sprechen aber jedenfalls im Falle des Klägers nach den
wiederholten Ausführungen des Sachverständigen gerade alle Indizien gegen einen
ursächlichen Zusammenhang zwischen einer geburtsassoziierten Versorgungsstörung
und den beim Kläger festzustellenden minimalen cerebralen Dysfunktionen,
insbesondere - um es zu wiederholen - der vergleichsweise störungsfreie Verlauf in den
ersten Lebenstagen und Wochen und insbesondere auch fehlende morphologische
Veränderungen des Gehirns, da im Kernspintomogramm keine Veränderungen
erkennbar gewesen seien, die auf eine auch nur minimale hypoxische Läsion hätten
schließen lassen können.
53
Selbst bei Berücksichtigung der grundsätzlich nicht ganz auszuschließenden, aber eher
theoretischen Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs im vorgenannten Sinne hält
demzufolge der Sachverständige im Falle des Klägers angesichts des gänzlichen
Fehlens jeglicher hierauf hinweisender Anhaltspunkte einen solchen Zusammenhang
für nahezu ausgeschlossen. Daß restliche Zweifel insoweit oder aber die Möglichkeit
eines Irrtums nach dem derzeitigen Kenntnisstand der Wissenschaft theoretisch
verbleiben können, gereicht dem Kläger nicht zum Vorteil, dies auch nicht unter
Berücksichtigung des Umstandes, daß sich der ebenfalls von ihm zu erbringende
Nachweis des Geburtsleitungsfehlers für hieraus resultierende Folgeschäden nach dem
herabgesetzten Beweismaßstab des § 287 ZPO bemißt. Zwar ist hiernach die
Beweisführung hinsichtlich der Folgeschäden erleichtert, gleichwohl reichen
geringfügige Restzweifel nicht zum Vorteil der beweispflichtigen Partei, soweit eine
Beweisaufnahme die erforderliche haftungsausfüllende Kausalität - hier also zwischen
verspäteter Sectio und Hirnschaden - mit einem solchen Gewißheitsmaßstab widerlegt
hat, daß vernünftige Zweifel zu schweigen haben.
54
Dies hat auch das Landgericht entgegen der Ansicht des Klägers bereits zutreffend
angenommen.
55
Im Rahmen von Arzthaftungsansprüchen ist bezüglich der Schadensentstehung nach
der - auch höchstrichterlichen - Rechtsprechung zwischen der haftungsbegründenden
Kausalität, die nach § 286 ZPO darzulegen und zu beweisen ist, und der
haftungsausfüllenden Kausalität, für die § 287 ZPO gilt, zu unterscheiden (siehe Giesen
56
"Arzthaftungsrecht" Seite 217 und Steffen "Neue Entwicklungslinien der BGH-
Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht" 6. Aufl., Seite 195 jeweils m. w. N. aus der
Rechtsprechung).
Bezogen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, daß der Kläger die Ursächlichkeit des
als unstreitig zugrunde zu legenden Geburtsleitungsfehlers, nämlich der verspäteten
Sectio nach intrauteriner Asphyxie, für den behaupteten hypoxisch-ischämischen
Hirnschäden nach Maßgabe des § 286 ZPO darzulegen und zu beweisen hat, was ihm -
wie dargelegt - nach den Ausführungen des Sachverständigen Sch. nicht gelungen ist,
wobei mangels jeglichen Nachweises eines schweren Behandlungsfehlers eine
Beweislastumkehr insoweit zum Nachteil der Beklagten nicht in Betracht kommt.
57
Die Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, also des ursächlichen Zusammenhangs
zwischen einer vom Kläger angenommenen hypoxisch-ischämischen Hirnschädigung
als Primärschaden und der beim Kläger bestehenden minimalen cerebralen Dysfunktion
und deren Symptomen als Folgeschaden bemißt sich demgegenüber nach § 287 ZPO.
58
Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sch. besteht aber keine auch
nur einigermaßen verifizierbare Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang zwischen
einer geburtsinduzierten Hirnschädigung und der beim Kläger vorliegenden minimalen
cerebralen Dysfunktionssymptome. Die vom Sachverständigen eingeräumte, allenfalls
theoretisch nicht schlechthin auszuschließende Restmöglichkeit einer ursächlichen
Verbindung genügt auch im Rahmen des § 287 ZPO nicht, zur Überzeugung des
Gerichts einen solchen Zusammenhang zu begründen.
59
Aus der Abfindungserklärung vom 29. Oktober 1992 ergeben sich keine gegenteiligen
Anhaltspunkte. Insbesondere erleichtert diese nicht die an die Beweisführung des
Klägers im Rahmen des § 287 ZPO zu stellenden Anforderungen.
60
Anders als in dem vom Senat entschiedenen Fall 5 U 154/94 handelt es sich vorliegend
nicht um ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis zum Grund der Haftungsansprüche,
also hinsichtlich fehlerhafter Geburtsleitung und hieraus resultierender Hirnschädigung,
weil die Beklagten vorliegend - anders als im vorgenannten Rechtsstreit - den
Haftungsgrund als solchen nicht unstreitig gestellt haben, insbesondere auch nicht für
die Zeit nach Oktober 1992. Die vorgenannte Erklärung beinhaltet vielmehr im Kern
lediglich die Bestätigung der Eltern des Klägers, daß dieser wegen aller Ansprüche -
ohne daß diese damit im Haftungsgrund von den Beklagten deklaratorisch anerkannt
worden wären - aus Anlaß seiner Geburt bis Oktober 1992 endgültig abgefunden sei.
