Urteil des OLG Hamm vom 27.11.1995

OLG Hamm (medikamentöse behandlung, einkommen, getrennt lebender ehegatte, 1995, gutachten, erwerbstätigkeit, behandlung, vermietung, psychische störung, medikament)

Oberlandesgericht Hamm, 8 UF 54/95
Datum:
27.11.1995
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Senat für Familiensachen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 UF 54/95
Vorinstanz:
Amtsgericht Gelsenkirchen, 24 F 180/92
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 13. Januar 1995 verkündete
Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Gelsenkirchen abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Trennungsunterhalt wie folgt
zu zahlen:
a) Vom 1. Juli bis 31. August 1992 sowie vom 1. Dezember 1992 bis
zum 5. Januar 1995 monatlich 1.629,00 DM und
b) vom 1. September bis zum 30. November 1992 monatlich 1.214,00
DM.
Die weitergehende Klage bleibt abgewiesen, die weitergehende
Berufung wird zurückgewiesen.
Die Anschlußberufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des ersten Rechtszuges tragen zu 83 % der Beklagte und zu
17 % die Klägerin; die Kosten des Berufungsverfahrens werden zu 93 %
dem Beklagten und zu 7 % der Klägerin auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
1
Die Parteien streiten um Trennungsunterhalt für die Zeit vom 1. Juli 1992 bis zum 5.
Januar 1995.
2
Ihre am 13. Februar 1987 geschlossene Ehe ist kinderlos geblieben. Die Ehewohnung
befand sich in einem Dreifamilienhaus, welches zu 62 1/2 % im Miteigentum der
Klägerin steht. Im April 1991 haben sich die Parteien getrennt, der Beklagte lebt seither
in einer ihm gehörenden Eigentumswohnung. Bis Juni 1992 zahlte er der Klägerin einen
vereinbarten Trennungsunterhalt von monatlich 2.113,00 DM.
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Ein im Januar 1992 von der Beklagten eingeleitetes Scheidungsverfahren blieb ohne
Erfolg (24 F 7/92 AG Gelsenkirchen = 8 UF 233/92 OLG Hamm). In einem weiteren
Verfahren (24 F 131/94 AG Gelsenkirchen) hat der Beklagte inzwischen die Scheidung
der Ehe erreicht, Rechtskraft ist am 6. Januar 1995 eingetreten.
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Der jetzt 39jährige Beklagte hat als Diplom-Ingenieur bei der ... bis Juni 1992 ein
monatliches Nettoeinkommen von rd. 5.000,00 DM erzielt. Im Wintersemester 1992/93
nahm er ein weiterführendes Studiums zum Wirtschaftsingenieur auf, welches jetzt
unmittelbar vor dem Abschluß steht. Der Beklagte ist Eigentümer zweier Miethäuser in ...
aus denen er monatliche Bruttomieten von mehreren tausend DM erzielt, nach der
Darstellung der Klägerin rd. 7.000,00 DM.
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Die 37jährige Klägerin hat nach der mittleren Reife von 1976 bis 1978 eine Ausbildung
zur Arzthelferin absolviert und anschließend bis 1980 in diesem Beruf gearbeitet.
Sodann unternahm sie erfolglos einen Schulversuch mit dem Ziel der Erlangung des
Abiturs. Anschließend ließ sie sich zur Fußpflegerin ausbilden und arbeitete in diesem
Beruf, zum Teil fest angestellt, überwiegend jedoch freiberuflich. In den Jahren 1987/88
war sie im Rahmen einer ABM-Maßnahme in der ... tätig. Von September bis November
1992 war sie als Arzthelferin bei einem Orthopäden beschäftigt, wurde jedoch schon in
der Probezeit entlassen. Seither erzielt sie aus freiberuflich ausgeübter Fußpflege nach
ihren Angaben zwischen 100,00 DM und 200,00 DM monatlich.
