Urteil des OLG Karlsruhe vom 26.06.2002

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OLG Karlsruhe Urteil vom 26.6.2002, 7 U 16/02
Zurückverweisung bei gesetzwidrigem Übergehen von Parteivorbringen im Arzthaftungsprozess
Leitsätze
Übergeht das Gericht den Sachvortrag einer Partei, ohne dass dafür eine gesetzliche Grundlage ersichtlich ist, stellt dies einen wesentlichen Mangel
des Verfahrens dar, der auch nach neuem Berufungsrecht die Zurückverweisung des Rechtsstreits rechtfertigt.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 11.1.2002 - 3 O 359/00 - samt dem ihm zugrundeliegenden Verfahren
aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsrechtszugs, an das
Landgericht zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
1
Die Klägerin begehrt Schadensersatz wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 11.1.2002, auf das
wegen der tatsächlichen Feststellungen Bezug genommen wird, abgewiesen. Die Frage eines Behandlungsfehlers hat es offengelassen, auf
etwaige Versäumnisse im Bereich der Eingriffsaufklärung ist es nicht eingegangen.
II.
A
2
Die zulässige Berufung der Klägerin hat (zunächst) Erfolg. Das Verfahren im ersten Rechtszug leidet an einem wesentlichen Mangel, aufgrund
dessen eine aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist. Auf Antrag der Klägerin ist daher nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die Sache unter
Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Landgericht zurückzuverweisen.
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1. Das Verfahren erster Instanz war fehlerhaft. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 9.1.2002, der am gleichen Tag beim Landgericht einging, zu
dem Ergänzungsgutachten vom 5.9.2001 Stellung genommen. In diesem Schriftsatz hat sie den mit der Klage geltend gemachten Anspruch
erstmals auch auf den Vorwurf gestützt, der Beklagte habe sie nicht ausreichend aufgeklärt. Die Klägerin hat im Berufungsrechtszug
unwidersprochen vorgetragen, der Vorwurf unzureichender Aufklärung sei Gegenstand dieser mündlichen Verhandlung gewesen. Dies ergibt
sich auch aus § 137 Abs. 3 ZPO. Gleichwohl finden sich weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils
Ausführungen zu einer Haftung des Beklagten wegen fehlerhafter Aufklärung. Es kann auch nicht angenommen werden, dass das Landgericht
das Vorbringen der Klägerin nach §§ 411 Abs. 4, 296 Abs. 1 ZPO oder nach § 296 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen wollte. Denn zum
einen hätte die Zurückweisung verspäteten Vorbringens in den Entscheidungsgründen konkret begründet werden müssen (Zöller/Greger, ZPO, §
296 Rdn. 31 m.w.N.). Zum anderen war die mit Verfügung vom 10.9.2001 gesetzte Frist (I 211) nicht wirksam, weil sie nach § 411 Abs. 4 Satz 2
ZPO durch das Gericht - also die Kammer - hätte gesetzt werden müssen (BGH, Urt. v. 22.5.2001 - VI ZR 268/00, NJW-RR 2001, 1431). Eine
Fristsetzung durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter genügt nicht.
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Die Klägerin hat diesen Verfahrensmangel in einer - noch - den Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO genügenden Weise gerügt.
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2. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auch auf diesem Verfahrensfehler, denn es besteht die Möglichkeit, dass die Entscheidung anders
ausgefallen wäre, wenn das Gericht dem Vorbringen der Klägerin zu der unzureichenden Aufklärung nachgegangen wäre. Zwar hat das
Landgericht festgestellt, die Klägerin habe nicht den Nachweis erbringen können, dass die Schädigung des nervus thoracicus longus rechts auf
die Operation vom 12.9.1995 zurückzuführen sei. Und auch im Rahmen einer Schadensersatzklage wegen Verletzung der ärztlichen
Aufklärungspflicht obliegt es dem Patienten zu beweisen, dass der Gesundheitsschaden auf dem Eingriff beruht, über den er mangelhaft
aufgeklärt worden ist. Die Beweislast liegt hier ebenso wie bei der Haftung wegen eines Behandlungsfehlers bei der Patientenseite (BGH, Urt. v.
