Urteil des OLG Karlsruhe vom 14.11.2016

vorbereitung der verteidigung, verfügung, untersuchungshaft, aussetzung

OLG Karlsruhe Beschluß vom 14.11.2016, 1 Ws 223/16 jug
Haftprüfung
Leitsätze
Fällt eine Verfahrensverzögerung in den (Mit)Verantwortungsbereich des Beschuldigten oder ergibt sich diese
auch aus einem Verhalten des Verteidigers, ist dies nur dann der Justiz anzulasten, wenn diese nicht
sachgerecht auf die auch vom Beschuldigten bzw. dessen Verteidiger zu verantwortende Verzögerung reagiert.
Tenor
Die Fortdauer der Untersuchungshaft wird angeordnet.
Die weitere Haftprüfung wird für die Dauer von drei Monaten dem Landgericht – Große Jugendkammer - O.
übertragen.
Gründe
I.
1
Der Angeklagte befindet sich in vorliegender Sache seit seiner Festnahme am 26.04.2016 ununterbrochen
in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts P. vom 20.04.2016. Hierin liegt dem zur
Tatzeit 20 Jahre alten Angeklagten zur Last, gemeinsam mit seinem in Spanien aufenthältlichen Onkel C.
den gesondert verfolgten und zwischenzeitlich abgeurteilten gambischen Staatsangehörigen E. als
Drogenkurier angeworben und dazu veranlasst zu haben, am 27.12.2015 auf dem Luftwege von G./Spanien
nach K./Baden 7.460 Gramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 12,76 THC in die Bundesrepublik
Deutschland eingeschmuggelt zu haben, wobei es nur wegen der Festnahme des Drogenkuriers am
Flughafen Baden Airport nicht zur Übergabe des Rauschgifts an den in einem Asylbewerberheim
aufenthältlichen Angeklagten gekommen sei. Nachdem der Angeklagte aufgrund umfangreicher polizeilicher
Telefonüberwachungsmaßnahmen als Auftraggeber und beabsichtigter Empfänger der Lieferung und aus
Sicht der Ermittlungsbehörden als Anstifter des Rauschgifttransports identifiziert werden konnte, schloss die
Staatsanwaltschaft O. am 23.05.2016 die Ermittlungen ab und erhob Anklage zum Landgericht O.. Am
02.06.2016 führte die nunmehr zuständige 3. Strafkammer - Große Jugendkammer – des Landgerichts O.
eine schriftliche Haftprüfung durch, hielt den Haftbefehl des Amtsgericht P. vom 20.04.2016 aufrecht und
beließ ihn in Vollzug. Sodann ließ sie am 03.08.2016 die Anklage der Staatsanwaltschaft O. zur
Hauptverhandlung zu und bestimmte am 08.08.2016 Hauptverhandlungstermin auf den 13.10.2016 mit
Fortsetzung am 14.10.2016, setzte jedoch die Hauptverhandlung am 13.10.2016 - dem ersten
Verhandlungstag - aufgrund eines Antrags des Angeklagten wegen nicht ausreichender Gewährung
umfassender Akteneinsicht an dessen Verteidiger aus und legte dem Senat die Akten am 19.10.2016 zur
nunmehr erforderlich gewordenen besondere Haftprüfung vor, wobei sie - ebenso wie auch die
Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe - die Fortdauer der Haft für erforderlich erachtet.
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Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 23.10.2016, ergänzt durch weiteren Schriftsatz vom 03.11.2016,
die Aufhebung des Haftbefehls bzw. hilfsweise dessen Außervollzugsetzung mit der Begründung beantragt,
der Aussetzung der Hauptverhandlung liege eine den Justizbehörden zurechenbare schwere und
vermeidbare Verfahrensverzögerung zugrunde. Diesem Vortrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
3
Mit Schriftsatz vom 27.06.2016 beantragte der am 04.05.2016 als Pflichtverteidiger des Angeklagten
bestellte Verteidiger, Rechtsanwalt X. aus B., - neben der Rüge der örtlichen Zuständigkeit des Landgerichts
O. - , dem Angeklagten eine Übersetzung der Anklage in dessen afrikanischer Muttersprache „Mandingo“ zu
fertigen und - insoweit ohne nähere weitere Begründung - der Verteidigung „Akteneinsicht in die
Audioaufzeichnungen der überwachten Telefonate“ zu gewähren. Dieses Schreiben leitete der
Kammervorsitzende am 28.06.2016 nebst Akten der Staatsanwaltschaft O. zur Stellungnahme im Hinblick
auf die Zuständigkeitsrüge mit der nicht näher begründeten Aufforderung zu, dem Verteidiger die
beantragte Akteneinsicht in die Audioaufzeichnungen zu gewähren. Bei der Staatsanwaltschaft O. gingen
die Akten am 29.06.2016 ein und wurden am gleichen Tage wieder an das Landgericht O. zurück gesandt.