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Die Klägerin hat behauptet, wegen einer 1989/90 aufgetretenen Angstneurose
arbeitsunfähig zu sein. Therapien bei dem Psychiater ... und bei einer Psychologin
seien erfolglos geblieben. Der Beklagte erziele aus Vermietung monatlich zwischen
5.000,00 DM und 6.000,00 DM.
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an sie vom 1. Juli bis zum 31. August 1992 und ab dem 1.
Dezember 1992 monatlichen Getrenntlebensunterhalt in Hohe von 2.113,10 DM und in
den Monaten September bis November 1992 monatlich 1.096,33 DM zu zahlen.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat behauptet, aus Vermietung nur negative Erlöse zu erzielen. Die Klägerin verdiene
monatlich mindestens 500,00 DM als Fußpflegerin. Die behauptete krankheitsbedingte
Arbeitsunfähigkeit der Klägerin bestreite er.
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Das Amtsgericht hat zur Erwerbsfähigkeit der Klägerin ein Gutachten des
Privatdozenten Dr. med. ... eingeholt sowie den behandelnden Psychiater ... als Zeugen
gehört. Durch das angefochtene Urteil hat es sodann den Beklagten verurteilt, an die
Klägerin für Juli und August 1992 sowie für die Zeit von Dezember 1992 bis März 1993
monatlich 966,31 DM Trennungsunterhalt zu zahlen. Die weitergehende Klage hat es
abgewiesen. Das Amtsgericht hat das Einkommen des Beklagten aus Vermietung und
Verpachtung sowie aus Kapitalerträgen mit monatlich 2.917,78 DM und das Einkommen
der Klägerin aus Fußpflege und Kapitalerträgen mit insgesamt 693,03 DM
angenommen. 3/7 der Einkommensdifferenz mit 966,31 DM könne die Klägerin als
Unterhaltsanspruch verlangen, wobei sie allerdings ihren Bedarf in den Monaten
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September bis November 1992 durch eigene Erwerbstätigkeit selbst gedeckt habe. Ab
April 1993 stehe ihr kein Unterhaltsanspruch mehr zu, da sie zwar krank sei, eine
erfolgversprechende medikamentöse Behandlung aber vorwerfbar unterlassen habe.
Diese Behandlung hätte ab April 1993 zur Wiederherstellung ihrer Erwerbsfähigkeit
geführt. Seither müsse ihr daher ein fiktives Einkommen aus vollschichtiger
Erwerbstätigkeit mit rd. 3.000,00 DM brutto monatlich angerechnet werden.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die in erster Linie rügt, das Amtsgericht
habe die Tragweite ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung unterschätzt. Seit Ende
1989 leide sie an Panikattacken mit phobischen Symptomen bei neurotischer
Entwicklung. Auch ab April 1993 sei ihr eine vollschichtige Erwerbstätigkeit infolge ihrer
Erkrankung nicht möglich. Unzutreffend sei die Annahme des Amtsgerichts, daß durch
die Einnahme sogenannter MAO-Hemmer (Aurorix) Beschwerdefreiheit erreichbar sei.
Dieses Medikament habe keine andere Wirkung als die von ihr ständig eingenommenen
Medikamente Tavor und Arminol. Jedenfalls sei die Einnahme des von ... empfohlenen
Aurorix unzumutbar, weil mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden.
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Der Beklagte sei leistungsfähig. Sie stelle in Frage, ob die Aufgabe seiner
Erwerbstätigkeit und die Aufnahme eines Studiums von ihr unterhaltsrechtlich
hinzunehmen seien. Jedenfalls aber erziele der Beklagte aus Vermietung und
Verpachtung Einkommen in einer Höhe, welches die Deckung ihres vom Amtsgericht
mit rd. 1.630,00 DM angenommenen Bedarfes ohne weiteres ermögliche.
15
Die Klägerin beantragt - nachdem sie die Hauptsache für die Zeit ab dem 6. Januar
1995 für erledigt erklärte -,
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abändernd den Beklagten zur Zahlung monatlichen Trennungsunterhalts von 1.700,00
DM ab Juli 1992 an sie zu verurteilen.
