Urteil des OLG Hamm vom 14.03.2004

OLG Hamm: zivilrechtliche haftung, zumutbare arbeit, auflage, gefahr, fahrzeugführer, erwerbstätigkeit, mitfahrer, unterhaltspflicht, stillschweigend, zwangsvollstreckung

Oberlandesgericht Hamm, 13 U 194/04
Datum:
14.03.2004
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 U 194/04
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 2 O 751/03
Schlagworte:
Haftungsausschluss bei Trunkenheitsfahrt, entgangener Unterhalt
Normen:
§ 844 Abs. 2 BGB
Leitsätze:
1.
Dem Mitfahrer kann der Vorwurf eines eigenen Verschuldens gemacht
werden, wenn der Fahrzeugführer offensichtlich betrunken ist oder wenn
sich Zweifel an dessen Fahrtüchtigkeit aufdrängen müssen.
2.
Bei der Beurteilung der Werthaltigkeit eines Unterhaltsanspruchs ist es
zunächst unberücksichtigt zu lassen, wenn der Verpflichtete in der
Vergangenheit keinen Unterhalt geleistet hat. Ausgangspunkt der
Beurteilung muss die Annahme eines Regelfalls sein, in welchem
geschuldeter Unterhalt geleistet wird. Erst wenn Zwangsvollstreckung
und Strafverfolgung den Schuldner nicht zur Leistung bewegt haben,
kann auf dessen Unwillen geschlossen werden, der den gegen ihn
gerichteten Anspruch wertlos macht.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 07.10.2004 verkündete Urteil
der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufungsinstanz trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe (gemäß § 540 Abs. 1 ZPO)
1
I.
2
Der am 19.02.1998 geborene Kläger begehrt mit der Klage Schadensersatz wegen
3
entgangenen Unterhalts. Der Vater des Klägers, der am 08.06.1980 in Polen geborene
L2, wurde am 19.01.2002 gegen 13:40 Uhr bei einem Verkehrsunfall getötet.
Fahrzeugführer war der Sohn des Halters, der Zeuge L. Am Vormittag des Unfalltages
hatten der Zeuge L wie auch der Vater des Klägers Alkohol zu sich genommen.
Anschließend fuhren sie gemeinsam in Richtung C3. In einer leichten Rechtskurve
verlor der Zeuge L die Kontrolle über das Fahrzeug, das von der Fahrbahn abkam und
gegen mehrere Bäume prallte. Dabei wurde der Vater des Klägers tödlich verletzt.
Der Kläger erhielt Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz. Der Kläger ist der
Auffassung, dass ihm ein Schaden in Höhe des durch Beschluss des Familiengerichts
Bielefeld - 341 FH 330/01 - festgesetzten Unterhalts abzüglich Leistungen der
Unterhaltsvorschußkasse entstanden sei, den er im einzelnen berechnet. Für die Zeit
von März 2004 bis zur Vollendung seines 18. Lebensjahres begehrt er Zahlung von
monatlich zu gewährendem Unterhalt. Er hält den verlorenen Unterhaltsanspruch für
werthaltig.
4
Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat geltend gemacht, der Vater des Klägers
habe die nicht unerhebliche Alkoholisierung des Fahrers gekannt. Zweck der Fahrt sei
es gewesen, weitere alkoholische Getränke einzukaufen. Es greife daher ein
stillschweigend vereinbarter Haftungsausschluß ein. Der Anspruch scheide auch unter
dem Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr aus. Dem Kläger sei jedenfalls
kein Schaden entstanden, da der Getötete Zeit Lebens keinen Unterhalt geleistet habe.
Auch für die Zukunft könne nicht damit gerechnet werden, dass Unterhaltsansprüche
des Klägers gegen seinen Vater realisiert werden können. Dieser sei zur Zeit seines
Todes arbeitslos gewesen. In der Vergangenheit sei er nur in geringem Umfang
erwerbstätig gewesen.
5
Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme der Klage stattgegeben. Es ist den
Einwänden der Beklagten nicht gefolgt und hat ausgeführt, der Verstorbene hätte zwar
nicht unmittelbar zum Unfallzeitpunkt eine Erwerbstätigkeit mit beträchtlichem
Arbeitsentgelt aufgenommen, wäre jedoch zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage
gewesen, laufenden und rückständigen Unterhalt zu zahlen.
