Urteil des OLG Hamm vom 19.01.1999

OLG Hamm (treu und glauben, erwerbsfähigkeit, vergleich, anrechenbares einkommen, zpo, einkommen, zeitpunkt, scheidung, vereinbarung, anrechnung)

Oberlandesgericht Hamm, 2 UF 270/98
Datum:
19.01.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Familiensenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 UF 270/98
Vorinstanz:
Amtsgericht Essen, 105 F 101/97
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 11.05.1998 ver-kündete Urteil
des Amtsgerichts Essen abgeändert. Der Vergleich vom 17.06.1993 (2
UF 521/92 OLG Hamm) wird für die Zeit ab 03.07.1997 dahin
abgeändert, daß die Ver-pflichtung des Klägers zur Zahlung von
nachehelichem Unterhalt entfällt. Die Kosten des Rechtsstreits werden
der Beklagten auf-erlegt. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe:
1
Die Berufung des Klägers ist begründet und führt zur Abänderung des angefochtenen
Urteils. Der Beklagten steht ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt nicht mehr zu.
Der gegenteiligen Auffassung des Amtsgerichts kann aus Rechtsgründen nicht
beigepflichtet werden.
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Die Beklagte kann nicht mit ihrem Vorbringen gehört werden, sie könne aus
krankheitsbedingten Gründen ihren Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen (§§
1572, 1578 Abs. 1 BGB) nicht decken. Dieser Bedarf errechnet sich auf der Basis des
Vergleichs, den die Parteien im Vorprozeß vor dem Senat am 17.06.1993 geschlossen
haben. Dabei wirken sich der Wegfall der Verpflichtung zur Zahlung von
Kindesunterhalt bedarfserhöhend und der Einkommensrückgang des Klägers
bedarfsmindernd aus. Grundsätzlich ist der Senat an die Art und Weise der Ermittlung
des anrechenbaren Einkommens, wie sie in dem Vergleich vorgenommen worden ist,
gebunden. Dies bedeutet, daß die Steuererstattung, die der Beklagte bezieht, bei der
Bedarfsermittlung außer Betracht bleibt, weil sie auch damals nicht in die Berechnung
einbezogen worden ist. Unverändert gebliebene Tatsachen und ihre rechtliche
Bewertung in der Vereinbarung sind als auch für die Zukunft bindend fortzuschreiben.
Der Kläger hat auch damals wegen seiner hohen, unverändert gebliebenen Fahrtkosten
erhebliche Steuererstattungen bezogen. Gleichwohl enthält der Vergleich keine
einkommenserhöhende Anrechnung derselben. An diese Modalität der Berechnung des
anrechenbaren Einkommens sind die Parteien gebunden, sofern die Unterlassung der
Einbeziehung von Einkommensquellen nicht lediglich auf einem Versehen, also nicht
auf einer entsprechenden Bewertung, beruht. Insoweit hat die Vereinbarung vom
17.06.1993 die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit für sich. Es muß deshalb
davon ausgegangen werden, daß die Berechnungsgrundlagen bewußt und nicht
versehentlich so festgelegt worden sind und daß das, was nicht im Vergleich steht, auch
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nicht für die Unterhaltsberechnung maßgeblich sein sollte. Die Beklagte hat keine
andere Darstellung zum Zustandekommen und Inhalt der Vereinbarung gegeben. Allein
die Behauptung, die Anrechnung von einkommenserhöhenden Leistungen sei durch die
Vereinbarung nicht ausgeschlossen, ist hierzu nicht ausreichend. Konkrete
Anhaltspunkte für ein Versehen der Parteien fehlen. Die Art und Weise der
Einkommensberechnung ist auch in sich schlüssig, weil einerseits Einnahmen,
andererseits aber auch Ausgaben des Klägers außer Ansatz geblieben sind.
Der Beklagten stehen hiernach als Bedarf 3/7 des auf der Basis des Vergleichs zu
berechnenden Einkommens des Klägers zu. Dieses Einkommen belief sich nach der
vorliegenden Verdienstbescheinigung im Jahre 1997 auf 3.241,57 DM. Insoweit ist der
Berechnung des Klägers in der Berufungsbegründung beizupflichten. Allerdings kann er
das vom Arbeitgeber gezahlte Fahrgeld von 112,14 DM nicht aus seinem
Nettoeinkommen herausrechnen. Dies ist auch in dem abzuändernden Vergleich nicht
geschehen, sondern nur die Mehrfahrtkosten mit 276,00 DM abgesetzt. Da sich die
Fahrtstrecke des Klägers seither nicht verändert hat, hat es hierbei zu verbleiben, und
zwar auch hinsichtlich der im Vergleich bereits enthaltenen 276,00 DM zusätzlicher
Fahrtkosten. Abzusetzen sind weiterhin 31,00 DM Gewerkschaftsbeitrag. Es verbleibt
ein anrechenbares Einkommen von 2.934,57 DM. Der Bedarf der Beklagten beträgt
davon 3/7, das sind 1.257,67 DM.