17
Der Beklagte schließt sich der Erledigungserklärung an und beantragt,
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1) die Berufung zurückzuweisen,
2) teilweise abändernd die Klage insgesamt abzuweisen.
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Er bestreite weiterhin krankheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit der Klägerin. Das
Sachverständigengutachten rechtfertige nicht diese Annahme, insbesondere seien die
Beschwerden der Klägerin nicht objektivierbar. Das Gutachten beruhe nur auf der
subjektiven Schilderung der Klägerin. Diese simuliere eine Krankheit; allenfalls sei eine
unterhaltsrechtlich nicht relevante Unterhaltsneurose anzunehmen, die aber der
Erwerbsfähigkeit nicht entgegenstehe.
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Jedenfalls aber habe die Klägerin ihre Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt, indem sie
die Einnahme des Medikamentes Aurorix, welches sie sicher beschwerdefrei gemacht
hätte, abgelehnt habe und weiter ablehne. Die von der Klägerin behaupteten
Nebenwirkungen seien zu vernachlässigen.
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Er selbst sei im übrigen auch leistungsunfähig. Das aufgenommene Studium, welches
einem gemeinsamen Lebensplan der Parteien entsprochen habe, werde erst jetzt
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beendet. Aus Vermietung und Verpachtung erziele er seit 1990 nur negative Erträge.
Der Senat hat ein weiteres Gutachten des Sachverständigen Dr. med. ... eingeholt zur
Frage der Erwerbsfähigkeit der Klägerin und auch zu der Frage, ob durch rechtzeitige
medikamentöse Behandlung (Gabe von MAO-Hemmern) eine Beschwerdefreiheit der
Klägerin herbeizuführen gewesen wäre und ob der Klägerin die Einnahme derartiger
Medikamente mit Rücksicht auf die Angstproblematik möglich und zumutbar gewesen
wäre. Wegen des Gutachteninhaltes wird auf das schriftliche Gutachten des
Privatdozenten Dr. med. ... - Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie - vom
24. Juli 1995 Bezug genommen.
23
Im Senatstermin am 30. Oktober 1995 hat der Senat den Sachverständigen Dr. med. ...
zur weiteren Erläuterung seines Gutachtens angehört.
24
Der Sachverständige hat ausgeführt, die Beschwerden der Klägerin halte er nach
zweimaliger Untersuchung für glaubhaft. Er habe keine Anhaltspunkte dafür, daß die
geschilderten Beschwerden nicht echt seien. Die Klägerin zeige ein ausgeprägtes
Krankheitsbild. Zur Zeit bestehe keine Erwerbsfähigkeit. Vorboten der psychischen
Störung seien wohl die aufgetretenen Flugängste gewesen. Die psychische Störung sei
wohl letztlich durch die schwerwiegende Lebensanderung, die bevorstehende und
eingetretene Trennungssituation, ausgelost worden. Bei derartigen Störungen könne
zwar grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, daß sich der Patient ins
Krankheitsbild eingelebt habe. Hierfür habe er im Falle der Klägerin aber keine
konkreten Anhaltspunkte. Dies folge aus einer Plausibilitätskontrolle. Er bleibe bei
seiner Diagnose "Angstzustand mit Krankheitswert".
25
Das Medikament Aurorix sei relativ neu; man könne nicht sagen, daß es wirksamer sei
als das von der Klägerin eingenommene Tavor. Eine Erfolgsprognose sei bei derartigen
Medikamenten nicht möglich. Die Wirksamkeit könne immer erst nachträglich beurteilt
werden. Insoweit werde in der Literatur eine Erfolgsquote von 55-65 % bei Aurorix
genannt. Die Wirkung sei aber personenabhängig und könne nicht prognostiziert
werden. Die Wirkung von Aurorix sei allgemein aber nicht besser als die anderer
Medikamente. Man könne daher keinesfalls sagen, die Klägerin wäre arbeitsfähig
geworden, wenn sie das Medikament Aurorix eingenommen hätte. Angesichts der
Vielzahl vergleichbarer Medikamente und anderer Therapien hätte es allerdings nahe
gelegen, etwas anderes zu versuchen. Nach seiner Auffassung könne der Klägerin aber
kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie das vorgeschlagene Medikament Aurorix
nicht genommen habe, und zwar allein schon wegen der bei der Klägerin vorhandenen
Angst vor Nebenwirkungen. Man hätte zwar versuchen können, der Klägerin diese
Angst vor Nebenwirkungen zu nehmen, dies sei aber angesichts des Inhaltes des
Beipackzettels und des allgemeinen Medieneinflusses letztlich theoretisch. Die Angst
vor Nebenwirkungen könne man letztlich nicht beseitigen.