6
Mit der Berufung verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter. Sie
wiederholt und vertieft im wesentlichen das erstinstanzliche Vorbringen. Bei
lebensnaher Betrachtung müsse davon ausgegangen werden, dass der Getötete
niemals Leistungen auf seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kläger erbracht hätte.
7
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.
8
Im übrigen wird auf die Schriftsätze, die Sitzungsniederschrift der Kammer vom
16.09.2004, die zu Informationszwecken beigezogene Akte des Familiengerichts
Bielfeld - 341 FH 330/01 - und auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
9
II.
10
Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.
11
Der Klageanspruch ist auch nach Auffassung des Senats gerechtfertigt aus §§ 823 Abs.
1, 844 Abs. 2 BGB, 3 Nr. 1 PlichtVersG.
12
An der schuldhaften Verursachung des Unfalls durch den Zeugen L bestehen keine
Zweifel.
13
Ein Haftungsausschluß kommt nicht in Betracht. Allein die Tatsache, dass der Fahrer
die Unglücksfahrt im Interesse des anderen und aus Gefälligkeit ihm gegenüber
unternommen hat, rechtfertigt es nicht, einen stillschweigend vereinbarten
Haftungsausschluss anzunehmen. So haftet der Fahrer zum Beispiel grundsätzlich auch
dann für die verschuldete Verletzung eines Insassen, wenn er diesen unentgeltlich und
gefälligkeitshalber mitgenommen hat (Greger, Zivilrechtliche Haftung im
Straßenverkehr, 2. Auflage, § 16 StVG Rz. 205; Palandt-Heinrichs, 64. Auflage, § 276
Rz. 36 c). Besondere Umstände, die abweichend von diesem Grundsatz die Annahme
eines Haftungsausschlusses rechtfertigen könnten, sind weder vorgetragen noch
ersichtlich.
14
Auch ein Handeln auf eigenen Gefahr liegt nicht vor. Einem Mitfahrer kann im Grundsatz
nicht vorgeworfen werden, wenn er nicht prüft, ob der Fahrer fahrtüchtig ist; für die
Führung des Kraftfahrzeugs trägt vielmehr allein der Fahrer die Verantwortung (BGHZ
35, 320; Greger, a.a.O., § 9 Rz. 26 f.). Ihm ist jedoch dann der Vorwurf eines eigenen
Verschuldens zu machen, wenn der Fahrzeugführer offensichtlich betrunken ist und
deshalb die Gefahr eines Unfalls naheliegt, oder wenn sich ihm Zweifel an dessen
Fahruntüchtigkeit aufdrängen mußten (BGH NJW 1988, 2365; Greger, a.a.O., Rz. 27
m.w.N.). Allein die Kenntnis, dass der Fahrer alkoholische Getränke zu sich genommen
hatte, reicht hierzu nicht (BGH VersR 1970, 624). Nur wenn der Fahrgast weiß, dass der
Fahrer erhebliche Mengen Alkohol zu sich genommen hat, oder wenn
Ausfallerscheinungen wahrzunehmen sind, ist eine Mitverantwortung zu bejahen
(Greger, a.a.O.). Solche Umstände lassen sich hier nicht feststellen. Bei seiner
Vernehmung vor dem Landgericht erklärte der Zeuge D, dass nach seiner Erinnerung
der Vater des Klägers und der Zeuge L am Morgen beim gemeinsamen Frühstück vor
der Fahrt jeweils ein Glas Sekt von 0,2 l Größe getrunken hätten, welches halb und halb
mit "Red-Bull" gemischt gewesen sei. Auf den Vorhalt, dass er zuvor bei anderer
Gelegenheit zu Protokoll erklärt habe, dass es sich um je zwei Gläser gehandelt habe,
gab er an, dass er dies damals nach bestem Wissen gesagt habe. Nach seiner heutigen
Erinnerung sei es so gewesen, wie er es gerade abgegeben habe. Auch wenn man
davon ausgeht, dass der Vater des Klägers wußte, dass der Zeuge L vor Antritt der Fahrt
zwei Gläser mit einem Gemisch aus Sekt und "Red-Bull" getrunken hat, kann auf dieser
Grundlage nicht festgestellt werden, dass der Vater des Klägers wissen mußte, dass der
Fahrer erhebliche Alkoholmengen zu sich genommen hat und dadurch fahruntüchtig
war. Der Konsum von 0,2 l Sekt führt unter gewöhnlichen Umständen nicht zu einer
Blutalkoholkonzentration von 0,71 %o und auch nicht zur Fahruntüchtigkeit. Es ist nicht
ersichtlich, ob, wann und ob ggf. mit Kenntnis des Getöteten der Zeuge L weiteren
Alkohol zu sich genommen hat.