61
Eine generelle Anerkennung der Haftung dem Grunde nach kann demgegenüber der
Erklärung nicht entnommen werden, ebensowenig wie auch dem insbesondere
erstinstanzlichen Vortrag der Beklagten. In dessen Rahmen haben die Beklagten zwar
mehrfach einer fehlerhafte Geburtsleitung eingeräumt, deren Kausalität, insbesondere
hinsichtlich eventueller Folgeschäden, aber ausdrücklich bestritten.
62
Bei dem beim Kläger festgestellten hyperkinetischen Syndrom handelt es sich nicht
mehr um den nach § 286 ZPO zu beweisenden Primärschaden, dieser kann allenfalls in
einer durch die verspätete Sectio verursachten Sauerstoffunterversorgung des Gehirns
mit hierauf beruhendem Hirnschaden bestanden haben; daraus eventuell resultierende
Folgeschäden wie das hyperkinetische Syndrom mit der Folge möglicher Nachteile bei
der späteren Berufsausbildung sind von der Abfindungserklärung in jedem Fall nicht
63
umfaßt. Sie waren für die Beklagten, jedenfalls was die Zeit nach Oktober 1992
anbetrifft, bei der Teilabfindungserklärung des Klägers auch noch gar nicht erkennbar
beziehungsweise als Teil des Schadens vorhersehbar.
Nach den gutachterlichen Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sch. kann
auch nicht mit einem nur höheren Grad von Wahrscheinlichkeit ein Zusammenhang
zwischen der fehlerhaften Geburtsleitung und einem hyperkinetischen Syndrom als
Ausprägung einer minimalen cerebralen Dysfunktion als Folge eines manifesten
Hirnschadens festgestellt werden, dies auch nicht unter Zugrundelegung des
erleichterten Beweismaßstabes des § 287 ZPO.
64
Nach allem hat der Kläger weder den ihm obliegenden Nachweis eines auf dem Fehler
bei der Geburtsleitung beruhenden Hirnschadens erbracht noch insbesondere auch zu
beweisen vermocht - dies auch nicht bei erleichterten Anforderungen an seine
Beweisführung -, daß die minimale cerebrale Dysfunktion mit all ihren Wirkungen auf
einen geburtsinduzierten Hirnschaden zurückzuführen ist.
65
Der - nicht nachgelassene - Schriftsatz des Klägers vom 17.11.1997 und das mit diesem
eingereichte Privatgutachten des Dr. P. vom 17.11.1990 geben dem Senat keine
Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.
66
Soweit der Kläger die Ausführungen in diesem Privatgutachten im Sinne des
Nachweises eines schweren Behandlungsfehlers wertet, ist erneut darauf hinzuweisen,
daß es im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblich um die Frage geht, ob das
beim Kläger bestehende hyperkinetische Syndrom als Folgeschaden des bei der
Geburtsleitung unstreitig begangenen Behandlungsfehlers in Form einer verspäteten
sectio zu werten ist. Für die insoweit nach § 287 ZPO zu beurteilende Kausalität und die
damit zusammenhängenden Beweislastfragen ist aber der Gesichtspunkt eines
schweren Behandlungsfehlers nicht relevant, der sich - wie vorstehend dargelegt - nur
im Rahmen der nach § 286 ZPO zu bemessenden haftungsbegründenden Kausalität
stellt.
67
Nur ergänzend sei deshalb darauf hingewiesen, daß das Gutachten P. auch sachlich
nicht überzeugt, dies schon deshalb nicht, weil es z.T. von falschen Tatsachen ausgeht.
So ist es z.B. nach den - soweit vorliegend - Behandlungsunterlagen nicht richtig, daß
der Kläger nach der Geburt reanimiert werden mußte.
68
Dokumentiert ist lediglich eine Intubation. Auch führt der Gutachter zu Unrecht als Indiz
"schwerster vitaler Depression" nur den 1. Apgarwert von 5 an, nicht jedoch die beiden
weiteren von 8 und 9, die auf eine vergleichsweise rasche Erholung des Neugeborenen
hinweisen. Letztlich kommt es aber aus den vorbenannten Gründen auf den sachlichen
Gehalt des Gutachtens auch nicht entscheidend an.
69
Die Berufung des Klägers war deshalb mit der Kostenfolge des § 97 ZPO
zurückzuweisen.
70
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Ziffer 10, 711
ZPO.
71
Der Senat hielt es für angezeigt, die Revision zuzulassen, weil die Sache, sowohl was
die Bedeutung der Abfindungserklärung als auch die Differenzierung zwischen dem
72
Primärschaden sowie der minimalen cerebralen Dysfunktion als Folgeschaden
anbetrifft, Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft.
Berufungsstreitwert
73
bis 16. April 1997: 51.370,18 DM
74
(siehe so schon Beschluß des Senats vom 25. Februar 1997),
75
ab dann: unter 60.000,00 DM.
76
Beschwer des Klägers: unter 60.000,00 DM.
77