Urteil des OLG Hamm vom 09.09.2005

OLG Hamm: fahrverbot, geschwindigkeitsüberschreitung, einspruch, strafbarkeit, fahrzeug, anhänger, hinweispflicht, verfahrensmangel, rücknahme, umkehrschluss

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss OWi 191/05
Datum:
09.09.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss OWi 191/05
Vorinstanz:
Amtsgericht Minden, 15 OWiG 33 Js 1884/04 (762/04)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine
andere Abteilung des Amtsgerichts Minden zurückverwiesen.
Gründe:
1
I.
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Das Amtsgericht Minden hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher
Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer
Geldbuße von 100,- Euro und einem Fahrverbot von 1 Monat verurteilt.
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Das Amtsgericht hat zur Sache die folgenden Feststellungen getroffen:
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"Am 15.01.2004 befuhr er gegen 20.28 Uhr die BAB # Q FR E mit seinem Fahrzeug ##-
##.
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In Höhe des Kilometers 283,850 - im Bereich einer 50 km/h -Beschränkung - wurde er
vom Verkehrsmessgerät Multanova Typ MU VR 6 F, geeicht bis zum 31.12.2004,
erfasst. Das Gerät wurde nach Segmentprüfung um 14.45 Uhr aufgestellt und war bis
21.30 Uhr in Betrieb.
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Das klare Messfoto zeigt das Fahrzeug annähernd in Bildmitte, andere Fahrzeuge, die
den Messvorgang beeinträchtigen könnten, sind nicht ersichtlich.
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Bis zum Messpunkt durchfuhr der Betroffene eine Fahrtstrecke mit folgender
Beschilderung:
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km 281,950 Z. 123 Baustelle 800 m r+l
9
km 282,000 Z. 274 100 km/h r+l
10
km 282,150 Z. 500 Überleitung von drei auf zwei Fahr-
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streifen nach rechts 600 m r+l
12
km 282,250 Z. 274 80 km/h r+l
13
km 282,350 Z 500 Überleitung von drei auf zwei Fahr-
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streifen nach rechts 400 m r+l
15
km 282,450 Z.276 Überholverbot Lkw, Busse,
16
Pkw m. Anhänger r+l
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km 282,550 Z. 500 Überleitung von drei auf zwei Fahr-
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streifen nach rechts 200 m r+l
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km 282,650 Z. 274 60 km/h mit Zusatzzeichen
20
Radarkontrolle r+l
21
km 282,750 Z.276 Überholverbot f. Lkw, Busse,
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Pkw mit Anhänger r+l
23
km 282,850 Z. 500 Überleitung nach links 200 m r+l
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km 283,030 Z. 274 50 km/h mit Zusatzzeichen
25
Radarkontrolle r+l
26
km 283,300 Z. 274 50 km/h r+l
27
km 283,480 Z.274 50 km/h mit Zusatzzeichen
28
Gefahrenstelle r+l
29
km 283,850 Standort der Radarmessstelle am rechten Fahrbahnrand.
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Die von dieser Strecke vorhandene Bilderfolge wurde ebenfalls eingesehen und zur
Urteilsgrundlage gemacht.
31
......
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Damit war von einem Messwert von 82 km/h und einem verwertbaren Wert von 79 km/h
auszugehen. Bei der Vielzahl der Warnhinweise, der Vielzahl der Schilder, teilweise mit
Radarhinweis - jeweils beidseitig - ist das Gericht von Vorsatz ausgegangen.
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Die Vielzahl der Hinweise auf 80 km/h, 60 km/h und letztlich 3 x 50 km/h, einmal mit
Hinweis auf Radar, spricht dafür, dass hier gerade kein Übersehen Grundlage des
Fahrverhaltens, sondern ein bewusstes Zuschnellfahren vorlag.
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Damit liegt Vorsatz vor und es konnte nicht bei 50 Euro verbleiben. 100 Euro und ein
Fahrverbot von 1 Monat erschien geboten.”
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Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffen mit seiner Rechtsbeschwerde, die er mit
der Verletzung formellen und materiellen Rechts näher begründet hat.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Urteil aufzuheben.
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II.
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Die zulässige Rechtsbeschwerde hat zumindest vorläufig Erfolg.
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Sie führt bereits auf die Verfahrensrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zu einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Minden.
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Der Betroffene beanstandet in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S.2 StPO, 71
OWiG genügenden Form zu Recht, das Amtsgericht habe einen erforderlichen
rechtlichen Hinweis nach § 265 Abs. 2 StPO auf die Möglichkeit der Verhängung eines
Fahrverbotes nach § 25 StVG unterlassen.
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Nach § 265 Abs. 1 StPO darf ein Angeklagter nicht aufgrund eines anderen als des in
der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne
dass er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts besonders
hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist. Ebenso ist
gemäß § 265 Abs. 2 StPO zu verfahren, wenn sich erst in der Hauptverhandlung vom
Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit
erhöhen oder die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung
rechtfertigen.