15
Die Voraussetzungen von § 844 Abs. 2 BGB liegen vor. Dieser Anspruch ist gegeben,
wenn der Getötete dem Anspruchsteller zum Unterhalt nach §§ 1601 ff. BGB verpflichtet
war. Es steht fest, dass der getötete Vater im unterhaltsrechtlichen Sinne leistungsfähig
war. Die Leistungsfähigkeit wird unterhaltsrechtlich nicht nach dem tatsächlich erzielten
Einkommen, sondern nach dem durch zumutbare Arbeit erzielbaren Einkommen
bestimmt. Dabei trifft den Unterhaltspflichtigen, der für minderjährige Kinder
aufzukommen hat, gemäß § 1603 Abs. 2 BGB eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit.
Der gesteigert Unterhaltspflichtige muß zum einen Zugeständnisse bei den
Arbeitsmodalitäten machen. Von ihm kann erwartet werden, dass er ungünstige
16
Arbeitszeiten und weniger qualifizierte Tätigkeiten ausführt. Auch muß der Vater
minderjähriger Kinder über eine vollschichtige Tätigkeit hinaus unter Umständen
Überstunden leisten und auch eine Nebentätigkeit annehmen (Palandt-Diederichsen,
64. Auflage, § 1603 Rz. 58). Der getötete Vater des Klägers war als gesunder 21-
jähriger Mann unter Aufbringung dieser gesteigerten Mühen in der Lage, auch ohne
Berufsausbildung ein Einkommen zu erzielen, das über den Selbstbehalt die
Gewährung von Unterhalt ermöglicht.
Ohne Erfolg beruft sich die Beklagte darauf, der Anspruch des Klägers gegen seinen
getöteten Vater sei nicht werthaltig gewesen. Zwar scheidet ein Anspruch aus § 844
Abs. 2 BGB aus, wenn sicher festgestellt werden kann, dass der Unterhaltsanspruch
gegen den getöteten Unterhaltspflichtigen niemals hätte beigetrieben werden können,
dem Unterhaltsberechtigten also insoweit kein Schaden entstanden ist (BGH NJW
1974, 1373; OLG Bremen FamRZ 1990, 403). Dabei handelt es sich nicht um eine
Frage der Ersatzpflicht des Schädigers an sich. Es geht vielmehr darum, ob der
Unterhaltsberechtigte sein Recht bei dem zu unterstellenden Weiterleben des
Verpflichteten hätte durchsetzten können. Daher ist es zunächst unberücksichtigt zu
lassen, wenn der Verpflichtete in der Vergangenheit keinen Unterhalt geleistet hat
(BGH, a.a.O., Staudinger-Röthel, § 844, Rz. 89). Die Feststellung, dass es an einem
ersatzpflichtigen Schaden mangelt, ist unter Anwendung von § 287 ZPO nach der
Prognose zu treffen, ob nach den Umständen des Falles mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit es niemals zu einer Leistung des geschuldeten Unterhalts im Falle
im Falle des Weiterlebens des getöteten Schuldners gekommen wäre. Dabei dürfen die
Anforderungen an die Darlegungslast des Geschädigten nicht überspannt werden ( OLG
Bremen, FamRZ 1990, 403, 404). Ausgangspunkt der Beurteilung muß die Annahme
eines Regelfalls sein, in welchem geschuldeter Unterhalt geleistet wird. Von Bedeutung
ist weiter das Alter des getöteten Unterhaltspflichtigen. Im Fall der Tötung eines jungen,
arbeitsfähigen Mannes ist daher grundsätzlich von der Werthaltigkeit des gegen diesen
gerichteten Unterhaltsanspruchs auszugegen (vgl. OLG Bremen, a.a.O., 404). Für den
Kläger spricht, dass der Getötete erst 21 Jahre alt war. Nur vordergründig spricht
dagegen, dass der Getötete lediglich sporadisch sozialversicherungspflichtige
Tätigkeiten ausgeübt hat und keine Berufsausbildung aufzuweisen hatte. Er hatte in