Mit Schreiben vom 19.07.2016 nahm die Staatsanwaltschaft zur Zuständigkeitsrüge Stellung, traf jedoch
hinsichtlich der von dem Verteidiger beantragten und von dem Vorsitzenden erbetenen Gewährung von
Akteneinsicht in die Audioaufzeichnungen keine Veranlassung. Nach erfolgter Zulassung der Anklage am
03.08.2016 nahm der Vorsitzende nach einem Erstkontakt am 02.08.2016 am 05.08.2016 erneut
fernmündlichen Kontakt mit dem Verteidiger auf und sprach die Hauptverhandlungstermine am 13.10.2016
und 20.10.2016 mit diesem ab. Am 15.08.2016 teilte die Staatsanwaltschaft dem Landgericht auf eine nicht
in der Akten befindliche „Verfügung vom 11.08.2016“ unter Hinweis auf die der Strafkammer mit der
Anklage vorgelegten Protokoll-Sonderbände mit, dass die aufgezeichneten Gespräche nicht in deutscher
Sprache geführt worden seien, so dass ein Wortprotokoll in der Ausgangssprache nicht verlesen werden
könne und deshalb angeregt werde, den Inhalt der Telefonate samt Übersetzung durch einen
Augenscheinsgehilfen, ggf. durch Augenschein in die Hauptverhandlung einzuführen. Hierauf erklärte der
Vorsitzende mit an die Staatsanwaltschaft gerichtetem Schreiben vom 08.09.2016 unter Hinweis auf die
nur eingeschränkt mögliche Verwertung von Inhaltsprotokollen in der Hauptverhandlung, dass der dortigen
Antwort vom 15.08.2016 wohl teilweise ein Missverständnis zugrunde liege und mit dem Schreiben vom
10.08.2016 - hierbei handelt es sich nach Sachlage um die o.a. „Verfügung vom 11.08.2016“ - angeregt
werden sollte, dass die Staatsanwaltschaft bis zur Hauptverhandlung für die wörtliche Übersetzung der in
der Anklage in Bezug genommenen Telefonate sorge, soweit deren Verwertung gewünscht werde. Am
12.09.2016 teilte die Staatsanwaltschaft dem Landgericht sodann mit, dass sie im Hinblick darauf, dass ihr
nicht bekannt sei, ob und in welcher Weise der Angeklagte sich einzulassen gedenke, und auch nicht,
welche Telefonate die Kammer als relevant erachte, zunächst nur die wörtliche Übersetzung der vier in der
Anklage aufgeführten Telefonate veranlasst habe. Diese Übersetzungen gelangten am 04.10.2016 zu den
Akten.