26
Die Nebenwirkungen von Aurorix seien mit den Nebenwirkungen des von der Klägerin
eingenommenen Medikamentes Tavor im Grunde vergleichbar. Er müsse aber
wiederholen, daß Aurorix keine höhere Erfolgschance biete. Man müsse
berücksichtigen, daß sich die Klägerin immerhin einer Behandlung unterzogen habe -
medikamentös und psychotherapeutisch -, die auch nicht ohne sei. Eine sichere
Substanz zur Heilung gebe es nicht.
27
Entscheidungsgründe:
28
Die zulässige Berufung hat in der Sache weitgehend Erfolg, sie führt zur Verurteilung
des Beklagten zur Zahlung von Trennungsunterhalt an die Klägerin in weiterem Umfang
als vom Amtsgericht angenommen, nämlich in Hohe von monatlich 1.629 DM - und
1.214,- DM von September bis November 1992 - und auch über März 1993 hinaus bis
zum Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils. Die Anschlußberufung des
Beklagten blieb dagegen ohne Erfolg.
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Der Anspruch der Klägerin auf Trennungsunterhalt ist begründet aus § 1361 BGB. Nach
Abs. 1 dieser Vorschrift kann ein getrennt lebender Ehegatte von dem anderen den nach
den Lebensverhältnissen und den Erwerbs- und Vermögensverhältnissen der
Ehegatten angemessenen Unterhalt verlangen. Hinsichtlich des Umfanges des
Unterhaltsanspruches kommt es auf seiten des Unterhalt verlangenden Ehegatten auf
dessen Bedürftigkeit und auf seiten des verpflichteten Ehegatten auf dessen
Leistungsfähigkeit an, wobei jeweils die ehelichen Lebensverhältnisse maßgebend
sind.
30
I.
31
Die unterhaltsberechtigte Klägerin ist bedürftig. Krankheitsbedingt kann sie keiner
bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit nachgehen. Dieser Zustand ist der Klägerin -
entgegen der Auffassung des Amtsgerichts und des Beklagten - unterhaltsrechtlich nicht
vorzuwerfen mit der Folge, daß die Anrechnung fiktiven Erwerbseinkommens nicht in
Betracht kommt.
32
1.
33
Entsprechend der Regel des § 1361 Abs. 2 BGB trifft die keine Kinder betreuende
Klägerin spätestens nach Ablauf des ersten Trennungsjahres im Sommer 1992
grundsätzlich die Obliegenheit, einer zumutbaren und vollschichtigen Erwerbstätigkeit
nachzugehen, um auf diese Weise ihren Unterhaltsbedarf ganz oder teilweise selbst zu
decken. Die Klägerin hat aber bewiesen, daß sie dieser Obliegenheit infolge einer
Erkrankung während des gesamten Unterhaltszeitraumes (Juli 1992 bis Januar 1995)
nicht nachkommen konnte. Zur Überzeugung des Senats steht fest, daß die Klägerin an
einer schweren Angstneurose leidet, die eine regelmäßige Erwerbstätigkeit ausschließt.