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Im Jahre 1998 ist der Kläger, wie die von ihm vorgelegten Verdienstbescheinigungen
beweisen, von der Steuerklasse II in die Steuerklasse I gewechselt. Dies hat eine um
240,18 DM erhöhte Steuerlast zur Folge. Das Einkommen sinkt im Jahre 1998 damit auf
2.694,39 DM und der Bedarf der Beklagten auf 1.154,73 DM.
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Diesen Bedarf kann und muß die Beklagte durch Ausübung einer Erwerbstätigkeit
selbst sicherstellen. Soweit sie sich darauf beruft, dies sei ihr wegen
krankheitsbedingter Einschränkung der Erwerbsfähigkeit nicht möglich, kann sie damit
aus Rechtsgründen nicht gehört werden. Ein Unterhaltsanspruch aus § 1572 BGB setzt
das Vorhandensein der Krankheit zu bestimmten Einsatzzeitpunkten voraus. Vorliegend
kommen als solche der Zeitpunkt der Scheidung oder derjenige des Wegfalls der
Voraussetzungen für einen Unterhaltsanspruch aus § 1573 BGB in Betracht. Die
Beklagte behauptet hierzu, sie sei bereits im Jahre 1993, dem Jahr der Scheidung, aus
den Gründen des Gutachtens des Sachverständigen Dr. med. I vom 12.03.1998 in ihrer
Erwerbsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Unabhängig von der fehlenden Möglichkeit,
dies heute noch festzustellen sowie der Tatsache, daß dem das im damaligen Verfahren
eingeholte Sachverständigengutachten entgegensteht, kann die Beklagte einen
Unterhaltsanspruch aus § 1572 BGB auf diesen Sachvortrag nicht mehr stützen.
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Basis des Vergleichs vom 17.06.1963 war nach der Einholung des
Sachverständigengutachtens im Vorprozeß die vollschichtige Erwerbsfähigkeit der
Beklagten und das Bestehen lediglich eines Anspruchs auf Aufstockungsunterhalt aus §
1573 Abs. 2 BGB, weil die Beklagte als Berufsrückkehrerin noch nicht ein
bedarfsdeckendes Einkommen aus vollschichtiger Tätigkeit erzielen konnte. Für eine
Übergangszeit wurde lediglich ein Einkommen von 1.000,00 DM netto angenommen.
Von dieser Beurteilung kann sich die Beklagte heute nicht lösen und sich darauf
berufen, sie sei schon zum damaligen Zeitpunkt krankheitsbedingt in ihrer
Erwerbsfähigkeit eingeschränkt gewesen und hätte einen Unterhaltsanspruch aus §
1572 BGB gehabt. Das gilt unabhängig von der Stellung der Beklagten im Prozeß, d.h.
davon ob sie Abänderungsklägerin ist oder sich nur mit dem entsprechenden Vortrag
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gegen die Abänderungsklage des Unterhaltsverpflichteten verteidigt. Da es sich bei
dem abzuändernden Unterhaltstitel nicht um ein Urteil, sondern um einen
Prozeßvergleich handelt, erfolgt die in § 323 Abs. 4 ZPO in Verbindung mit § 794 Abs. 1
Nr. 1 ZPO vorgesehene Anpassung des Titels an veränderte Umstände wie bei
sonstigen privatrechtlichen Rechtsgeschäften allein nach den Regeln des materiellen
Rechts. § 323 Abs. 1 ZPO ist in diesem Fall bedeutungslos. Maßgeblich sind allein die
aus § 242 BGB abgeleiteten Grundsätze über die Veränderung oder den Fortfall der
Geschäftsgrundlage, die eine Anpassung rechtfertigen, wenn es einem Beteiligten nach
Treu und Glauben nicht zugemutet werden kann, an der bisherigen Regelung
festgehalten zu werden (BGH, st. Rspr., vgl. BGH FamRZ 1992, 539).
Beide Parteien sind nach der Einholung des Sachverständigengutachtens im
Vorprozeß, das die volle Erwerbsfähigkeit der Beklagten feststellte, von diesem
Gesundheitszustand ausgegangen und haben ihn der Beurteilung der
Arbeitsobliegenheit und der Unterhaltsberechnung zugrundegelegt. Von einem
beiderseitigen Irrtum der Parteien oder aber einem solchen allein der Beklagten, auf
dessen Korrektur sich der Kläger billigerweise einlassen müßte, kann nicht gesprochen
werden. Sämtliche Umstände, die die Klägerin heute vorträgt, insbesondere die
Schlüsselbeinfraktur im Jahre 1989, waren damals bereits bekannt und sind von den
Parteien bewertet worden. Von dieser Vergleichsbasis kann sich die Beklagte heute
nicht einseitig mit der Behauptung lösen, sie sei damals doch schon in ihrer
Arbeitsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Auf den tatsächlichen Gesundheitszustand der
Beklagten im Einsatzzeitpunkt der Scheidung kommt es hiernach nicht mehr an, weil
dem die Vergleichsbasis entgegensteht.
