Urteil des OLG Karlsruhe vom 20.10.2016

innere sicherheit, rechtliches gehör, gefahr, unrichtigkeit

OLG Karlsruhe Beschluß vom 20.10.2016, 2 Ws 319/16
Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus in Baden-Württemberg:
Gehörsverletzung bei Übergehung des Antrags auf Beiziehung der Krankenakte im Rahmen
der Anordnung einer Zwangsmaßnahme
Leitsätze
1. Unterlässt die Strafvollstreckungskammer den zur Widerlegung der Sachdarstellung der Vollzugsbehörde
beantragten Beizug der Krankenakten, verletzt dies den Anspruch des Untergebrachten auf Gewährung
rechtlichen Gehörs.
2. Führt das unzureichende Hygieneverhalten des Untergebrachten zu einer großen gesundheitlichen Gefahr
für sich und für Mitpatienten, kann im Rahmen der Verhältnismäßigkeit dessen zwangsweises Duschen in
Betracht kommen.
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Heidelberg vom 31. August
2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an
das Landgericht Heidelberg zurückverwiesen.
2. Der Gegenstandswert wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren auf 500.- EUR festgesetzt (§§ 65, 60, 52
GKG).
Gründe
I.
1 Der Antragsteller ist derzeit auf einer geschlossenen Station im Psychiatrischen Zentrum X in Y gemäß § 63
StGB untergebracht. Der Antragsgegner hält wegen großer gesundheitlicher Gefahren für ihn selbst und
Mitpatienten für erforderlich, dass der Antragsteller verpflichtet wird, einmal monatlich zu duschen und sich
dabei zur Kontrolle unbekleidet dem Personal zu zeigen. Aus demselben Grund sei erforderlich, dass er, wenn
er nicht einmal im Monat duschen würde, für 72 Stunden abgesondert werden könne und dass er nach Ablauf
dieser 72 Stunden für den Fall, dass er dann immer noch nicht geduscht habe, zwangsweise vom Personal
geduscht bzw. gebadet werde.
2 Nachdem sein Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 StVollzG gegen die Verpflichtung am
04.02.2016 zwangsweise zum Duschen vorgeführt zu werden mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer
vom 03.02.2016 abgelehnt worden war, begehrt der Antragsteller mit seinem am 31.03.2016 gestellten
Antrag auf gerichtliche Entscheidung, das ihm von der Antragsgegnerin abverlangte monatliche Duschen und
dessen zwangsweise Durchsetzung zu untersagen, weil die monatlich drohenden demütigenden
Zwangsmaßnahmen rechtswidrig und unverhältnismäßig seien und die diesbezüglichen Vorwürfe des
Antragsgegners betreffend mangelnder Hygiene nicht zutreffen würden.
3 Diese Anträge wies das Landgericht Heidelberg, nachdem es zwei Stellungnahmen des Antragsgegners
eingeholt hat und der Antragssteller jeweils hierzu Stellung nehmen konnte, mit Beschluss vom 31.08.2016,
der der Bevollmächtigten des Antragstellers am 08.09.2016 zugestellt wurde, zurück. Mit seiner am
10.10.2016 eingelegten Rechtsbeschwerde, mit der die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt
wird, verfolgt der Antragsteller sein Anfechtungsbegehren aus dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung
weiter und beantragt, die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Heidelberg zurückzuweisen.
II.
4 Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist auch gemäß §§ 138 Abs. 3, 116 Abs. 1 StVollzG,
54 Abs. 2 PsychKHG BW zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung zu ermöglichen. Sie hat in der Sache (vorläufigen) Erfolg.
5 1. Der angefochtene Beschluss der Strafvollstreckungskammer ist auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge
des Antragstellers hin, die als Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
auszulegen ist, aufzuheben.