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Das vom Amtsgericht eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. med. ... - Arzt für
Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie sowie Oberarzt am ... und Privatdozent -
vom 6. Dezember 1993 berichtet, daß schon anläßlich einer teilstationären Behandlung
der Klägerin im Sommer 1990 Panikattacken mit phobischen Symptomen bei
neurotischer Fehlentwicklung diagnostiziert wurden. Das Gutachten kommt schließlich
zu der Beurteilung, daß bei der Klägerin das klinische Bild einer depressiven Neurose
mit Angstsymptomatik vorliege.
35
Diese Einschätzung wird bestätigt durch die Aussage des die Klägerin behandelnden
Psychiaters ... als sachverständiger Zeuge vor dem Amtsgericht, wonach bei der
Klägerin eine ausgeprägte Angststörung mit Panikanfällen vorliege. Die schwere
Erkrankung habe bisher einer medikamentösen Behandlung sowie einer ambulanten
psychotherapeutischen Behandlung widerstanden.
36
In seinem vom Senat ergänzend eingeholten Gutachten vom 24. Juli 1995 hat der
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Sachverständige Dr. ... diese Diagnosen bestätigt und vom Vorliegen einer
generalisierten Angststörung gesprochen, wobei der Sachverständige insbesondere die
Angaben der Klägerin aus psychiatrischer Sicht als glaubhaft und passend zu der
beschriebenen Diagnose angesehen hat.
Bei seiner Anhörung vor dem Senat hat der Sachverständige Dr. ... auf diese
Ausführungen Bezug genommen und insbesondere die Vermutungen des Beklagten
überzeugend ausgeräumt, die Klägerin simuliere und habe sich in die Krankheit fallen
lassen. Bei dieser Beurteilung vertraut der Senat der ausgewiesenen Sachkunde des
Sachverständigen.
38
Die Erkrankung der Klägerin führt zu deren Erwerbsunfähigkeit. Zwar hat der
Sachverstandige Dr. ... in seinem vom Amtsgericht eingeholten schriftlichen Gutachten
zunächst die Auffassung vertreten, die Klägerin sei, auch unter dem Aspekt einer
Strukturierung des Tagesablaufes, einer maximalen Berufstätigkeit von täglich vier
Stunden gewachsen. Diese Einschätzung hat der Sachverständige bei seiner Anhörung
vor dem Senat aber nicht mehr aufrechterhalten, sondern darauf hingewiesen, daß die
Klägerin nicht erwerbsfähig sei, einer dauerhaften Arbeit aufgrund der Angstproblematik
nicht nachgehen könne. In diesem Sinne hatte sich schon der die Klägerin behandelnde
Psychiater Dr. ... bei seiner Anhörung als sachverständiger Zeuge vor dem Amtsgericht
geäußert. Danach sei die Klägerin wegen ihrer sozialen Phobie erwerbsunfähig. Der
sachverständige Zeuge hat dabei im wesentlichen darauf abgehoben, daß es für die
Klägerin, selbst wenn sie primärmedizinisch zwei Stunden täglich arbeiten könne, keine
Beschäftigungsmöglichkeit gebe, da für sie regelmäßiges und pünktliches Arbeiten nicht
möglich sei. Dies hält der Senat für überzeugend. Nach der Beschreibung der
psychischen Probleme der Klägerin mit deren körperlichen Auswirkungen in beiden
Gutachten ist es für den Senat ohne weiteres einsichtig, daß die Klägerin einer
regelmäßigen Erwerbstätigkeit gegen Entgelt nicht nachgehen konnte und kann. Die
Klägerin ist bedürftig.
39
2.
40
Die Klägerin ist unterhaltsrechtlich nicht gehindert, ihre krankheitsbedingte
Erwerbsunfähigkeit und damit ihre Bedürftigkeit geltend zu machen. Zwar kann nach §
1579 Nr. 3 BGB, der gemäß § 1361 Abs. 3 BGB auf den Trennungsunterhalt
Anwendung findet, ein Unterhaltsanspruch zu versagen, herabzusetzen oder zeitlich zu
begrenzen sein, soweit die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre, weil
der Berechtigte seine Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt hat.