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Mit Telefax-Schreiben vom 15.09.2016 beantragte der Verteidiger, welcher bereits im April 2016
Akteneinsicht hatte, die Gewährung ergänzender Akteneinsicht und erinnerte an sein Gesuch vom
27.06.2016 auf Überlassung von Audiodateien der überwachten Telefonate. Auch beantragte er nunmehr,
dem Angeklagten ein technisches Gerät in der Haftanstalt zur Verfügung zu stellen bzw. zugänglich zu
machen, welches sich zum Anhören der Audiodateien eigne. Hierauf bat der Vorsitzende am 16.09.2016 die
Staatsanwaltschaft um Mitteilung, ob die am 28.06.2016 erbetene Zurverfügungstellung von
Audioaufzeichnungen an den Verteidiger veranlasst worden sei. Hierauf erwiderte die Anklagebehörde mit
Telefax-Schreiben vom gleichen Tage, dass eine Verfügung des Gerichts vom 28.06.2016 nicht bekannt sei;
auch sei eine Überlassung von TKÜ-Audiodateien an den Verteidiger rechtlich nicht zulässig; hierbei handele
es sich nämlich um Augenscheinsobjekte, die als Beweisstücke grundsätzlich nicht zur Einsicht an den
Verteidiger ausgefolgt werden dürften, sondern von diesem am Ort ihrer amtlichen Verwahrung - hier bei
der Polizei in K. - als ermittelnde Polizeidienststelle - angehört werden könnten bzw. müssten; auch der
verteidigte Angeklagte selbst habe keinen Anspruch auf Überlassung von Audiodateien sowie eines Gerätes
zum Abspielen/Anhören der Dateien; ein Ausnahmefall, welcher nach der - zitierten - Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes eine andere Beurteilung ermögliche, liege nicht vor. Am 19.09.2016 übersandte der
Vorsitzende per Telefax Kopien des Verteidigerschriftsatzes vom 27.06.2016 und der Verfügung vom
28.06.2016 an die Staatsanwaltschaft und bat nunmehr, dem Verteidiger Einsicht in die Audiodateien auf
der zuständigen Polizeidienststelle zu ermöglichen und den Angeklagten hierzu nebst Dolmetscher
auszuantworten; insoweit möge – so der Vorsitzende - die Staatsanwaltschaft mit dem Verteidiger zur
Klärung des Umfangs der beabsichtigten Einsichtnahme und mit der zuständigen Polizeidienststelle zur
technischen Vorbereitung derselben kurzfristig Kontakt aufnehmen, damit das Verfahren nicht weiter
verzögert werde. Hierauf teilte die Staatsanwaltschaft O. dem Verteidiger mit Telefax-Schreiben vom
21.09.2016 mit, er möge hinsichtlich der beantragten Einsicht in die Audiodateien bzw. deren Anhörens
direkt mit der Polizei Kontakt aufnehmen; von dort aus könne alles Erforderliche organisiert werden; zum
Zwecke der Teilnahme des Angeklagten an dem Anhören der Audiodateien könne dieser aus der
Vollzugsanstalt ausgeantwortet werden; eine Überlassung der Audiodateien direkt an den Verteidiger oder
an den Angeklagten und eine Überlassung eines Abspielgerätes an den Angeklagten sei - so die
Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes - vorliegend nicht
zulässig. Hierauf wandte sich der Verteidiger mit begründetem Schriftsatz am 22.09.2016 an das
Landgericht und stellte klar, dass er die Überlassung nicht der Originale, sondern lediglich von Kopien der
Audiodateien der überwachten Telefonate beantrage und dass auch der Angeklagte einen eigenen Anspruch
auf Zurverfügungstellung solcher Kopien sowie eines technischen Gerätes zum Anhören der Audiodateien in
der Haftanstalt habe, da dieser nicht schlechter als ein nicht in Untersuchungshaft befindlicher Angeklagte
behandelt werden dürfe; auch könne der Angeklagte, der ja die Sprache „Mandingo“ beherrsche, dann
Mitschriften anfertigen und die Qualität von Übersetzungen kontrollieren. Die Staatsanwaltschaft trat dem
Antrag des Verteidigers mit an das Landgericht gerichtetem Fax-Schreiben vom 23.09.2016 entgegen und
teilte mit, dass keine Originaldatenträger und auch keine Kopien solcher Datenträger vorlägen, vielmehr die
überwachten Telefongespräche auf Rechnern des LKA Baden-Württemberg abgespeichert seien, auf welche
die Polizei zugreifen könne, um die Gespräche - wie angeboten - abhören zu können. Daraufhin teilte der
Vorsitzende dem Verteidiger mit Fax-Schreiben vom 26.09.2016 mit, dass grundsätzlich kein Einsichtsrecht
in die Audiodateien durch Überlassung derselben an den Verteidiger und/oder den Angeklagten bestehe und
die vom Verteidiger verlangte allgemeine und unspezifische Überlassung sämtlicher aufgezeichneter
Gesprächsmitschnitte sogar unzulässig sei, vielmehr obliege es dem Verteidiger und dem Angeklagten, die
diesen zustehende Einsichtnahme auf der zuständigen Polizeidienststelle vorzunehmen, wobei von Seiten
des Gerichts nicht beurteilt werden könne und solle, in welchem Umfang Telefonate angehört werden
wollten.