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Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist die Vorschrift des § 265 StPO anzuwenden
(Göhler § 71, Rn 50 m.w. N.).
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Daraus folgt, dass der Betroffene z.B. darauf hingewiesen werden muss, wenn die
Festsetzung der Geldbuße auf eine andere Bußgeldvorschrift als die im
Bußgeldbescheid angegebene gestützt wird.
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Der dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegende Bußgeldbescheid des Kreises N
vom 6.5.2004 sah ein Bußgeld wegen Geschwindigkeitsüberschreitung von 50,- Euro
vor.
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Die Nichtangabe der Schuldform im Bußgeldbescheid hat zur Folge, dass in der Regel
von dem Vorwurf fahrlässigen Handelns auszugehen ist (vgl. BayObLG DAR 1988, 368;
OLG Hamm VRS 61, 292, 293; MDR 1973, 783; Göhler OWiG, 13. Aufl., § 71 Rn 50
mwN). Das hat die Verwaltungsbehörde erkennbar auch getan, denn sie hat sich mit
ihren Sanktionen an die im Bußgeldkatalog vorgegebenen, von fahrlässiger Begehung
und gewöhnlichen Tatumständen ausgehenden Regelsätze gehalten (vgl. §§ 1 II , 2 I
BKatV).
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Die Anordnung eines Fahrverbotes war dagegen im Bußgeldbescheid nicht
vorgesehen.
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Zwar handelt es sich bei dem Fahrverbot nach § 25 StVG weder um einen besonders
vorgesehen Umstand, der die Strafbarkeit erhöht, noch um eine Maßregel der
Besserung und Sicherung im Sinne des § 265 Abs. 2 StPO, sondern um eine
Nebenfolge (Henschel § 25 StVG Rn. 11).
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In der Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, dass in entsprechender Anwendung des
§ 265 Abs. 2 StPO ein Hinweis erforderlich ist, wenn der Tatrichter ein im
Bußgeldbescheid nicht angeordnetes Fahrverbot verhängen will (BGHSt 29, 274;
Göhler § 71 Rn 50; Bohnert Kommentar zum OWiG, 2003, § 71 84,
Rebmann/Roth/Herrmann OWiG 3. Aufl (März 1998) § 74 Rn 9 mit weiteren Nachweisen
der Rechtsprechung).
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Der BGH folgert dies aus der Notwendigkeit, für die Verhängung des Fahrverbots
gemäß § 25 StVG über die bloße Begehung einer Verkehrsordnungswidrigkeit
hinausgehende Feststellungen zu treffen. Dieses Erfordernis rechtfertige eine
entsprechende Anwendung des § 265 Abs. 2 StPO, der die Fälle betreffe, in denen ein
bestimmtes Merkmal zum gesetzlichen Tatbestand hinzutritt und dadurch die
Strafbarkeit erhöht oder die Anordnung der Maßnahme der Besserung und Sicherung
rechtfertigt.
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Hinzu kommt, dass § 265 StPO eine gesetzliche Konkretisierung der allgemeinen
prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts ist. Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren
soll der Betroffene dadurch in die Lage versetzt werden, seine Verteidigung auf die
neuen Gesichtspunkte einzustellen zum Beispiel durch Vortrag von persönlichen oder
beruflichen Umständen, die der Anordnung eines Fahrverbotes entgegenstehen
könnten. Die Hinweispflicht dient damit auch der Gewährung rechtlichen Gehörs und
der Garantie eines fairen Verfahrens (MeyerGoßner § 265 Rn. 3 ff.).
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Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls ist dem Verteidiger nur der rechtliche
Hinweis erteilt worden, das auch die Ahndung wegen einer vorsätzlichen
Geschwindigkeitsüberschreitung in Betracht käme, nicht aber der Hinweis auf die
Möglichkeit der Verhängung eines Fahrverbotes nach § 25 StVG.
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Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 und 2 StPO zu
den wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung gehört, deren Beachtung nach
§ 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BGHSt 23, 95,96; BGH,
StV 1994, 232; OLG Hamm, NJW 1980, 1587, BGH bei Dallinger MDR 1970, 198; OLG
Brandenburg NStZ-RR 2002, 179; OLG Brandenburg DAR 2000, 40; OLG Stuttgart DAR
1989, 392; SK-Schlüchter StPO (Mai 1995) § 265 Rn 35 u 52; Pfeiffer StPO 2. Aufl § 265
Rn 8 a.E.) oder ob es ausreicht, wenn der Betroffene oder der Verteidiger durch den
Gang der Hauptverhandlung über die Veränderung unterrichtet wird, was auch im Wege
des Freibeweises ermittelbar sein soll (so bei Veränderung der Sachlage nach § 265
Abs. 4 StPO BGHR StPO § 265 IV Hinweispflicht 5; OLG Frankfurt StV 1985, 224;
weitergehend Göhler OWiG 13, Aufl § 71 Rn. 50 a.E; OLG Düsseldorf NZV 1994, 204
unter unzutreffender Bezugnahme auf OLG Frankfurt StV 1985, aaO).
