Urteil des OLG Hamm vom 07.03.2006

OLG Hamm: pflichtverteidiger, bauer, haftbefehl, verfügung, vorverfahren, strafverfahren, vergütung, arbeitskraft, berufsausübung, pause

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ws 583/05
Datum:
07.03.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ws 583/05
Vorinstanz:
Landgericht Essen, 21 a (1/05)
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Der Beschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des
Amtsgerichts Essen vom 02.06.2005 wird dahingehend abgeändert,
dass die Vergütung des gerichtlich bestellten Verteidigers und
Beschwerdeführers auf 2.527,- € festgesetzt wird.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei; Kosten werden nicht
erstattet (§ 56 Abs. 2 S. 2 RVG).
G r ü n d e :
1
I.
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Der Beschwerdeführer war im vorliegenden Strafverfahren als Verteidiger des
damaligen Angeklagten D tätig. Gegen diesen erging nach seiner vorläufigen
Festnahme am 19.07.2004 durch das Amtsgericht Moers am 20.07.2004 Haftbefehl. Er
befand sich bis zu seiner Verurteilung am 23.02.2005 in Untersuchungshaft. Der
Beschwerdeführer erklärte sich ausweislich der Verfügung des Richters am Amtsgericht
Lindemann, durch den der Haftbefehl vom 20.07.2004 erlassen worden war, bereit, die
Vertretung des D, die von diesem bei der Verkündung des Haftbefehls ausdrücklich
gewünscht worden war, zu übernehmen. Bis zur Erhebung der Anklage im vorliegenden
Verfahren - die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen ging am 08.12.2004 beim
Landgericht Essen ein - fertigte der Beschwerdeführer zwei Schriftsätze und nahm
Einsicht in die Ermittlungsakten. Durch Beschluss der großen Strafkammer I. a des
Landgerichts Essen vom 08.02.2005 wurde der Beschwerdeführer dem damaligen
Angeklagten D als Pflichtverteidiger beigeordnet.
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Die Hauptverhandlung fand vor der großen Strafkammer I. a des Landgerichts Essen am
08.02.2005, 16.02.2005, 18.02.2005 und am 23.02.2005 statt. Der Beginn der
Hauptverhandlung war für die vier Verhandlungstage jeweils auf 09.15 Uhr festgesetzt
worden. Die Hauptverhandlung am 08.02.2005 dauerte ausweislich der
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Sitzungsniederschrift von 09.30 bis 16.15 Uhr (6 Stunden und 45 Minuten). Sie wurde
von 11.05 bis 12.36 Uhr (1 Stunde und 31 Minuten), von 12.40 bis 12.50 Uhr
(10 Minuten) sowie von 13.30 bis 14.20 Uhr (50 Minuten) unterbrochen. Die
Hauptverhandlung am 16.02.2005 begann nach dem Sitzungsprotokoll um 09.28 Uhr
und endete um 17.10 Uhr (5 Stunden und 42 Minuten). Sie wurde unterbrochen von
12.09 bis 13.22 Uhr (1 Stunde und 13 Minuten).
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Dem Antrag des Beschwerdeführers auf Festsetzung einer Pflichtverteidigervergütung
in Höhe von 2.368,08 € wurde durch Beschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
vom 02.06.2005 in Höhe von 2.117,52 € (einschließlich 292,07 € Umsatzsteuer)
stattgegeben. Zurückgewiesen wurde lediglich die beantragte Festsetzung von zwei
zusätzlichen Terminsgebühren nach Nr. 4116 VV RVG in Höhe von insgesamt 216,- €
nebst anteiliger Mehrwertsteuer, die der Beschwerdeführer für die
Hauptverhandlungstermine am 08.02.2005 und 16.02.2005 vor dem Landgericht Essen
geltend gemacht hatte. Der gegen die Absetzung dieser zusätzlichen Terminsgebühren
eingelegten Erinnerung des Beschwerdeführers vom 14.06.2005 hat die
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle durch Beschluss vom 07.09.2005 nicht abgeholfen
und die Sache der Strafkammer zur Entscheidung vorgelegt. Die erste Strafkammer des
Landgerichts Essen - die Hilfsstrafkammer I. a, vor der das Strafverfahren durchgeführt
worden war, existierte, wie sich aus dem Vermerk des Vorsitzenden Richters am
Landgericht Busold vom 12.09.2005 und der Stellungnahme des Leiters des Dezernats
10 der Verwaltungsabteilung des OLG Hamm ergibt, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr -
hat in der Besetzung mit 3 Richtern mit dem angefochtenen Beschluss die Erinnerung
zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund
des eindeutigen Wortlautes der Nr. 4116 VV RVG für die Dauer der Teilnahme an der
Hauptverhandlung nur die Zeit der tatsächlichen Verhandlung und nicht die
Gesamtdauer unter Berücksichtigung von Verhandlungspausen maßgeblich sei.
Während der Verhandlungsunterbrechung finde keine Hauptverhandlung statt, so dass
auch während dieser Zeiträume eine Teilnahme an der Verhandlung begrifflich nicht
möglich sei. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Verteidigers des
ehemaligen Angeklagten D, der die Strafkammer mit Beschluss vom 29.11.2005 nicht
abgeholfen hat.