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In der Hauptverhandlung am 13.10.2016 - dem ersten Verhandlungstag - beantragte der Verteidiger deren
Aussetzung, weil ihm auf sein Antragsschreiben vom 27.06.2016 hin bislang nicht bzw. verspätet
Akteneinsicht in die Audiodateien der überwachten Telefonate gewährt worden sei; ihm sei nämlich erstmals
mit Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 21.09.2016 eine solche Einsichtnahme angeboten worden,
allerdings in unzureichender Art und Weise dergestalt, dass das Anhören der Audiodateien bei der Polizei in
K. oder O. stattzufinden habe; tatsächlich bestehe vorliegend einen Anspruch auf Herstellung amtlich
gefertigter Kopien und Überlassung derselben, da es angesichts des Umfangs der überwachten Telefonate für
ihn als in B. ansässigen Rechtsanwalt nicht in zumutbarer Weise zu bewerkstelligen sei, die Audiodateien in
K. oder O. anzuhören. Diesem Antrag gab die Große Jugendkammer in der Hauptverhandlung am
13.10.2016 statt und setzte diese wegen Verletzung des Rechts des Verteidigers auf umfassende
Akteneinsicht nach § 147 StPO mit der Begründung aus, dass dem Verteidiger und dem Angeklagten
erstmals mit Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 21.09.2016 die Möglichkeit zum Anhören der
Audiodateien bei der zuständigen Polizeidienststelle eingeräumt worden und der von da an bis zu der
Hauptverhandlung verbliebene Zeitraum von etwas mehr als drei Wochen vor dem Hintergrund, dass über
einen Zeitraum von etwa vier Monaten Telefongespräche in nicht unerheblicher Zahl aufgezeichnet worden
seien, welche die Verteidigung - ausweislich des von ihr gestellten Antrags - vollumfänglich anhören und mit
dem Angeklagten besprechen wolle, für den Verteidiger nicht ausreichend sei, die Hauptverhandlung
sachgerecht vorzubereiten; auch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung für die zulässige Höchstdauer
von drei Wochen erscheine im Hinblick auf den Umfang der aufgezeichneten Telefonate und die mit der
Vorbereitung einer sachgerechten Verteidigung zu treffenden Dispositionen nicht ausreichend.
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Den Akten ist weiter folgender Verfahrensgang zu entnehmen:
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Die am 13.10.2016 erfolgte Aussetzung der Hauptverhandlung teilte die Staatsanwaltschaft O. noch am
gleichen Tage dem LKA mit und bat um Übermittlung der Sonderbände TKÜ mit sämtlichen überwachten
Telefonaten, geordnet nach dem Zeitpunkt der Kommunikation und unter Einarbeitung zwischenzeitlich neu
gefertigter Übersetzungen, welche sodann am 17.10.2016 in Form von 19 Stehordnern der
Staatsanwaltschaft überlassen wurden. Am 18.10.2016 wurde vom Vorsitzenden mit dem Verteidiger
fernmündlich neuer Hauptverhandlungstermin auf den 20.12.2016 mit Fortsetzungsterminen am
10.01.2017 und 19.01.2017 abgesprochen. Am 20.10.2016 erhielt der Verteidiger - wie dieser im
Schriftsatz vom 23.10.2016 vorbringt - von einem Beamten der Polizei die fernmündliche Auskunft, dass der
gesamte Umfang aller Datensätze der Telekommunikationsüberwachung in schriftlicher Form 20 Leitzordner
bzw. 3500 Aktenseiten betrage und das - vom Verteidiger beabsichtigte - Anhören aller Tondokumente
mehrere Wochen - etwa 20 bis 30 Tage - in Anspruch nehme. Mit Schrift vom 21.10.2016 erhob der
Verteidiger gegen den Aussetzungsbeschluss der Strafkammer vom 13.10.2016 Gegenvorstellung, soweit
der Verteidigung und dem Angeklagten amtlich gefertigte Kopien der Aufzeichnungen der
Telekommunikation nicht zur Verfügung gestellt werden sollen und soweit dem Angeklagten Mittel zu deren
Anhörung nicht zur Verfügung gestellt werden sollen. Ebenfalls mit - von ihm selbst vorgelegtem - Schreiben
vom 21.10.2016 hat der Verteidiger bei dem Oberlandesgericht Karlsruhe die Bewilligung eines
Pauschvergütungsvorschusses beantragt und insoweit unter Hinweis auf die obengenannte fernmündliche
Auskunft eines Beamten der GER K. vom 20.10.2016 und bei Zugrundelegung von aus seiner Sicht zum
Anhören der TKÜ-Datensätze notwendigen 25 Fahrten von seinem Kanzleiort in B. zur Polizeidirektion O.