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Denn der Umstand, dass der Bußgeldrichter ausweislich seines Vermerkes vom
1.3.2005 den rechtlichen Hinweis auf
vorsätzliches Handeln
Uneinsichtigkeit des Verteidigers und des Betroffenen erteilt hat, vermag - unabhängig
von der Sachfremdheit dieser Erwägung - den ( im Umkehrschluss) unterbliebenen
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Hinweis auf die Möglichkeit eines Fahrverbotes - mag dieser auch weder förmlich
erfolgen müssen noch protokollpflichtig sein ( OLG Düsseldorf aaO; Göhler aaO) - nicht
zu ersetzen.
Dass der Verteidiger hierdurch oder durch den Gang der Hauptverhandlung im übrigen
über die Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes im Hinblick auf das Fahrverbot
unterrichtet worden wären, lässt sich daraus nicht herleiten.
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Es ist nicht auszuschließen, dass der Betroffene im Fall eines entsprechenden
rechtlichen Hinweises seine Verteidigung anders eingerichtet, möglicherweise auch
den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zurückgenommen oder auf den
Rechtsfolgenausspruch beschränkt hätte (vgl. OLG Hamm, VRS 63, 56). Die Anordnung
der Maßregel beruht daher auf dem Verfahrensverstoß (§ 337 StPO).
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Zwar betrifft der dargestellte Verfahrensmangel unmittelbar nur den
Rechtsfolgenausspruch. Da der Betroffene bzw. dessen Verteidiger aber nach Erteilung
des rechtsfehlerhaft unterbliebenen Hinweises möglicherweise seinen Einspruch gegen
den Einspruch zurückgenommen hätte und ihm diese Verfahrensweise nicht
abgeschnitten werden darf, ist das Urteil insgesamt mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO). Würde die Aufhebung und Zurückverweisung
dagegen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt, käme eine Rücknahme des
Einspruchs nicht mehr in Betracht (vgl. LR/Hanack StPO 25. Aufl. § 302 Rn. 14).
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Die Sache war daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten
der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Minden
zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).
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Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat noch auf Folgendes hin:
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Zwar war sind an die Urteilsgründe im Bußgeldverfahren keine hohen Anforderungen zu
stellen. Die Gründe müssen jedoch so beschaffen sein, dass das
Rechtsbeschwerdegericht zur Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung
hinsichtlich aller objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale entnehmen kann,
welche Feststellungen der Tat-
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richter getroffen hat (zu vgl. Göhler, 13. Auflg., § 71 OWiG, Rn. 42 m.w.N.). Das Urteil
muss in der Regel auch erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine
Überzeugung gestützt hat, wie sich der Betroffene eingelassen hat und ob das Gericht
dieser Einlassung folgt oder ob und inwieweit es seine Einlassung für widerlegt ansieht
(Göhler, a.a.O., Rn. 43 m.w.N.).
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Das Rechtsbeschwerdegericht hat bereits mehrfach anlässlich vergleichbarer Fälle
darauf hingewiesen, dass sich den Urteilsgründen entnehmen lassen muss, worauf sich
die vorgenannten Feststellungen zur Beschilderung, zu dem zur Anwendung gelangten
Messverfahren, zum Messwert und zu dem in Abzug gebrachten Toleranzwert gründen.
Es fehlen Ausführungen, dass diese Feststellungen etwa aufgrund der Angaben eines
Polizeibeamten getroffen wurden oder durch das Verlesen von Urkunden in die
Hauptverhandlung eingeführt wurden. Zwar kann die Feststellung einer
Geschwindigkeitsüberschreitung in Ausnahmefällen auch auf ein uneingeschränktes,
glaubhaftes Geständnis des Betroffenen gestützt werden, so wenn er die von ihm
zugestandene Geschwindigkeit aufgrund einer Beobachtung des Tachometers oder
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anhand eigener Erfahrungswerte geschätzt hat (Göhler, a.a.O., Rn. 43 f m.w.N.). Eine
derartige Fallgestaltung hat hier aber - der Betroffene hat durch seinen Verteidiger
lediglich eingeräumt, das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt geführt zu haben -
offenkundig nicht vorgelegen.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass derjenige Betroffene, der die durch einen
Geschwindigkeitstrichter von ihm verlangte erhöhte Aufmerksamkeit grob nachlässig
nicht erbringt, grob nachlässig oder gleichgültig mit der Folge handelt, dass nicht nur die
Verhängung eines Fahrverbotes wegen einer auch subjektiv groben Pflichtwidrigkeit
angemessen erscheint, sondern auch ernsthaft geprüft werden muss, ob nicht
vorsätzliches Handeln vorliegt
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( OLG Hamm NZV 1999, 341).
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