Urteil des OLG Hamm vom 23.09.2010

OLG Hamm (wiedereinsetzung in den vorigen stand, zpo, überwiegende wahrscheinlichkeit, angemessene frist, post, frist, kontrolle, folge, stand, wiedereinsetzung)

Oberlandesgericht Hamm, I-22 U 20/10
Datum:
23.09.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
22. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
I-22 U 20/10
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 8 O 145/08
Tenor:
Die Gehörsrüge des Klägers gegen den Senatsbeschluss vom
26.8.2010 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rügeverfahrens zu tragen.
Der Hilfsantrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die
Ver-säumung der Stellungnahmefrist gemäß § 522 Abs. 2 S. 2 ZPO wird
als unzulässig verworfen.
Gründe:
1
1.
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Die zulässige Gehörsrüge gegen den gemäß § 522 Abs. 3 ZPO unanfechtbaren
Zurückweisungsbeschluss bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Zutreffend ist, dass es eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1
GG darstellt, wenn ein Gericht bei seiner Entscheidung die Stellungnahme einer Partei,
für deren Einreichung ihr nach dem Gesetz eine angemessene Frist einzuräumen war
und auch tatsächlich eingeräumt worden ist, nicht berücksichtigt, obwohl sie innerhalb
der Frist bei ihm eingegangen ist. Darunter fällt es insbesondere auch, wenn die
Stellungnahmeschrift deshalb unbeachtet bleibt, weil sie innerhalb des gerichtlichen
Organisationsbereiches verlorengeht, verfächert wird o. ä. und deshalb gar nicht erst zur
Kenntnis der zur Entscheidung berufenen Richter gelangt.
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Ferner sei im vorliegenden Fall in tatsächlicher Hinsicht unterstellt, dass die
Stellungnahmeschrift entsprechend der Behauptung des Klägers am 4.8.2010 gefertigt
und abends in den Briefkasten auf dem E-Platz in C eingeworfen worden ist, wofür das
in den Dokumenteigenschaften der Originaldatei gespeicherte Erstellungsdatum sowie
die eidesstattlichen Versicherungen des Rechtsanwalts T und des Kanzleimitarbeiters L
– auch wenn letzterer bezüglich des Briefkasteneinwurfs nur eine generelle
Handhabung schildert – sprechen. Da die dem Kläger eingeräumte Stellungnahmefrist
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noch bis zum 19.8.2010 lief, wäre bei einer erwarteten Beförderung im Rahmen der
üblichen Postlaufzeiten die Frist auch ohne weiteres eingehalten worden.
Daraus ergibt sich aber nicht, dass der Senat mit seinem Zurückweisungsbeschluss das
rechtliche Gehör des Klägers verletzt hat.
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Auf der obigen Tatsachengrundlage bleibt nämlich offen, ob der Schriftsatz erst im
Rahmen des gerichtlichen Organisationsbereiches, d. h. ab Einwurf in einen
Hausbriefkasten oder ein Postfach des Oberlandesgerichts Hamm, oder bereits
während des Postlaufes in Verlust geraten ist.
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a)
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Der Auffassung des OLG Koblenz (OLGR 2008, 566), dass in dieser Konstellation von
einer Gehörsverletzung auszugehen ist, weil sie nicht auszuschließen ist, kann nicht
gefolgt werden.
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Anders als ggf. bei dem Tatbestandsmerkmal der Entscheidungserheblichkeit einer
Gehörsverletzung reicht es nämlich bei dem Merkmal der Gehörsverletzung als solcher
nicht aus, dass sie lediglich "nicht auszuschließen" ist. Denn während die Frage der
Entscheidungserheblichkeit eine hypothetische Ursächlichkeitsprüfung erfordert, die
schon ihrer Natur nach Unwägbarkeiten und ggf. auch Wertungsgesichtspunkte
beinhaltet, handelt es sich hier um eine reine Tatfrage. Auch eine solche ist zwar, wie
die tägliche Gerichtspraxis und auch die vorliegende Konstellation zeigt, nicht stets
einer vollständigen Aufklärung zugänglich, selbst wenn man im Rahmen des § 321a
ZPO von einer gerichtlichen Aufklärungs- und Amtsermittlungspflicht (vgl.
Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., Rn. 17 zu § 321a) ausgeht. Dieser Umstand
rechtfertigt es aber nicht, anstelle des vom Gesetzeswortlaut geforderten tatsächlichen
Vorliegens einer Gehörsverletzung ein sog. "non liquet", also ihre bloße Möglichkeit
oder auch einen wie auch immer zu definierenden Wahrscheinlichkeitsgrad (vgl.
Zöller/Vollkommer a. a. O.: "ernstliche und nicht auszuschließende Möglichkeit";
Baumbach/Hartmann, ZPO, 68. Aufl., Rn. 30 zu § 321a: "bestimmte Umstände …, aus
denen zumindest eine nicht ganz hergesuchte Möglichkeit einer Gehörsverletzung
vernünftigerweise abgeleitet werden kann, wenn nicht muss") ausreichen zu lassen.