und einem sich hieraus ergebenden „Pensum“ von 550 Stunden (Fahrtzeit und Anhörungszeit) ein ihm allein
für das Anhören der Audiodateien zustehendes „Honorar“ von 55.000 EUR zuzüglich Fahrtkosten und
Übernachtungskosten von weiteren ca. 14.250 EUR errechnet. Mit an das Oberlandesgericht gerichteter
weiterer Schrift vom 23.10.2016 hat der Verteidiger erklärt, dass, falls die erkennende Kammer bei der von
ihr beabsichtigten Vorgehensweise bleiben wolle, in der am 20.12.2016 anstehenden Hauptverhandlung
voraussichtlich ein erneuter Aussetzungsantrag notwendig sein werde. Mit Verfügung vom 25.10.2016 hat
der Vorsitzende der Kammer die Gegenvorstellung vom 21.10.2016 zurückgewiesen. Ebenfalls am
25.10.2016 wurde dem Verteidiger eine zwischenzeitlich gefertigte CD mit sämtlichen eingescannten
Protokollen bzw. Verbindungsvermerken der Telefonate übermittelt, die im Überwachungszeitraum durch die
gesamten TKÜ-Maßnahmen angefallen sind, auch soweit sie von den Ermittlungsbehörden als irrelevant
eingeordnet wurden. Konkrete Schritte, entsprechend dem seit der Mitteilung der Staatsanwaltschaft O.
vom 21.09.2016 bestehenden Angebot bei der Polizei in K. oder O. - ggf. gemeinsam mit dem Angeklagten -
die vorliegenden Audiodateien anzuhören, hat der Verteidiger - soweit nach Aktenlage ersichtlich - bislang
nicht unternommen.
II.
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Die gem. §§ 121 Abs. 1, 122 StPO gebotene besondere Haftprüfung führt bezüglich des Angeklagten zur
Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.
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1. Dringender Tatverdacht i. S. von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO besteht bezüglich des den Tatvorwurf
bestreitenden Angeklagten aufgrund der in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft O. vom 23.05.2016
aufgeführten Beweismittel, insbesondere ergibt sich der dringende Tatverdacht daraus, dass das
Mobiltelefon, mit dem am Tattag die Handlungsanweisung an den Drogenkurier erfolgte, in der Folgezeit
vom Angeklagten benutzt wurde; auch war dieses am Tattag im Bereich der Asylbewerberunterkunft in R.,
wohin das Marihuana von dem Kurier E. überbracht werden sollte, eingeloggt. Die konkrete Klärung der Art
und des Umfangs der Involvierung des Angeklagten in die Einfuhr der 7.460 Gramm Marihuana muss jedoch
vorliegend dem Inbegriff der Hauptverhandlung überlassen bleiben.
10 2. Es besteht jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Dieser ergibt sich zum
einen daraus, dass der Angeklagte im Falle seiner Verurteilung mit der Verhängung einer empfindlichen,
nicht bewährungsfähigen Freiheits- oder Jugendstrafe zu rechnen haben wird, und zum anderen daraus,
dass der Angeklagte sich unter falschen Personalien in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und es sich
bei ihm in Wahrheit wohl um den gambischen Staatsangehörigen Y. handeln dürfte. Insoweit teilt der Senat
die Bewertung des Verteidigers im Schreiben vom 03.11.2016 nicht, dass mit einer Flucht des noch
heranwachsenden Angeklagten vorliegend nicht zu rechnen sei, da dieser in Deutschland verbleiben und als
Asylberechtigter anerkannt werden wolle; vielmehr liegt es ausgesprochen nahe, dass sich der Angeklagte -
sollte er auf freien Fuß kommen - entweder zu seinem wohl in Spanien aufenthältlichen und mutmaßlich
mittatbeteiligten Onkel absetzen oder aber in die Illegalität abtauchen wird. Diesen Umständen stehen -
auch unter Beachtung des Alters des Angeklagten - Gründe von fluchthinderndem Gewicht nicht
ausreichend entgegen, weshalb auch eine Haftverschonung vorliegend zur Sicherung der Haftzwecke nicht
geeignet ist.