41
Mutwilligkeit im Sinne dieser Vorschrift sieht der Beklagte hier als gegeben an, weil die
Klägerin eine erfolgversprechende pharmakologische Therapie mit dem Medikament
Aurorix in vorwerfbarer Weise unterlassen habe. Der als Unterhaltsschuldner hierfür
beweispflichtige Beklagte (vgl. BGH FamRZ 1989, 1054) vermochte diese Behauptung
aber nicht zu beweisen.
42
a)
43
Erste Voraussetzung für die Annahme mutwillig herbeigeführter Bedürftigkeit wäre, daß
die unterlassene Einnahme des Medikamentes Aurorix für den Fortbestand der
Krankheit und damit für die Erwerbsunfähigkeit kausal geworden ist. Es müßten dann
sogenannte MAO-Hemmer (hier: Aurorix) wirksamer sein als die von der Klägerin auch
44
weiterhin eingenommenen Medikamente, insbesondere als das Beruhigungsmittel
Tavor. Diese Frage hat der Sachverständige Dr. ... bei seiner Anhörung vor dem Senat
nicht nur offen gelassen, sondern eindeutig verneint. Das Medikament Aurorix sei schon
generell nicht als wirksamer bei Angsterkrankungen einzuordnen als das Medikament
Tavor; eine höhere Erfolgschance könne nicht festgestellt werden.
Hinsichtlich der individuellen Wirksamkeit besteht nach den Angaben des
Sachverständigen ohnehin keine Prognosemöglichkeit. Bei derartigen Medikamenten
sei eine Wirksamkeitsaussage nur nachträglich möglich. Diese allgemein zu
beurteilende Wirksamkeit belaufe sich aufgrund nachträglicher Untersuchungen auch
nur auf 55-65 %.
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Danach hatte zwar nach allgemein medizinischen Kriterien eine medikamentöse
Behandlung der Klägerin mit Aurorix zu einer Beschwerdefreiheit führen können.
Entscheidend für die vorliegende Fragestellung ist aber die Erkenntnis, daß - entgegen
der vom Amtsgericht übernommenen Auffassung des Beklagten - eine Sicherheit für
einen Erfolg dieser Behandlung, bezogen auf die Klägerin, nicht feststellbar ist.
46
b)
47
Kann danach schon nicht die Kausalität der unterlassenen Behandlung mit Aurorix für
die fortbestehende Bedürftigkeit der Klägerin festgestellt werden, so hat der Beklagte
darüber hinaus auch nicht die subjektive Vorwerfbarkeit des Verhaltens der Klägerin
bewiesen. Der Sachverständige Dr. ... hat bei seiner Anhörung vor dem Senat hierzu
vielmehr die vom Senat geteilte Auffassung vertreten, daß der Klägerin allein schon
wegen ihrer Angst vor Nebenwirkungen kein Vorwurf aus der Nichteinnahme des
Medikamentes Aurorix gemacht werden könne. Die Einnahme von Aurorix ist nämlich
unstreitig mit Nebenwirkungen verbunden. Selbst wenn nicht die Gefahr eines letalen
Ausganges zu befürchten wäre und wenn diese Nebenwirkungen auch nicht
gravierender als diejenigen des Medikamentes Tavor einzustufen wären, dann sind
doch die zu erwartenden Nebenwirkungen nicht unbedeutend. Der Sachverständige Dr.
... hat diese in seinem schriftlichen Gutachten vom 24. Juli 1995 wie folgt
zusammengefaßt: Plötzlich einsetzender, intensiver und pulsierender Kopfschmerz;
ausgeprägter Hochdruck mit profusem Schwitzen, Gesichtsblässe und Kopfschmerz,
Palpitationen und Brustschmerzen. Die Angst vor derartigen Nebenwirkungen, verstärkt
durch ausführliche Beipackzettel des Medikamentes sowie durch Medieneinflüsse ist
nur schwer beherrschbar, wie dies der Sachverständige Dr. ... vor dem Senat dargelegt
hat.