1.10.1985 - VI ZR 19/84, NJW 1986, 1541, 1542). Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich des Beweismaßes. Soweit den Beklagten ein
Aufklärungsversäumnis zur Last fallen sollte, beträfe die Frage nach den Folgen des wegen fehlender Einwilligung schon an sich rechtswidrigen
Eingriffs die haftungsausfüllende Kausalität, so dass die Regelung des § 287 ZPO Anwendung findet (BGH, Urt. v. 4.11.1975 - VI ZR 226/73, NJW
1976, 363; Urt. v. 13.1.1987 - VI ZR 82/66, NJW 1987, 1481, 1482; OLG Oldenburg, Urt. v. 17.10.1995 - 5 U 65/95, VersR 1997, 192, 193). Es ist
nach den Umständen nicht von vornherein auszuschließen, dass das Landgericht, wenn es dem Vorbringen der Klägerin zur Haftung wegen
fehlerhafter Aufklärung nachgegangen wäre, bei der dann gebotenen Anwendung des § 287 ZPO zu einer anderen Auffassung hinsichtlich des
Nachweises der Ursächlichkeit für den Schaden gekommen wäre. Der Sachverständige hat, wie das Landgericht nicht verkannt hat, den
ursächlichen Zusammenhang zwischen der Nervverletzung und der Operation als deutlich wahrscheinlicher bezeichnet als operationsfremde,
andere Ursachen. Es ist überdies nicht ersichtlich, ob das Landgericht bei seiner Würdigung des Gutachtens alle erheblichen Umstände
berücksichtigt hat. Die Überzeugungsbildung bezüglich der Kausalität ist u.U. auch von der Frage abhängig, inwieweit ein Aufklärungsdefizit
vorliegt und wie es sich auf die Behandlung der Klägerin ausgewirkt hat. Auch fehlen Feststellungen des Landgerichts zu der Ursache der von
der Klägerin beklagten Schmerzen. Dem Gutachten ist insoweit lediglich zu entnehmen, dass sie jedenfalls nicht unmittelbar mit der Schädigung
des nervus thoracicus longus zusammenhängen. Nachdem das Landgericht die Frage der Kausalität bislang ausschließlich unter dem Aspekt
der Haftung wegen eines Behandlungsfehlers und auch insoweit nur hinsichtlich der Verletzung des nervus thoracicus longus erörtert hat, kann
derzeit nicht entschieden werden, ob eine Kausalität der Behandlung durch die Beklagten für die von der Klägerin beklagten Beschwerden unter
Zugrundelegung des Maßstabs des § 287 ZPO zu bejahen wäre. Infolge des Verfahrensmangels ist eine weitere und nunmehr gründlichere
Aufklärung als bisher durch ergänzende Beweisaufnahme, insbesondere durch Sachverständigengutachten und sich anschließende oder
begleitende Befragung des Sachverständigen erforderlich. Der Senat hält es für angemessen, die Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges
zurückzuverweisen.
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Es kommt deshalb im Ergebnis nicht darauf an, dass die Angriffe der Berufung gegen der Verneinung der Kausalität eines etwaigen fehlerhaften
Eingriffs für die Parese im Urteil des Landgerichts den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung nicht genügen (§ 520
Abs. 2 Nr. 3 ZPO), dass die Behauptung, der angebliche Fehler bei der Operation sei grob, als neue Tatsache im Berufungsrechtszug nicht zu
berücksichtigen gewesen wäre und auch insoweit die Berufungsbegründung dem Maßstab des § 520 Abs. 2 Nr. 4 ZPO nicht genügt; immerhin
mag in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass das Landgericht unverständlicherweise der Frage eines Behandlungsfehlers
letztlich nicht nachgegangen ist und sich mit den keineswegs widerspruchsfreien Gutachten vom 18.04. und 05.09.2001 begnügt hat (vgl. dazu
auch unten B 2).
B
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Bei der erneuten Verhandlung des Rechtsstreits wird das Landgericht folgende Punkte zu berücksichtigen haben:
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1. Soweit die Klägerin Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz künftiger materieller Schäden begehrt, sind Zweifel an der Zulässigkeit der
Klage nicht begründet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Feststellungsinteresse nur verneint werden, wenn
aus Sicht des Patienten bei verständiger Beurteilung kein Grund bestehen kann, mit Spätfolgen immerhin zu rechnen und ihretwegen dem
Einwand der Verjährung vorzubeugen ist (BGH, Urt. v. 16.1.2001 - VI ZR 381/99, BGHReport 2001, 182 = NJW 2001, 1431 m.w.N.). Nachdem die
Klägerin geltend macht, sie leide bis heute an den Folgen der ärztlichen Behandlung, kann das Feststellungsinteresse nicht verneint werden.