11 3. Auch die besonderen Haftvoraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO sind vorliegend gegeben, insbesondere
ist die Untersuchungshaft nicht deshalb aufzuheben, weil die Große Jugendkammer am 13.10.2016 die an
diesem Tage begonnene Hauptverhandlung ausgesetzt hat.
12 a. Zunächst wurden die polizeilichen Ermittlungen zügig geführt und nach Festnahme des Angeklagten am
26.04.2016 schon am 23.05.2016 durch Erhebung der Anklage abgeschlossen. Mit Verfügung vom
07.06.2016 wurde das gemäß § 201 StPO Gebotene veranlasst und eine Erklärungsfrist von zwei Wochen
gesetzt. In Anbetracht des Auslandsaufenthalt des Verteidigers im September 2016 und der erst am
12.08.2016 möglichen Übermittlung einer Übersetzung der Anklage an den Angeklagten in dessen
Muttersprache „Mandingo“ ist auch nicht zu beanstanden, dass der Hauptverhandlungstermin nach der am
03.08.2016 erfolgten Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens mit Verfügung vom
08.08.2016 erst auf den 13.10.2016 bestimmt wurde, zumal dieser Termin in Abstimmung mit dem
Verteidiger festgesetzt wurde.
13 b. Die am 13.10.2016 erfolgte Aussetzung der Hauptverhandlung beruht auch auf einem wichtigen und die
Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigenden Grund, denn die bis dahin festzustellenden, sich aus der
obigen Darstellung des Verfahrensganges ergebenden Säumnisse der Justizbehörden sind in Anbetracht des
Verteidigungsverhaltens nicht von solchem Gewicht, dass sie die Annahme des Vorliegens eines schweren
und vermeidbaren Verfahrensfehlers begründen könnten.
14 aa. Eine solcher ergibt sich zunächst nicht daraus, dass dem Verteidiger entgegen dessen mehrfachem
Antrag keine Audiodateien bzw. Kopien derselben in seine Kanzlei in B. übermittelt wurden. Beweismittel -
zu diesen zählen jedenfalls Originale der Aufzeichnungen über abgehörte Telefongespräche - können nämlich
grundsätzlich im Gegensatz zu Akten nicht zur Einsichtnahme an den Verteidiger mitgegeben, sondern nach
§ 147 Abs. 1, Abs. 4 StPO nur am Ort ihrer amtlichen Verwahrung eingesehen bzw. im Fall von
Aufzeichnungen im Rahmen einer Telefonüberwachungsmaßnahme abgehört werden. Ein Anspruch auf
Überlassung von Aufzeichnungen der Telekommunikation, aber auch auf Anfertigung und Überlassung von
Kopien solcher Aufzeichnungen steht dem Verteidiger deshalb grundsätzlich nicht zu (BGH NStZ 2014, 347;
Senat, Beschluss vom 05.04.2007, 1 Ws 42-43/07; OLG Karlsruhe NJW 2012, 2742). Zwar kann im
Einzelfall aus Gründen des fairen Verfahrens bzw. angemessener Verteidigung oder unter dem
Gesichtspunkt der Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung die Fertigung und Überlassung
von Kopien sachgerecht und geboten sein, ein solcher Fall ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Es besteht
nämlich kein ersichtlicher und nachvollziehbarer Grund, welchen Erkenntnisgewinn der Verteidiger aus der
Anhörung von weitgehend in „Mandingo-Sprache“ erfolgten Gesprächen in seiner Kanzlei in B. in
Abwesenheit des Angeklagten ziehen sollte. Auch der Angeklagte selbst hat keinen - wie vom Verteidiger
beantragt - Anspruch auf vollständige Überlassung sämtlicher Audiodateien in seinem Haftraum unter
Zurverfügungstellung eines Abhörgeräts, denn auch einem nicht inhaftierten verteidigten Beschuldigten
stünde kein solches Recht zu, vielmehr können und müssen die relevanten Audiodateien in den Räumen von
Polizeibehörden angehört werden (BGH a.a.O.; Senat a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Frankfurt,
Beschluss vom 13.09.2013 - 3 Ws 897/13; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage 2016, § 147
Rn. 19a). Hinzu kommt, dass bei der - vorliegend beantragten - umfassenden und unspezifizierten
Überlassung von Kopien sämtlicher Aufzeichnungen an den Verteidiger und/oder den Angeklagten nicht
beurteilt werden kann, ob hierdurch möglicherweise Persönlichkeitsrechte und Datenschutzinteressen an
der Tat unbeteiligter Dritter verletzt werden können (vgl. hierzu näher Senat a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.;
OLG Celle StV 2016, 146; Schmitt a.a.O.).
