Urteil des OLG Karlsruhe vom 02.11.2016

entziehung, überprüfung, ermessensfehlgebrauch, wiedererteilung

OLG Karlsruhe Beschluß vom 2.11.2016, 2 Ws 325/16
Strafverfahren: Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis in der
Berufungsinstanz bei gleichzeitiger Revisionseinlegung; Prüfungsumfang des
Beschwerdegerichts
Leitsätze
Die Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist auch neben der gegen das
Berufungsurteil eingelegten Revision statthaft. Jedoch kann - eingeschränkt - nur überprüft werden, ob die
materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 69 StGB vorliegen und von dem nach § 111a Abs. 1 StPO
eingeräumten Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht wurde.
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Waldshut-Tiengen vom 15.09.2016
wird kostenpflichtig (§ 473 Abs. 1 StPO) als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
1 Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen vom 02.05.2016 vom Vorwurf der
fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs und des unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit
mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr freigesprochen; mit Beschluss vom gleichen Tage wurde die im
Ermittlungsverfahren angeordnete vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben. Mit - nicht
rechtskräftigem - Urteil vom 15.09.2016 hat das Landgericht Waldshut-Tiengen das amtsgerichtliche Urteil
auf die Berufung der Staatsanwaltschaft aufgehoben und den Angeklagten wegen fahrlässiger Gefährdung
des Straßenverkehrs und unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit
im Verkehr zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 Euro verurteilt, ihm die Fahrerlaubnis
entzogen und eine Sperrfrist für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis von „zwölf Monaten“ festgesetzt.
Mit dem angegriffenen, in der Hauptverhandlung unmittelbar nach der Urteilsverkündung ergangenem
Beschluss hat die Strafkammer dem Angeklagten erneut die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen.
2 Gegen das Urteil hat der Angeklagte am 21.09.2016 Revision und mit beim Vordergericht am selben Tag
eingegangenem Schriftsatz zudem Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eingelegt,
der die befasste Strafkammer nicht abgeholfen hat. Mit Schriftsatz vom 27.09.2016 hat der Angeklagte
seine Beschwerde weiter begründet. Die Revision liegt dem Senat noch nicht zur Entscheidung vor.
II.
3 Die Beschwerde des Angeklagten ist zwar zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.
4 1. Nach § 304 Abs. 1 StPO ist die Beschwerde gegen den zugleich mit dem nicht rechtskräftigen
Berufungsurteil ergangenen Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auch neben der
gegen das Urteil eingelegten Revision statthaft. Der in Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG
Köln VRS 105, 343 ff.; Brandenburgisches Oberlandesgericht NStZ-RR 1996,170 f.; OLG Düsseldorf DAR
1995,1252) und Kommentarliteratur (KK-StPO/Bruns, StPO, 7. Aufl. 2013, § 111a, Rn. 22) vertretenen
Ansicht, ein Beschluss nach § 111a StPO, der mit oder nach einem die Maßregel nach § 69 StGB
anordnenden Urteil ergangen ist, könne aus systematischen Gründen nicht gesondert angefochten werden,
vermag der Senat nicht zu teilen (so bereits Senat, Beschluss vom 26.10.1998, 2 WS 247/98, NZV 1999,
345 f., Rn. 3 (juris); OLG Karlsruhe DAR 2004, 408; OLG Hamm NZV 2015, 355; Thüringer
Oberlandesgericht VRS 115, 353 ff.; KG VRS 100, 443 f.; OLG Düsseldorf NZV 2000, 383; OLG Frankfurt
NStZ-RR 1996, 205 f.; LR-Hauck, StPO, 126 Aufl., § 111a, Rn. 92 mwN). Eine gesetzliche Grundlage für die
Annahme der Unzulässigkeit einer Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO, die gegen alle von den Gerichten im
ersten Rechtszug und im Berufungsverfahren erlassenen Beschlüsse zulässig ist, ist nicht ersichtlich; ein Fall
des § 305 S.1 StPO liegt nicht vor.
5 2. Die Beschwerde ist jedoch - gemessen an dem vom Senat angenommenen eingeschränkten
Prüfungsmaßstab des Beschwerdegerichts bei zugleich eingelegter Revision - unbegründet.
6 Es liegen dringende Gründe für die Annahme vor, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis endgültig
entzogen werden wird (§ 111a StPO), so dass ihre vorläufige Entziehung gerechtfertigt ist.