6 Art. 103 Abs 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu
nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 87, 1, 33; Kammerbeschluss vom 14.8.2013, FamRZ 2013,
1953; Senat, Beschluss vom 22.06.2016 - 2 Ws 177/16 -, juris). Damit ist es nicht vereinbar, dass die
Strafvollstreckungskammer den wiederholten Antrag des Antragstellers auf Beiziehung seiner Krankenakten,
aus denen sich nach seiner Behauptung die Unrichtigkeit der Darstellung des Antragsgegners zu seinem
Hygieneverhalten in den letzten Jahren, insbesondere einem ausreichenden freiwilligen Duschen, nicht
vorliegenden Hautschädigungen seiner Füße und der Unrichtigkeit der Behauptung, er habe die Wände seines
Zimmers mit Kot beschmiert, ergeben soll, übergangen hat.
7 Obwohl der Antragsteller bereits im Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 21.03.2016 der Darstellung
seines Hygieneverhaltens durch den Antragsgegner in weiten Teilen widersprochen und zur Bestätigung
seines Vortrages die Beiziehung der Krankenakten beantragte hatte und dies nach den beiden jeweils
zweiseitigen Stellungnahmen des Antragsgegners vom 07.04.2016 und 30.05.2016, mit Schriftsatz vom
15.07.2016 wiederholt hat, hat die Strafvollstreckungskammer die Krankenakten des Antragsstellers vor
seiner Entscheidung nicht beigezogen und dieses Unterlassen im angefochtenen Beschluss auch nicht
begründet.
8 2. Ergänzend bemerkt der Senat, dass – wie die Strafvollstreckungskammer sinngemäß ausführt – gemäß §
19 Abs. 2 PsychKHG BW die untergebrachten Personen diejenigen Maßnahmen zu dulden haben, die zur
Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung in der anerkannten Einrichtung notwendig sind. Der Begriff
„Sicherheit“ umfasst die äußere Sicherheit als Gewährleistung des Aufenthalts in der Einrichtung, die
Verhinderung von Gefahren von außen, aber insbesondere die innere Sicherheit als Abwendung von Gefahren
für Personen und Sachen in der Einrichtung (beispielsweise Gesundheitsgefährdungen, die Gefahr der
Selbstbeschädigung, Brandgefahr: LT-Drs. 15/5521, Seite 62). Die Maßnahmen müssen in einem
angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck stehen und dürfen die untergebrachte Person nicht mehr und nicht
länger als notwendig beeinträchtigen. Dabei ist – wie stets – auch der in § 2 PsychKHG BW geregelte
Grundsatz zu beachten, dass bei allen Hilfen und Maßnahmen (aufgrund des PsychKHG BW) auf die
individuelle Situation der untergebrachten Person besondere Rücksicht zu nehmen ist und ihre Würde und ihr
Wille zu achten sind.
9 Insoweit erscheint es grundsätzlich – auch in Ansehung der verfassungsmäßigen Rechte des Antragstellers –
rechtlich möglich, dass bei hinreichender Feststellung einer vom Antragsteller für sich und Mitpatienten
ausgehenden großen gesundheitlichen Gefahr durch drohenden massiven Parasitenbefall mangels
anhaltender ausreichender Körperhygiene, der Antragsteller auf der Rechtsgrundlage des § 19 Abs. 2
PsychKHG BW zur Aufrechterhaltung der Sicherheit des Zentrums für Psychiatrie (als anerkannte Einrichtung
gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 PsychKHG BW) von dieser aufgefordert wird, sich in regelmäßigen Mindestabständen
unter Aufsicht eines männlichen Betreuers mit nur einer Unterhose bekleidet zu duschen und gleichfalls, dass
bei einer über 72 Stunden andauernden Weigerung der entsprechenden Aufforderung freiwillig Folge zu
leisten, der Antragsteller – als zur Duldung der Maßnahme nach § 19 Abs. 2 PsychKHG BW gemäß § 26 Abs. 1
PsychKHG BW Verpflichteter – unter Beachtung der sich aus § 26 Abs. 2 bis 6 PsychKHG BW ergebenden
näheren Regelung der Anwendung unmittelbaren Zwangs, zwangsweise zum Duschen vorgeführt wird.