Urteil des OLG Karlsruhe vom 26.07.2016

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OLG Karlsruhe Beschluß vom 26.7.2016, 2 (4) SsBs 253/16; 2 (4) SsBs 253/16 - AK 96/16
Leitsätze
1. Die Annahme einer teilweisen Betriebsleitung im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG bedarf konkreter
Feststellungen zur Organisation und Gliederung des Betriebs sowie hierarchischen Stellung des Betroffenen.
2. Eine wesentliche Abweichung des tatsächlichen Nährwertgehalts eines Lebensmittels von den
durchschnittlichen Nährwertangaben kann eine irreführende Kennzeichnung nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 LFGB
darstellen. Die wesentliche Abweichung von lediglich zwei kleinen Stichproben lässt einen solchen Schluss nicht
ohne Weiteres zu.
3. Bei einem mitverurteilten Betroffenen, dessen Rechtsbeschwerde zulassungsbedürftig gewesen wäre,
scheidet eine Aufhebungserstreckung nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 357 StPO aus, wenn es für dessen
Rechtsbeschwerde an einem Zulassungsgrund des § 80 OWiG fehlt.
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen D wird das Urteil des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen vom 18.
Dezember 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es den Betroffenen D betrifft.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten
der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen zurückverwiesen.
Gründe
I.
1 Das Amtsgericht Waldshut-Tiengen verurteilte den Betroffenen D am 18.12.2015 wegen fahrlässiger
Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen zu einer Geldbuße von 400 Euro. Gleichzeitig
verhängte es gegen den Betroffenen S, der gegen das Urteil kein Rechtsmittel eingelegt hat, eine Geldbuße
von 200 Euro wegen fahrlässigen Inverkehrbringens eines Lebensmittels unter einer irreführenden
Kennzeichnung.
2 Der Betroffene D hat gegen das amtsgerichtliche Urteil durch Telefax seines Verteidigers vom 21.12.2015
Rechtsbeschwerde erhoben und nach am 30.01.2016 erfolgter Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe
durch Telefax seines Verteidigers vom 17.02.2016 die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt.
3 Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe trägt auf Verwerfung der Rechtsbeschwerde als unbegründet an.
II.
4 Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist mit der
Sachrüge - jedenfalls vorläufig - begründet. Die Feststellungen des Amtsgerichts tragen eine Verurteilung
des Betroffenen D wegen fahrlässiger Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen nicht.
5 1. Eine Verurteilung des Betroffenen D wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 130 Abs. 1 OWiG setzte
zunächst voraus, dass er, der nach den Urteilsfeststellungen kein Inhaber der A OHG im Sinne von § 130
Abs. 1 OWiG ist, von deren Inhaber oder einem sonst dazu Befugten beauftragt wurde, den Betrieb ganz
oder zum Teil zu leiten (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG), wobei dem Betriebsteil eine herausgehobene
Selbständigkeit und Bedeutung zukommen muss (OLG Karlsruhe, VRS 48, Nr. 75; Rogall, in: KK-OWiG, 4.
Auflage 2014, § 9 Rn. 85 m. w. N.). Insoweit ergibt sich aus den Feststellungen des Amtsgerichts zwar, dass
der Betroffene D zur Tatzeit Produktionsleiter der Wurstproduktion war und ihm 80 bis 100 Mitarbeiter
unterstellt waren. Hieraus allein lässt sich aber noch nicht ableiten, dass der Betroffene D mit der Teilleitung
des Betriebs der A OHG beauftragt war. Insoweit wären weitere Feststellungen zur Organisation der A
OHG, der Selbständigkeit und Bedeutung der Wurstproduktion in deren Betrieb sowie der genauen
hierarchischen Stellung des Betroffenen D in dem Unternehmen zu treffen gewesen.
6 2. Sollte sich eine Teilleitung des Betriebs der A OHG durch den Betroffenen D feststellen lassen, setzte
dessen Verurteilung wegen einer Ordnungswidrigkeit nach §§ 130 Abs. 1, 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG weiter
voraus, dass in dem ihm nachgeordneten Bereich des Betriebs unter Verletzung einer betriebsbezogenen
Pflicht eine Ordnungswidrigkeit begangen wurde. Feststellungen, die diese Annahme tragen, enthält das
amtsgerichtliche Urteil jedoch nicht. Soweit das Amtsgericht den Betroffenen S wegen fahrlässigen
Inverkehrbringens eines Lebensmittels unter einer irreführenden Kennzeichnung gemäß §§ 11 Abs. 1 Nr. 1,
59 Abs. 1 Nr. 7, 60 Abs. 1 Nr. 2 LFGB verurteilt hat, wurde rechtsfehlerhaft übersehen, dass sich § 11 Abs. 1
Nr. 1 LFBG - in seiner seit dem 13.11.2014 geltenden Fassung (vgl. § 4 Abs. 3 OWiG) - ausschließlich an den
„nach Artikel 8 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 verantwortlichen Lebensmittelunternehmer oder
Importeur“ richtet, also an die natürlichen oder juristischen Personen, die dafür verantwortlich sind, dass die
Anforderungen des Lebensmittelrechts in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Lebensmittelunternehmen
erfüllt werden (vgl. Art. 3 Nr. 3 Lebensmittel-Basis-VO, VO (EG) 178/2002). Dass der Betroffene S ein
Lebensmittelunternehmer oder -importeur in diesem Sinne (oder einem solchen gemäß § 9 OWiG
gleichzustellen) ist, hat das Amtsgericht nicht festgestellt und liegt im Übrigen auch fern. Damit fehlt es
jedoch an einer im nachgeordneten Bereich des Betroffenen D begangenen Ordnungswidrigkeit und mithin
an der für eine Ahndung gemäß §§ 130 Abs. 1, 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG erforderlichen Anknüpfungstat.