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2. Das Landgericht wird der Frage nachzugehen haben, ob bei der Klägerin eine Teil- oder ein Vollresektion der 1. Rippe erfolgte. Nach den
Ausführungen des Sachverständigen ist anzunehmen, dass das Risiko einer Verletzung des nervus thoracicus longus u.a. von dem Umfang der
Resektion abhängt. Der Sachverständige Prof. Dr. G. hat hierzu in Auseinandersetzung mit dem für die Gutachterkommission tätigen
Sachverständigen PD Dr. H. deutlich gemacht, dass eine vollständige Resektion anzustreben sei. Nach dem Operationsbericht über die Klägerin
wies das Resektat jedoch nur eine Länge von 6 bis 7 cm auf. Das Landgericht ist der von der Klägerin mit Schriftsatz vom 9.1.2002
aufgeworfenen, sich im übrigen aber auch aufdrängenden Frage nicht nachgegangen, ob aus dem OP-Bericht zu folgern ist, dass nur eine
Teilresektion erfolgte, gegebenenfalls, welche Auswirkungen das auf die Frage des Vorliegens eines Behandlungsfehlers bzw. die Kausalität der
Operation für die Nervverletzung hat. Eine weitere Aufklärung mit Hilfe des Sachverständigen ist hierzu erforderlich, damit sich das Landgericht
darüber schlüssig werden kann, ob eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit einer Schädigung des Nerven bei einer Teilresektion es nahe legt,
dass die Schädigung auf einem im Hinblick auf das Maß der Resektion fehlerhaften Eingriff beruht.
10 3. Das Landgericht wird außerdem aufklären müssen, worauf die Schmerzen der Klägerin zurückzuführen sind. Nach den Ausführungen des
Sachverständigen im Gutachten vom 18.4.2001 ist die Ursache dieser Schmerzen völlig ungeklärt. Nachdem die Klägerin diese Schmerzen in
den Mittelpunkt der von ihr beklagten Beschwerden stellt, das Gutachten aber eine Neuralgie infolge der Verletzung des nervus thoracicus
longus ausschließt, ist hier eine weitere Aufklärung geboten, insbesondere nachdem die Ausführungen im Gutachten vom 18.04.2001 S. 14 es
als nicht fernliegend erscheinen lassen, dass die Symptome eines persistierenden Thoratic outlet Syndroms Ursache sein können, so dass der
Frage nachzugehen ist, wieso dann die Operation vom 12.09.1995 nicht zum Erfolg geführt hat und ob dafür nicht eine - nicht veranlasste - bloße
Teilresektion verantwortlich ist.
11 4. Das Landgericht wird ferner der im Gutachten des Sachverständigen angesprochenen Möglichkeit anderer Ursachen der Beschwerden der
Klägerin nachzugehen haben. Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie zum Thoracic Outlet Syndrom zur Nachsorge
(abrufbar im Internet unter ) ist die postoperative Schonung des betroffenen Armes für wenigstens sechs Wochen von ausschlaggebender
Bedeutung. Massagen und krankengymnastische Übungen sind zu vermeiden. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 18.4.2001
erklärt, dass eine Schädigung des Nerven auch durch Krankengymnastik denkbar ist (Gutachten S. 15). Aus den von der Klägerin vorgelegten
Kopien aus den Krankenakten ergibt sich, dass schon ab dem zweiten postoperativen Tag Krankengymnastik vermerkt ist. Der Sachverständige
konnte, wie auf S. 2 des ergänzenden Gutachtens vom 5.9.2001 ausgeführt, den Unterlagen nicht entnehmen, welche Übungen mit welchem
Bewegungsausmaß durchgeführt wurden. Die Klägerin trägt nunmehr vor, die Beklagten hätten sie auf das Risiko einer Nervenlähmung, die
durch krankengymnastische Übungen verursacht werden könnten, hinweisen müssen (II 49). Auch wenn diese Behauptung neu im Sinn von §
529 ZPO ist und im Berufungsrechtszug nicht zu berücksichtigen gewesen wäre, wird das Landgericht dieser Frage nachzugehen haben. Bei der
insoweit erforderlichen weiteren Aufklärung wird das Landgericht auch zu prüfen haben, inwieweit die Leitlinien, die sich auf dem Stand von
1997 befinden, den zum maßgeblichen Zeitpunkt der Operation der Klägerin geltenden Standard wiedergeben.
12 5. Das Landgericht wird dabei erneut die Krankenunterlagen im Original heranzuziehen haben. Diese lagen im Berufungsrechtszug nicht vor,
nachdem sie vom Landgericht unverständlicherweise bereits vor Eintritt der Rechtskraft weggegeben wurden, wobei hinzukommt, dass der
entsprechende Vermerk in den Akten (I 255) nicht erkennen lässt, was wohin versandt wurde.
C
13 Eine Kostenentscheidung und ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit sind nicht veranlasst.
14 Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.