15 bb. Auch der Umstand, dass dem Verteidiger erst am 21.09.2016 auf Ersuchen der Großen Jugendkammer
seitens der Staatsanwaltschaft O. angeboten wurde, die Audiodateien gemeinsam mit dem Angeklagten und
ggf. einem Dolmetscher auf der Dienststelle der Polizei in K. oder O. anzuhören, stellt kein allein den
Justizbehörden zuzurechnendes, der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehendes Versäumnis dar.
Insoweit ist zunächst festzustellen, dass der Verteidiger zwar am 27.06.2016 allgemein und unspezifiziert
Einsichtnahme in die Audiodateien der überwachten Telefonate beantragt, dann aber über nahezu drei
Monate bis vier Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung am 13.10.2016 zugewartet hat, bevor er mit
Schreiben vom 15.09.2016 an die bislang nicht gewährte Einsicht erinnerte. Es gehört aber zu den
prozessualen Obliegenheiten eines Verteidigers, sich um die Erlangung der zur sachgerechten Vorbereitung
der Hauptverhandlung benötigten Informationen innerhalb einer angemessenen Frist zu bemühen, weshalb
Rechtsanwalt D. durchgehend und nicht erst vier Wochen vor dem Hauptverhandlungstermin an die ihm
bislang nicht gewährte und nach seiner eigenen Bewertung zeitaufwändige Einsichtnahme in die
Audiodateien hätte erinnern müssen (BGH NStZ 2014, 347; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg ZD
2016, 492). Dies gilt umso mehr, als ausweislich eines Vermerks vom 05.08.2016 zwischen Vorsitzenden
und Verteidiger zwischenzeitlich wiederholt - am 02.08.2016 und 05.08.2016 - zwecks Terminsabsprache
fernmündlicher Kontakt bestand. Fällt aber eine Verfahrensverzögerung in den (Mit)Verantwortungsbereich
des Beschuldigten oder ergibt sich diese auch aus einem Verhalten des Verteidigers, ist dies nur dann der
Justiz anzulasten, wenn diese nicht sachgerecht auf die auch vom Beschuldigten bzw. dessen Verteidiger zu
verantwortende Verzögerung reagiert (Böhm in: Münchner Kommentar zur StPO, Band 1, 2014, § 121 Rn.
53 m.w.N.). Eine solche Sachlage ist vorliegend allerdings nicht gegeben. Insoweit ist der Senat der Ansicht,
dass die am 13.10.2016 erfolgte und vom Verteidiger beantragte Aussetzung der Hauptverhandlung zur
Wahrung der prozessualen Rechte des Angeklagten unumgänglich war, denn die Große Jugendkammer
durfte und musste zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass der Verteidiger tatsächlich von dem Angebot
der Anhörung der Audiodateien bei der Polizei zur sachgerechten Vorbereitung der Verteidigung Gebrauch
machen wollte, die ihm ursprünglich zur Verfügung stehende Zeitspanne zwischen dem 21.09.2016 und
dem 13.10.2016 von etwa drei Wochen in Anbetracht der weiten Anreise aus B. und des Umfangs der
Audiodateien hierfür nicht ausreichen werde und deshalb die Aussetzung der Hauptverhandlung zur
Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten geboten war (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.,
§ 265 Rn. 44).