7 3. Auch wenn der Senat ausschließen kann, dass sich in einer neuen Hauptverhandlung die
Voraussetzungen einer Ordnungswidrigkeit nach §§ 130 Abs. 1, 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG feststellen
lassen, liegen die Voraussetzungen für einen Freispruch des Betroffenen D durch den Senat gemäß § 79 Abs.
3 Satz 1 OWiG i. V. m. § 354 Abs. 1 StPO nicht vor.
8 Denn es erscheint jedenfalls möglich, dass sich in einer neuen Hauptverhandlung die tatsächlichen
Voraussetzungen für eine Ahndung des Betroffenen D wegen einer Ordnungswidrigkeit des fahrlässigen
Inverkehrbringens eines Lebensmittels unter einer irreführenden Kennzeichnung gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1
LFBG i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG feststellen lassen könnten. Insoweit teilt der Senat die
Auffassung des Amtsgerichts, wonach eine - zumal deutliche - Überschreitung des auf der Verpackung
angegebenen durchschnittlichen Fettgehalts gegen § 11 Abs. 1 LFGB verstoßen kann (vgl. auch OVG
Magdeburg, Beschluss vom 09.12.2014, 3 L 5/12; OVG Lüneburg, Beschluss vom 13.07.2015, 13 ME 80/15).
Sollte sich ergeben, dass der angegebene Fettgehalt von 22 Gramm pro 100 Gramm im Durchschnitt der
gesamten Produktion von täglich 20 Tonnen Jagdwurst in jeweils vier Chargen überschritten wurde (vgl. Art.
31 Abs. 4 LMIV bzw. § 5 Abs. 3 NKV) und der Betroffene D insoweit fahrlässig gehandelt hat sowie mit der
Teilleitung des Betriebs der A OHG beauftragt war (vgl. Nr. 1), käme dessen Verurteilung gemäß § 11 Abs. 1
Nr. 1 LFGB i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG (gegebenenfalls in zwei Fällen) in Betracht.
9 Eine lücken- und damit rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung hinsichtlich der Voraussetzungen des § 11 Abs. 1
LFGB setzte allerdings voraus, dass sich das Amtsgericht nicht auf die Feststellung beschränkt, zwei im
Abstand mehrerer Monate gezogene und sodann untersuchte Jagdwurstproben (von jeweils 1.000 Gramm)
hätten einen Fettgehalt von 26,8 Gramm bzw. 28,7 Gramm pro 100 Gramm aufgewiesen und hierbei habe
es sich nach Überzeugung des Gerichts nicht um zwei „Ausreißer“ gehandelt. Gerade angesichts der
weiteren Feststellungen des Amtsgerichts, wonach bereits das Wurstbrät lediglich im Regelfall (also nicht
immer) einen Fettgehalt von über 22 Prozent gehabt habe und dessen Fettreduzierung - soweit erforderlich
- durch eine händische Zugabe mageren Fleischs erfolgt sei, sowie der jedenfalls nicht von vornherein
auszuschließenden Möglichkeit, dass sich fette und weniger fette Zutaten der Jagdwurst in dem Kutter nicht
gleichmäßig verteilen könnten, wäre eine ausführliche Prüfung und Begründung erforderlich gewesen, ob
und gegebenenfalls warum aus lediglich zwei Stichproben von jeweils nur einer Wurst auf die
Überschreitung der Nährwertangaben auch im Produktionsdurchschnitt geschlossen werden kann. Der
Senat geht davon aus, dass dies ohne die Einholung eines (lebensmittelchemischen)
Sachverständigengutachtens kaum möglich sein wird.
10 Das amtsgerichtliche Urteil war danach mit den Feststellungen aufzuheben, soweit es den Betroffenen D
betrifft (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i. V. m. § 353 StPO). Insoweit war die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen zurückzuverweisen (§ 79 Abs.
3 Satz 1 OWiG i. V. m. § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO, § 79 Abs. 6 OWiG).
III.
11 Die Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils gegen den Betroffenen D führt nicht dazu, dass auch die
Verurteilung des Betroffenen S, der kein Rechtsmittel eingelegt hat, aufzuheben wäre. Zwar ist § 357 StPO
über § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG auch auf das Rechtsbeschwerdeverfahren anwendbar (BayObLG, Beschluss
vom 09.02.1994, 3 ObOWi 10/94; NZV 2004, 480). Hat die Rechtsbeschwerde eines Betroffenen Erfolg,
erstreckt sich die Aufhebung auf einen mitverurteilten Betroffenen, dessen Rechtsbeschwerde im Falle ihrer
Einlegung zulassungsbedürftig gewesen wäre, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass für diese ein
Zulassungsgrund des § 80 Abs. 1 OWiG vorliegt (BayObLG, Beschluss vom 18.03.1999, 3 ObOWi 32/99). Ein
Grund, wonach eine - gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 OWiG zulassungsbedürftige -
Rechtsbeschwerde des Betroffenen S gemäß § 80 Abs. 1 OWiG zuzulassen gewesen wäre, ist aber nicht
ersichtlich. Soweit das Amtsgericht den Betroffenen S wegen Verstoßes gegen § 11 Abs. 1 LFGB verurteilt
hat, obgleich es sich bei diesem ersichtlich um keinen Lebensmittelunternehmer oder Importeur im Sinne
dieser Vorschrift gehandelt hat, ist vielmehr von einer unrichtigen Rechtsanwendung im Einzelfall
auszugehen, die keine Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsprechung begründet und eine Zulassung der
Rechtsbeschwerde daher nicht zu rechtfertigen vermag (vgl. Senge, in: KK-OWiG, 4. Aufl. 2014, § 80 Rn. 10
ff. m. w. N.).