7 a. Nach den Feststellungen des bereits schriftlich vorliegenden Berufungsurteils habe der Angeklagte am
12.11.2015 gegen 1:45 Uhr am Steuer seines Pkw der Marke Mercedes-Benz mit dem amtlichen
Kennzeichen ... den nördlichen Abschnitt der P-Straße (zwischen der Einmündung der B-Straße und der
Einmündung in die W-Straße) sowie die W-Straße in W befahren, obwohl er zuvor solche Mengen
alkoholischer Getränke konsumiert gehabt habe, dass er nicht mehr fahrtüchtig gewesen sei. Die
Untersuchung einer ihm am 12.11.2015 um 3:30 Uhr entnommenen Blutprobe habe eine mittlere
Blutalkoholkonzentration von 1,61 Promille ergeben. Seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit habe der
Angeklagte bei der von ihm zu fordernden kritischen Selbstprüfung auch zumindest erkennen können und
müssen. Aufgrund seiner Alkoholisierung sei der Angeklagte in Höhe des Anwesens W-Straße 23 auf die
linke Fahrbahnhälfte geraten und sei mit seinem PKW gegen den dort ordnungsgemäß entgegen der
Fahrtrichtung des Angeklagten am Fahrbahnrand geparkten PKW Ford geprallt. Durch die Wucht des vom
Angeklagten verursachten Aufpralls sei der Ford nach hinten geschoben worden und mit dem hinter ihm
geparkten PKW Renault zusammengestoßen. Der PKW Ford sei hierdurch sowohl an der linken Frontpartie
als auch im Heckbereich so schwer beschädigt worden, dass er wirtschaftlichen Totalschaden in Höhe von ca.
5000 Euro erlitten habe. Auch an dem PKW Renault, der im Frontbereich beschädigt worden sei, sei ein
Sachschaden von mehr als 2000 Euro entstanden. Dass aufgrund seiner alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit
die naheliegende Wahrscheinlichkeit bestanden habe, dass er solch ein Auffahrunfall verursachen werde,
habe der Angeklagte vorhersehen können.
8 Obwohl der Angeklagte erkannt habe, dass er einen Unfall und dabei einen ganz erheblichen
Fremdsachschaden verursacht habe, sei er höchstens fünf Minuten vor dem Anwesen W-Straße 23 stehen
geblieben und dann über die W-Straße und die F-Straße in Richtung G davon gefahren, obwohl ihm
mittlerweile klar gewesen sei, dass er alkoholbedingt nicht mehr fahrtüchtig gewesen sei, und obwohl er
gewusst habe, dass er es den Besitzern der beiden von ihm beschädigten Fahrzeuge hierdurch unmöglich
machen würde, seine Personalien, sein Fahrzeug und die Ursache des Unfalls festzustellen. Nach etwas
mehr als zwei Kilometern von der Unfallstelle entfernt habe die Fahrt des Angeklagten auf einem Parkplatz
geendet, weil sein PKW mittlerweile im Motorbereich zu brennen begonnen habe.
9 b. Der Senat geht davon aus, dass das Beschwerdegericht bei der gegebenen Verfahrenskonstellation die
angefochtene Entscheidung nicht in vollem Umfang überprüfen kann (vgl. Senat, Beschluss vom 26.10.1998,
2 WS 247/98, NZV 1999, 345 f., Rn. 3 (juris); OLG Karlsruhe DAR 2004, 408; Thüringer Oberlandesgericht
aaO, Rn. 12, 13 (juris); KG aaO, Rn. 3 (juris)). Für eine isolierte Anfechtung mit vollumfänglicher Prüfung der
von der erkennenden Strafkammer angeordneten vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 111a
StPO - bei allerdings teils angenommener erheblicher indizieller Wirkung des schriftlich abgefassten und mit
der Revision angegriffenen Berufungsurteils - (hierfür OLG Hamm aaO, Rn. 12, 13; OLG Düsseldorf NZV
2000, 383, Rn. 8 (juris); OLG Koblenz NStZ-RR 1997, 206, 207) ist aus systematischen Gründen
grundsätzlich kein Raum (mehr), wenn gegen das Urteil, durch das eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach §
69 StGB angeordnet worden ist, zugleich Revision eingelegt wurde. Denn die Entscheidung darüber, ob
dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass dem Angeklagten nach § 69 StGB die
Fahrerlaubnis entzogen werden wird, hängt letztlich nur noch davon ab, ob die entsprechende Anordnung
im Urteil einer Überprüfung nach revisionsrechtlichen Kriterien standhält. Diese Überprüfung ist jedoch dem
Senat als Revisionsgericht vorbehalten. Für eine weitere Überprüfung der Entscheidung der erkennenden
Strafkammer über die Frage der Eignung des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen in tatsächlicher
Hinsicht ist angesichts dessen kein Raum mehr. Andernfalls bestünde - wegen des unterschiedlichen
Prüfungsumfangs und der Prüfungskompetenz von Beschwerdegericht und Revisionsgericht - die Gefahr
widersprechender Entscheidungen im Beschwerdeverfahren und im Revisionsverfahren. Die
Entscheidungskompetenz des Revisionsgerichts würde zudem unterlaufen, wenn während des laufenden
Revisionsverfahrens in einem Beschwerdeverfahren eine erneute Prüfung der tatsächlichen
Voraussetzungen der Entziehung der Fahrerlaubnis zugelassen würde, die im Revisionsverfahren selbst
keine Berücksichtigung mehr finden kann. Das Beschwerdegericht kann daher nur prüfen, ob die materiell-
rechtlichen Voraussetzungen des § 69 StGB vorliegen und die Strafkammer von dem ihr nach § 111a StPO
eingeräumten Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat (vgl. vgl. Senat, Beschluss vom 26.10.1998,