16 cc. Bei seiner Bewertung übersieht der Senat nicht, dass es vorliegend - wie aus der Schilderung des
Verfahrensablaufes unter I. ersichtlich - zu mehreren nicht unerheblichen tatsächlichen und rechtlichen
Säumnissen bei den Justizbehörden in O. und daraus resultierenden Verzögerungen gekommen ist, die sich
aber zumindest teilweise dadurch erklären lassen, dass nach Aktenlage das Einlassungsverhalten des
Angeklagten und dessen Verteidigungsstrategie nicht sogleich erkennbar und deshalb eine Anfertigung
umfangreicher Datensammlungen vor dem 15.09.2016 nicht zwingend geboten war. Insgesamt wiegen
diese Versäumnisse und Verzögerungen daher nicht derart schwer, dass sie der Anordnung der Fortdauer
der Untersuchungshaft entgegenstünden.
17 Dabei hat der Senat auch berücksichtigt, dass nach Aussetzung der Hauptverhandlung am 13.10.2016
bereits ein neuer Verhandlungstermin auf den 20.12.2016 mit zwei Folgetagen abgesprochen wurde, so
dass mit der auf Antrag des Verteidigers erfolgten Aussetzung auch keine besonders lange zeitliche Dilation
verbunden sein wird. Auch geht der Senat davon aus, dass die Große Jugendkammer durch eine straffe
Verhandlungsführung zur Beschleunigung des weiteren Verfahrens beitragen wird und dieses zeitnah
abgeschlossen werden kann.
18 Damit liegen Umstände im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO vor, die ein Urteil noch nicht zugelassen haben und
die Aufrechterhaltung der Untersuchungs-haft über sechs Monate hinaus rechtfertigen.
19 4. Der Senat sieht sich zu folgendem Hinweis veranlasst:
20 Die Große Jugendkammer wird, um dem in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgebot
Rechnung zu tragen, mit der Durchführung der neuen Hauptverhandlung am 20.12.2016 zu beginnen
haben, wie dies vom Vorsitzenden in seiner Vorlageverfügung vom 19.10.2016 angekündigt worden ist -
und zwar unabhängig davon, ob der Verteidiger - ggf. gemeinsam mit dem Angeklagten - nach erfolgter
Bezeichnung der von ihm zur Einsichtnahme gewünschten Aufzeichnungen die Audiodateien bis dahin durch
Anhören in Augenschein genommen hat oder nicht. Insoweit bestehen nämlich zwischenzeitlich Bedenken,
ob der Verteidiger tatsächlich von der ihm gewährten Möglichkeit der Einsichtnahme in die Audiodateien
Gebrauch machen will und wird. Unabhängig davon, dass das seit 21.09.2016 diesbezüglich bestehende
Angebot von diesem nach Aktenlage bislang nicht in Anspruch genommen wurde, deuten hierauf auch
dessen mit Schriftsatz vom 23.10.2016 angekündigter erneuter Antrag auf Aussetzung der am 20.12.2016
anstehenden Hauptverhandlung sowie dessen mit Schriftsatz vom 21.10.2016 gestellter Antrag auf
Gewährung eines Pauschvergütungsvorschusses hin, mit welchem er der Sache für Anreise und Anhören
sämtlicher Audiodateien in O. oder K. ein „Honorar“ von 55.000 EUR sowie Reise- und Übernachtungskosten
von weiteren 14.250 EUR geltend macht. Insoweit wird sich das Landgericht bei der weiteren
Terminplanung - auch in technischer Hinsicht - darauf einrichten müssen, die Aufzeichnungen der
Telekommunikation - soweit ggf. aufgrund von Beweisanträgen der Verteidigung rechtlich geboten - in der
Hauptverhandlung zu sichten. Hierfür wird es zur Vermeidung weiterer Verzögerungen geboten sein, schon
jetzt weitere Hauptverhandlungstermine vorzumerken und mit dem Verteidiger abzustimmen.
21 5. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist durch die seit dem 26.04.2016 andauernde Untersuchungshaft
angesichts der Schwere der Tatvorwürfe auch in Anbetracht der in Jugendsachen noch intensiver gebotenen
besonderen Beschleunigung - noch - nicht verletzt.
22 6. Die Übertragung der weiteren Haftprüfung beruht auf §§ 122 Abs. 3 S. 3, 125, 126 StPO.