48
Auf dem Hintergrund dieser Nebenwirkungen einschließlich der objektiven Ängste der
Klägerin davor und in Verbindung mit dem nicht prognostizierbaren Behandlungserfolg
hat der Senat nicht die Überzeugung gewonnen, die Klägerin habe durch
Nichteinnahme des Medikamentes Aurorix den Fortbestand ihrer Krankheit und damit
auch ihre Bedürftigkeit mutwillig im Sinne des § 1579 Nr. 3 BGB herbeigeführt.
49
3.
50
Die Klägerin ist danach unterhaltsbedürftig. Bedarfsdeckend anzurechnen ist lediglich
während des gesamten Unterhaltszeitraumes das Einkommen der Klägerin aus der
selbständig ausgeübten Tätigkeit als Fußpflegerin, welches sich nach den Angaben der
Klägerin im Senatstermin auf monatsdurchschnittlich rd. 200,00 DM belief.
51
II.
52
Der Höhe nach richtet sich der Unterhalt nach dem ehebezogenen Bedarf, begrenzt
durch die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners. Bis zur Trennung der Parteien
waren die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt durch das Erwerbseinkommen des
Beklagten von monatlich rd. 5.000,00 DM, das Einkommen der Klägerin aus ihrer
Tätigkeit als Fußpflegerin, beiderseitige Einkünfte aus Kapitalvermögen, das
Einkommen des Beklagten aus Vermietung und Verpachtung und schließlich durch das
mietfreie Wohnen im Hause der Klägerin. Maßgebend sind allerdings nicht die
Verhältnisse zum Zeitpunkt der Trennung, sondern die aktuellen
Einkommensverhältnisse, da die Ehegatten an der Entwicklung der wirtschaftlichen
Verhältnisse bis zur Scheidung gemeinschaftlich teilhaben (BGH FamRZ 1988, 256;
1990, 283). Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt, dem Beginn des Unterhaltszeitraumes
im Juli 1992, hatte der Kläger sein Erwerbseinkommen verloren. Sein Einkommen aus
Vermietung und Verpachtung war - nach seiner Darstellung - negativ. Gleichwohl kann
sich der Beklagte nicht unter Hinweis auf das aufgenommene Studium und negative
Erträge aus Vermietung und Verpachtung auf mangelnde Leistungsfähigkeit berufen. Er
muß sich vielmehr fiktives Erwerbseinkommen anrechnen lassen.
53
Diese fiktive Veranlagung ist allerdings nicht schon deshalb vorzunehmen, weil er
seinen Arbeitsplatz bei der ... in unterhaltsrechtlich vorwerfbarer Weise aufgegeben
hätte. Anhaltspunkte für ein derartiges Verhalten sind weder vorgetragen noch
ersichtlich, so daß die Klägerin den Verlust des mit 5.000,00 DM netto dotierten
Arbeitsplatzes unterhaltsrechtlich hinzunehmen hat.
54
Die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltsschuldners richtet sich aber nicht nur nach dem
tatsächlich vorhandenen Einkommen und Vermögen, sondern auch nach der
Erwerbsfähigkeit. Von diesem Grundsatz ausgehend trifft den Beklagten als
Unterhaltsschuldner die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen,
insbesondere seine Arbeitsfähigkeit so gut wie möglich einzusetzen und eine ihm
zumutbare und mögliche Erwerbstätigkeit auszuüben. Soweit er dieser Obliegenheit
nicht nachkommt, muß er sich so behandeln lassen, als ob er das Einkommen, das er
bei gutem Willen für eine zumutbare Erwerbstätigkeit erzielen könnte, tatsächlich hätte
(vgl. BGH in ständiger Rechtsprechung, z.B. in FamRZ 1985, 158).