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Nach Übersendung der Stellungnahme des Leiters des Dezernats 10 der
Verwaltungsabteilung des OLG Hamm vom 17.01.2006 hat der Beschwerdeführer mit
Schriftsatz vom 20.02.2006 über die erhobene Beschwerde hinaus die zusätzliche
Festsetzung einer Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 VV RVG mit Zuschlag (Nr. 4105 VV
RVG) beantragt.
7
II.
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Die Beschwerde ist begründet. Dem Beschwerdeführer stehen die geltend gemachten
zusätzlichen Terminsgebühren nach Nr. 4116 VV RVG zu. Darüber hinaus war
entsprechend seinem Antrag vom 20.02.2006 eine zusätzliche Verfahrensgebühr mit
Zuschlag nach den Nummern 4104, 4105 VV RVG festzusetzen.
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1.
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Nach Nr. 4116 erhält der gerichtlich bestellte Verteidiger die zusätzliche Terminsgebühr,
wenn er mehr als fünf und bis zu acht Stunden an der Hauptverhandlung teilnimmt.
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Denn die Hauptverhandlung am 08.02.2005
dauerte ausweislich der Sitzungsniederschrift 6 Stunden und 45 Minuten, die
Hauptverhandlung am 16.02.2005 5 Stunden und 42 Minuten.
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Zur Bestimmung der Hauptverhandlungsdauer, die im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz
gesetzlich nicht geregelt ist, kann entgegen der Ansicht des Landgerichts Essen aber
auch der Auffassung des Leiters des Dezernats 10 der Verwaltungsabteilung des OLG
Hamm nicht allein auf den Wortlaut der Nr. 4116 VV RVG abgestellt und als
Hauptverhandlungsdauer nur der Zeitraum angesehen werden, in dem die Strafsache
tatsächlich vor Gericht verhandelt wird mit der Folge, dass Sitzungspausen sowie ein
etwaiger verspäteter Sitzungsbeginn nicht zur Verhandlungszeit gezählt werden
können. Vielmehr ist der Sinn und Zweck, der mit der zusätzlichen Terminsgebühr
verfolgt wird, zu berücksichtigen. So soll durch die zusätzliche Terminsgebühr ein
besonderer, nach früherer Rechtslage und Rechtsprechung regelmäßig zur Bewilligung
einer Pauschvergütung führender Zeitaufwand des gerichtlich bestellten Verteidigers für
die anwaltliche Tätigkeit angemessen honoriert werden und dieser nicht mehr
ausschließlich auf die Bewilligung einer Pauschgebühr angewiesen sein (vgl. BT-Dr.
15/1971, S. 224). Angesichts dieses Gesetzeszwecks ist die Verhandlungsdauer der
Zeitspanne zwischen dem gerichtlich verfügten Beginn und der in der Verhandlung
angeordneten Schließung der Sitzung gleichzusetzen (vgl. OLG Hamm, Beschluss des
2. Strafsenats vom 28.02.2006 - 2 (s) Sbd. IX 1 u. 14/06, http://www.burhoff.de; OLG
Koblenz, Beschluss vom 16.02.2006 - 1 Ws 61/06 -, http://www.burhoff.de).
Verhandlungspausen werden grundsätzlich nicht abgezogen (vgl. OLG Hamm, a.a.O.;
OLG Koblenz, a.a.O.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.08.2005 - 4 Ws 118/05 -,
RVGreport 2006, 32 und http://www.burhoff.de;
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KG, Beschluss vom 09.08.2005 - 3 Ws 59/05 -, RVGreport 2006, 33 und
http://www.burhoff.de; Schmahl in Riedel/Sußbauer/Schmahl, RVG, 9. Aufl., VV
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Teil 4 Abschnitt 1 Rdnr. 64, wonach eine Anrechnung von Pausen dem Rechtsanwalt
auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Vorschrift, wonach ein besonderer
Zeitaufwand abgegolten werden soll, nicht zuzumuten ist; Hartmann, Kostengesetze, 35.
Aufl., VV 4110, 4111 Rdnr. 1 ff.; a.A. OLG Bamberg, Beschluss vom 13.09.2005
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- Ws 676/05, http://www.jurisweb.de, das zwar zur Vermeidung unfruchtbarer
Streitigkeiten und einer kleinlichen Auslegung der Regelung über die zusätzliche
Terminsgebühr bei kurzen Sitzungspausen "die Uhr weiterlaufen" lassen will, aber im
Übrigen, abstellend auf den Wortlaut der Nr. 4116 VV RVG, längere Sitzungspausen,
insbesondere eine Mittagspause, bei der Berechnung der Dauer der Hauptverhandlung
nicht berücksichtigen will, da während dieser Zeiträume tatsächlich keine
Hauptverhandlung stattfinde).