2 WS 247/98, NZV 1999, 345 f., Rn. 3 (juris); Thüringer Oberlandesgericht, aaO, Rn. 13 (juris); KG, aaO, Rn.
3 (juris)). Auch der weiteren abweichenden Rechtsauffassung, nach der in die Prüfung des
Beschwerdegerichts jedenfalls die Erfolgsaussichten einer Revision einzubeziehen seien (OLG Frankfurt am
Main aaO, S. 206; LR-Hauck, aaO, § 111a, Rn. 92 mwN) vermag der Senat aus verfahrensrechtlichen
Gründen nicht beizutreten; die abweichende Rechtsauffassung liefe auf eine inzidente revisionsrechtliche
Überprüfung der tatrichterlichen Entscheidung im Beschwerdeverfahren hinaus. Der revisionsrechtliche
Prüfungsumfang wird jedoch durch die vom Revisionsführer vorgebrachten Rügen bestimmt; nichts anderes
kann auch im Falle einer inzidenten Prüfung durch das Beschwerdegericht gelten. Wenn aber der Umfang
einer inzidenten Prüfung im Beschwerdeverfahren vom Vortrag des Revisionsführers abhängt, sind
Verfahrenssituationen, in denen eine Entscheidungsreife des Beschwerdeverfahrens vor derjenigen des
Revisionsverfahrens gegeben ist, kaum denkbar. Für diesen Fall der gleichzeitigen Entscheidungsreife
anerkennt jedoch auch die von der hiesigen Rechtsauffassung abweichende Rechtsprechung den Vorrang der
Entscheidung über die Revision an (OLG Frankfurt am Main aaO, S. 206; auch OLG Hamm aaO, Rn. 9). Mit
einer Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis kann daher eine inzidente
Vorabentscheidung über die gegen das Urteil eingelegte Revision nicht erreicht werden.
10 Hat sich daher - wie hier - die Strafkammer die Überzeugung von der fehlenden charakterlichen Eignung des
Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen verschafft und die Maßregel nach § 69 StGB angeordnet,
ergeben sich die dringenden Gründe für das Vorliegen der Voraussetzungen der vorläufigen Entziehung der
Fahrerlaubnis aus dessen Urteil. Diese Wertung hat das Beschwerdegericht ebenso hinzunehmen wie die ihr
zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen (KG aaO, Rn. 3 (juris)).
11 c. Vorliegend ist - gemessen an der eingeschränkten Prüfungskompetenz des Beschwerdegerichts - weder
ersichtlich, dass die im Urteil erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis mit einem offensichtlichen Rechtsfehler
behaftet ist, noch liegen Anhaltspunkte vor, nach denen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auf
einem Ermessensfehlgebrauch beruht.
12 Nach den Feststellungen der Strafkammer liegt ein Regelfall für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69
Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 StGB vor; rechtliche, die (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis als unvertretbar
erscheinen lassende, Bedenken gegen die in der Nichtabhilfeentscheidung der Strafkammer niedergelegte
Einschätzung, dass die Regelvermutung des Eignungsmangels aus § 69 Abs. 2 StGB vorliegend nicht durch
seitens des Beschwerdeführers geltend gemachte besondere Umstände des Einzelfalls - kein
verkehrswidriges In-Erscheinung-Treten des Angeklagten seit Wiedererteilung der Fahrerlaubnis am
12.05.2016 bis zum 15.09.2016 - widerlegt sei, bestehen nicht.
13 Ebenso ausweislich ihrer Nichtabhilfeentscheidung hat die Strafkammer in rechtlich nicht zu beanstandender
Weise bei der der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis zugrunde liegenden Ermessensentscheidung die
von der Beschwerde für den Angeklagten vorgebrachten Umstände - schwerwiegende negative
Auswirkungen auf den Betrieb seines Baugeschäfts - in ihre Abwägung eingestellt. Weitere Umstände, aus
denen sich ein Beruhen der Entscheidung auf einem Ermessensfehlgebrauch ergeben könnte, sind nicht
ersichtlich.
14 Die Prüfung, ob die vom Beschwerdeführer angegriffene landgerichtliche Beweiswürdigung bei der
Feststellung von Indizien und bei der gebotenen Gesamtschau festgestellter Indizien einer
revisionsrechtlichen Überprüfung auf Rechtsfehler - insbesondere auf Verstöße gegen Denkgesetze oder auf
die Annahme etwa nicht bestehender Erfahrungssätze - standhalten wird, bleibt dem Revisionsverfahren
vorbehalten.