diesem Alter noch nicht im Erwerbsleben Fuß gefaßt. Eine weitere Reifung war jedoch
zu erwarten. Der Getötete stand erst am Anfang eines selbstverantwortlichen Lebens, in
das er erst noch hineinwachsen mußte. Die wenigsten 21-jährigen sind in der Lage,
Unterhaltsansprüche zu bedienen; das heißt aber gerade nicht, dass dies niemals der
Fall sein wird. Durch seine - wenn auch nur kurze - Erwerbstätigkeit hat der Getötete
gezeigt, dass er in diesem Reifeprozess steckte und ihm auch an seiner Eingliederung
gelegen war. Die Beweisaufnahme hat auch ergeben, dass zur Zeit des Unfalls
Anzeichen für Arbeitsbemühungen vorlagen. Der Getötete hat gegenüber dem Zeugen L
bekundet, dass es mit ihm ohne richtige Arbeit nicht weiterginge und er was machen
müsse. Er empfand daher seine Arbeitslosigkeit als unbefriedigend. Der Getötete hatte
sich zu seinem Sohn bekannt. Seine - nichteheliche - Vaterschaft steht fest. Er ist der
Festsetzung von Unterhalt durch das Familiengericht nicht entgegengetreten. Für die
günstige Prognose im Sinne von § 287 ZPO spricht weiterhin, dass der Getötete keinem
staatlichen Zwang zur Durchsetzung der Unterhaltspflicht ausgesetzt war. Erst wenn die
Zwangsvollstreckung aus einem Unterhaltstitel und die Strafverfolgung wegen einer
Unterhaltspflichtverletzung den Schuldner nicht zur Leistung bewegt haben, kann unter
Umständen auf dessen Unwillen geschlossen werden, der den gegen ihn gerichteten
Anspruch wertlos macht (BGH a.a.O., OLG Bremen a.a.O.). Regelmäßig führt der durch
diese Maßnahmen ausgeübte Druck dazu, dass unter ihrem Einfluss die
17
Zahlungspflichten durch die erforderlichen Anstrengungen erfüllt werden.
Für die Höhe der Unterhaltsrente ist der fiktiv geschuldete Unterhalt maßgebend. Dieser
bestimmt sich nach den unterhaltsrechtlichen Vorschriften (BGH NJW 2004, 358, 359).
Zutreffend hat daher das Landgericht die Höhe der geschuldeten Rente den Sätzen der
Regelbetragsverordnung für die erste Altersstufe entsprechend § 1612 a BGB
entnommen. Unter Anrechnung des hälftigen Kindergeldes gemäß § 1612 b Abs. 5 BGB
ergibt sich für die Zeit von Februar 2002 bis Juni 2003 ein Unterhaltsbetrag des beim
Unfall dreijährigen Klägers von 184,07 EUR. Seit Juli 2003 beläuft sich der Unterhalt auf
192,-- EUR. Unter Abzug der Leitungen der Unterhaltsvorschußkasse ergibt sich
folgende Rechnung:
18
Februar 2002 bis Juni 2003
17 x 184,07 EUR = 3129,19 EUR
Juli 2003 bis November 2003
5 x 192 EUR = + 960,-- EUR
Unterhaltvorschuß
- 2497,-- EUR
1592,19 EUR
19
In der Zeit von Dezember 2003 bis Februar 2004 beträgt beträgt die Differenz zwischen
dem geschuldeten Unterhalt von 192,-- EUR und den Leistungen der
Unterhaltsvorschußkasse monatlich 70,-- EUR, insgesamt mithin 210,-- EUR.
20
Die fortan zu leistende Rente beläuft sich auf monatlich 192,-- EUR für den beantragten
Zeitraum bis zur Volljährigkeit des Klägers.
21
III.
22
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen
nicht vor. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die
Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
Entscheidung des Revisionsgerichts.
23
IV.
24
Die Kostenentscheidung beruht § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
25