55
Den Beklagten traf danach die Obliegenheit, nach der im Februar 1992 vereinbarten
Aufhebung seines Arbeitsvertrages mit der ... zum 30. Juni 1992, sich sofort um einen
neuen Arbeitsplatz zu bemühen. Dieser Obliegenheit ist er nicht nachgekommen. Die
Aufnahme des Zusatzstudiums zum Wintersemester 1992/93 entlastet den Beklagten
nicht; diese nach der Trennung eingetretene Änderung der Lebensverhältnisse muß
sich die Klägerin nicht entgegenhalten lassen. Diese Veränderung mag zwar
ursprünglich während intakter Ehe von den Parteien gemeinsam geplant worden sein,
wie dies der Senat in seinem Urteil vom 23. September 1992 in dem ersten
Scheidungsverfahren (8 UF 233/92) angenommen hat. An ein derartiges Einverständnis
ist die Klägerin aber nach vollzogener Trennung und gescheiterter Ehe nicht mehr
gebunden. Grundlage für ihr früheres Einverständnis war nämlich die Erwartung, der
Beklagte werde nach Beendigung des Zusatzstudiums höhere oder jedenfalls sicherere
Einkünfte erzielen. Zweifellos sind die Parteien seinerzeit auch davon ausgegangen,
während des Studiums des Beklagten auch weiterhin über, angemessene, wenn auch
möglicherweise etwas gesunkene Einkünfte aus dem Immobilienvermögen des
56
Beklagten zu verfugen. Nach dem Auszug des Beklagten, der Trennung der Parteien
und dem sich abzeichnenden Scheitern der Ehe war die Klägerin an ihr früher erklärtes
Einverständnis mit der Aufnahme des Zusatzstudiums nicht mehr gebunden. Die über
ein Jahr nach der vollzogenen Trennung vorgenommene Aufnahme des Studiums ohne
entsprechende finanzielle Vorsorge für Unterhaltszwecke stellt sich mithin als
Verletzung der unterhaltsrechtlichen Obliegenheit des Beklagten gegenüber der
Klägerin dar. Diese jetzt einseitig gewordene Disposition ohne hinreichende Vor sorge
läßt schon den Bedarf der Klägerin unberührt (vgl. BGH FamRZ 1992, 1045) und hindert
den Beklagten, sich der Klägerin gegenüber auf eine mit dieser Disposition verbundene
eingeschränkte Leistungsfähigkeit zu berufen.
Der Beklagte muß sich daher unterhaltsrechtlich so behandeln lassen, als habe er ab
März 1992 einen neuen Arbeitsplatz gesucht. Der Senat ist überzeugt, daß der Beklagte
bei hinreichend nachdrücklichen Erwerbsbemühungen auch bis zu Beginn des
Unterhaltszeitraumes im Juli 1992 eine neue Beschäftigung gefunden hätte, die zwar
nicht mehr mit monatlich 5.000,00 DM netto, wohl aber mit mindestens 4.000,00 DM
netto vergütet worden wäre. Der Senat hat dabei in Rechnung gestellt, daß bei einem
nicht freiwilligen Arbeitsplatzverlust ein Neuanfang häufig mit einer
Einkommenseinbuße verbunden sein wird.
57
III.
58
Der Unterhaltsanspruch der Klägerin errechnet auf der Grundlage der vorstehenden
Zahlen nach einer Quote (3/7) der Differenz der beiderseitigen Einkommen. Dem fiktiven
Erwerbseinkommen des Beklagten in Höhe von 4.000,00 DM steht das Einkommen der
Klägerin aus ihrer freiberuflichen Tätigkeit mit 200,00 DM monatlich gegenüber, so daß
sich eine Einkommensdifferenz von 3.800,00 DM und ein Unterhaltsanspruch (× 3/7)
von 1.629,00 DM ergibt.
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Für die Monate September, Oktober und November 1992, in denen die Klägerin aus
ihrer abhängigen Tätigkeit als Arzthelferin monatlich netto 1.168,00 DM nach den
unangegriffenen Berechnungen des Amtsgerichts erzielte, errechnet sich ein
Unterhaltsanspruch von 1.214,00 DM (4.000,00 DM - 1.168,00 DM × 3/7).
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In diesem Umfange war der Beklagte abändernd zu verurteilen. Daraus folgt zugleich,
daß die Anschlußberufung des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen war.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 91 a, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO; die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 711 und
713 ZPO.
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