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Soweit die Beklagte sich darauf beruft, nach § 323 ZPO wäre sie unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht gehindert, präkludiertes Vorbringen
wenigstens zur Rechtsverteidigung geltend zu machen, kann dem nicht beigepflichtet
werden, weil die Abänderung nicht auf § 323 ZPO beruht. Abgesehen davon trifft die
Rechtsansicht der Beklagten nicht zu. Selbst im Falle der Festsetzung des Unterhalts
der Beklagten im Vorprozeß durch Urteil wäre sie mit ihrem heutigen Vortrag nach § 323
Abs. 2 ZPO präkludiert. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
(FamRZ 1987, 259; FamRZ 1998, 99) können im Vorprozeß nicht vorgetragene
Tatsachen allerdings zur Verteidigung gegen die Abänderungsklage vorgebracht
werden. Das findet seine Rechtfertigung darin, daß es einer Rechtskraftdurchbrechung
nicht bedarf, weil der Beklagte gerade an der rechtskräftigen früheren Entscheidung
festhalten will. Das würde zwar auch im vorliegenden Fall gelten, jedoch liegt dieser
insofern anders, als die Frage der Erwerbsfähigkeit der Beklagten im früheren Prozeß
eine zentrale Rolle gespielt und darüber sogar eine Beweisaufnahme stattgefunden hat.
Die Frage wäre damit auch bei Erlaß eines Urteils im Vorprozeß rechtskräftig
entschieden und könnte heute nicht, auch nicht mehr zur Verteidigung, anders beurteilt
werden (BGH FamRZ 1987, 259, 263 und BGH FamRZ 1984, 374, 375).
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Die Beklagte kann hiernach mit ihrer auf die neue Anspruchsgrundlage des § 1572 BGB
gestützten Rechtsverteidigung nur dann Erfolg haben, wenn sie nachweist, im
Einsatzzeitpunkt Wegfall des Unterhaltsanspruchs aus § 1573 BGB krankheitsbedingt in
ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt gewesen zu sein. Auch diese Voraussetzungen
liegen nicht vor. Der Einsatzzeitpunkt des § 1572 Nr. 4 BGB setzt nach allgemeiner
Auffassung das durchgängige Bestehen eines vollen oder teilweisen
Unterhaltsanspruchs ab Scheidung bis zur krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit
voraus (vgl. OLG Celle FamRZ 1997, 1074). Daran fehlt es hier. Im Vergleich vom
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17.06.1993 ist die Fiktion eines Einkommens aus vollschichtiger Arbeit von nur 1.000,00
DM ausdrücklich mit Rücksicht auf das geringe Einkommen der Beklagten als
Berufsrückkehrerin angenommen worden. Dieser Reduzierungsgrund entfiel spätestens
im Jahre 1994/1995. Das Vorliegen einer krankheitsbedingten Einschränkung der
Erwerbsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt ist nicht feststellbar. Die Veränderungen der
Wirbelsäule waren bereits während des früheren Rechtsstreits bekannt, ohne die
Annahme der vollen Erwerbsfähigkeit in Frage zu stellen. Eine Verschlimmerung des
Leidens bis 1994/1995 ist nicht feststellbar und wird auch durch die von der Beklagten
aus dieser Zeit vorgelegten ärztlichen Atteste nicht bestätigt. Abgesehen davon, daß die
Frage im heutigen Zeitpunkt einer Beweisaufnahme nicht mehr zugänglich ist, wird die
volle gesundheitliche Einsatzfähigkeit der Beklagten vielmehr durch die beiden
Arbeitsversuche bestätigt, die sie im Oktober 1993 auf Betreiben des Sozialamts und im
Januar 1994 unternommen hat. Sie sind nach eigener Darstellung der Beklagten nicht
aus gesundheitlichen Gründen gescheitert, sondern im ersten Fall wegen von ihr
behaupteten sog. Mobbings und im zweiten Falle, weil die Betreuung des am
05.02.1993 geborenen nichtehelichen Kindes der Beklagten nicht gesichert war.
Immerhin hat sie nach ihren Angaben im Senatstermin damals für eine dreistündige
Arbeit brutto 1.100,00 DM verdient. Die Möglichkeit der Erzielung eines
bedarfsdeckenden Einkommens aus vollschichtiger Tätigkeit, sofern die Beklagte sich
ausreichend darum bemüht hätte, ist hiernach gerechtfertigt. Der Bedarf der Beklagten,
der nach dem eingangs Gesagten maximal bei rd. 1.260,00 DM liegt, ist bereits bei
Anrechnung eines Einkommens von netto rd. 1.470,00 DM gedeckt. Damit entfällt ein
Unterhaltsanspruch, ohne daß es auf die Frage der Einschränkung der Erwerbsfähigkeit
der Beklagten zum heutigen Zeitpunkt ankommt. Der rechtliche Ansatzpunkt des
angefochtenen Urteils ist insofern unzutreffend.
In Abänderung der angefochtenen Entscheidung war der Klage mithin mit der
Kostenfolge aus § 91 ZPO stattzugeben.
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