Während die Zivilprozessordnung nämlich an anderen Stellen Herabsetzungen des
normalen Beweismaßes bzw. des notwendigen Überzeugungsgrades ausdrücklich
anordnet (z. B. Glaubhaftmachung in §§ 236 Abs. 2 S. 1, 920 Abs. 2 ZPO und selbst in §
321a Abs. 2 S. 1 ZPO bezüglich der Kenntniserlangung von dem Gehörsverstoß; "freie"
Überzeugung in § 287 ZPO), ist das bei dem Gehörsverstoß als solchem nicht der Fall.
Sein tatsächliches Vorliegen muss daher, nachdem es gemäß § 321a Abs. 2 S. 5 ZPO
von dem Rügeführer dargelegt worden ist, mit dem allgemein maßgeblichen
Überzeugungsgrad der "praktischen Gewissheit, die Zweifeln Schweigen gebietet,
wenngleich ohne sie völlig auszuschließen", feststellbar sein.
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Eine unzumutbare Beschränkung der Möglichkeit des § 321a ZPO liegt darin nicht.
Auch das Verfahren gemäß § 321a ZPO dient letztlich nur dem Ziel der materiell
richtigen Entscheidung von Zivilstreitigkeiten. Es kann daher nicht zwingend geboten
sein, einen Beteiligten dort vor Beweisschwierigkeiten zu bewahren, die ihm in gleicher
Weise auch ansonsten im Zivilverfahren begegnen können; die Folge, nämlich die
Gefahr der Aberkennung eines in Wirklichkeit bestehenden Anspruchs, ist im Ergebnis
keine andere. Und im allgemeinen Zivilverfahrensrecht entspricht es gefestigter – und
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zutreffender – Rechtsprechung, dass der Zugang einer einfachen Briefsendung trotz
bekannter sehr geringer Verlustquote bei der Post nicht im Wege des
Anscheinsbeweises zu vermuten ist. Daraus ergibt sich in einer Vielzahl von Fällen ein
unentrinnbares Beweisproblem für einen Beteiligten, der sich in völlig üblicher Weise
verhalten, nämlich ein rechtserhebliches Schreiben mit der in aller Regel zuverlässigen
normalen Post versendet hat. Dass diese Folge hinzunehmen ist, auch wenn sie zu
materiell unrichtigen Entscheidungen führt, steht dennoch nicht ernsthaft in Frage.
Hinzu kommt, dass durch eine erfolgreich geführte Gehörsrüge die Rechtskraftwirkung
eines gerichtlichen Urteils oder einer gleichgestellten Entscheidung durchbrochen wird.
Wegen der wichtigen Bedeutung, die der Rechtskraft durch ihre rechtssichernde und
befriedende Funktion zukommt, ist es in besonderem Maße geboten, die
Ausnahmetatbestände, die zu ihrer Durchbrechung führen, an klar definierte und
eindeutig festzustellende Tatbestandsvoraussetzungen zu knüpfen.
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b)
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Doch selbst wenn man entgegen den obigen Ausführungen für die Feststellung eines
Gehörsverstoßes eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreichen lassen
würde, wäre hier nicht von einer solchen auszugehen:
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Ob es statistisch wahrscheinlicher ist, dass ein mit der Post versandter, ordnungsgemäß
an ein Gericht adressierter Brief erst im Gerichtsbetrieb außer Kontrolle gerät als dass er
schon während des Postlaufes verlorengeht, ist bereits fraglich.
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Im vorliegenden Fall kommt jedoch zum einen noch hinzu, dass die Adressierung des
Stellungnahmeschriftsatzes falsch war; die Anschrift "Ostenallee 18" in Hamm ist nicht
diejenige des Oberlandesgerichts, sondern diejenige u. a. der Rechtsanwaltskammer.
Dadurch ist das Risiko einer Nichtzustellung jedenfalls objektiv erhöht worden. Anders
als ggf. früher, wo in aller Regel ortskundiges Stammpersonal in der Briefzustellung der
Post tätig war, ist nämlich in heutiger Zeit infolge des Einsatzes häufig wechselnder
Aushilfskräfte nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass solche Fehler bemerkt
werden und trotzdem eine korrekte Zustellung erfolgt.
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Zum anderen ist ein Stellungnahmeschriftsatz des Klägervertreters vom 4.8.2010 auch
bis zum heutigen Tage nicht zur Akte gelangt. Bei Schriftstücken, die nur im
Gerichtsbetrieb außer Kontrolle geraten, ist es aber eher ungewöhnlich, dass sie nicht
zumindest nach einiger Zeit wieder auftauchen, weil auch diejenigen Akten, Ablagen o.
ä., in die sie fehlerhaft einsortiert worden sind, sich in aller Regel ebenfalls im aktuellen
Gebrauch befinden, und die falsch einsortierten Schriftstücke deshalb dort alsbald
entdeckt werden.
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2.
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Der Hilfsantrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bleibt ebenfalls ohne Erfolg.
Er ist bereits unzulässig, weil die Stellungnahmefrist nach § 522 Abs. 2 S. 2 ZPO weder
eine Notfrist darstellt noch unter die sonstigen in § 233 ZPO aufgeführten Fristen fällt.
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