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Zwar findet in Pausen eine Hauptverhandlung im eigentlichen Sinne und damit auch
eine Teilnahme des Verteidigers an ihr nicht statt. Entscheidend für die Auffassung,
dass sie aber dennoch bei der Bestimmung der Hauptverhandlungsdauer zu
berücksichtigen sind, ist aber, dass der Verteidiger sich auch während dieser
Terminszeiten zur Verfügung halten muss und deswegen an einer anderweitigen
Ausübung seines Berufes gehindert ist. Diese Auslegung wird gestützt durch den in der
Vorbemerkung 4 Abs. 3 S. 2 VV RVG niedergelegten Grundsatz. Danach erhält der
Rechtsanwalt die Terminsgebühr auch dann, wenn er zu einem anberaumten Termin
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erscheint, dieser aber aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, nicht stattfindet. Ist
sogar der gänzliche Ausfall der Hauptverhandlung grundsätzlich gebührenrechtlich
unerheblich, so muss das erst recht für die Sitzungsunterbrechungen gelten (vgl.
Beschluss des 2. Strafsenats des OLG Hamm vom 28.02.2006, a.a.O.; KG, OLG
Stuttgart, OLG Koblenz, jeweils a.a.O.). Denn auf solche Unterbrechungen hat der
Verteidiger ebenfalls keinen entscheidenden Einfluss. Sie werden vom Vorsitzenden
des Gerichts angeordnet. Diesem obliegt es daher auch, durch Beschränkung der
Sitzungsunterbrechung auf das notwendige Maß die Arbeitskraft des bestellten
Verteidigers während der Hauptverhandlung dem Gebührentatbestand entsprechend
möglichst ökonomisch einzusetzen. Wird aber die Inanspruchnahme des Verteidigers
mit Wartezeiten belastet, so muss sich das grundsätzlich zu Ungunsten der Staatskasse,
nicht aber des anwaltlichen Gebührenanspruches auswirken (vgl. OLG Koblenz und
OLG Hamm, jeweils a.a.O.). Auch längere Sitzungspausen sind daher nicht generell von
der Verhandlungsdauer in Abzug zu bringen. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob der
Verteidiger sie anderweitig für seine Berufsausübung sinnvoll hätte nutzen können,
wobei allerdings bei Sitzungsunterbrechungen während der Mittagszeit dem Verteidiger
eine Mittagspause von ca. einer Stunde zuzugestehen ist. Im Übrigen hängt die
Beantwortung der Frage, ob der Verteidiger Sitzungspausen zu einer anderweitigen
beruflichen Tätigkeit hätte nutzen können, von den Umständen des jeweiligen
Einzelfalls ab (vgl. OLG Hamm, OLG Stuttgart, OLG Koblenz, jeweils a.a.O.). Neben der
Dauer der Sitzungspause ist vor allem von Bedeutung, ob es sich um eine von
vornherein zu erwartende und in ihrer Länge absehbare Pause gehandelt hat, auf die
der Verteidiger sich einstellen konnte (vgl. OLG Hamm, OLG Koblenz und KG, jeweils
a.a.O.). Gegebenenfalls sind außerdem die Entfernung des Kanzleisitzes zum Gericht
und seine von den örtlichen Gegebenheiten abhängige Erreichbarkeit zu
berücksichtigen. Abzuziehen ist in jedem Fall auch eine auf Antrag des Verteidigers
angeordnete Sitzungsunterbrechung, die ihm die Wahrnehmung eines anderen Termins
ermöglichen soll (vgl. OLG Hamm und OLG Koblenz, jeweils a.a.O.). Bei einer nicht
vorhersehbaren Unterbrechung kann eine Anrechnung auf die Verhandlungsdauer auch
dann gerechtfertigt sein, wenn die Anordnung in Absprache mit dem Verteidiger und in
dessen Einverständnis erfolgt ist (vgl. Schmahl in Riedel/Sußbauer/Schmahl, a.a.O.).
Bei einer Anwendung dieser Grundsätze auf das vorliegende Verfahren kommt ein
Abzug der am 08.02.2005 und am 16.02.2005 erfolgten Sitzungsunterbrechungen nicht
in Betracht, und zwar schon deshalb nicht, weil sich der Kanzleisitz des
Beschwerdeführers in N befindet und bei einem Abzug der Fahrtzeiten von F nach N
und wieder zurück von den am 08.02.2005 stattgefundenen längeren
Sitzungsunterbrechungen von 1 Stunde und 31 Minuten sowie von 50 Minuten nur noch
ein Zeitraum verblieben wäre, der zu gering gewesen wäre, um ihn sinnvoll für eine
andere Tätigkeit nutzen zu können, wobei der Zeitraum für eine angemessene
Mittagspause noch nicht einmal berücksichtigt worden ist. Das Gleiche gilt für die am
16.02.2005 erfolgte Sitzungspause von 1 Stunde und 13 Minuten (12.09 bis 13.22 Uhr).
2.
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Entsprechend dem Antrag des Beschwerdeführers vom 20.02.2006 war dem
Beschwerdeführer darüber hinaus eine Verfahrensgebühr nach den Nummern 4104,
4105 VV RVG zuzubilligen, da er bereits im Vorverfahren für den ehemaligen
Angeklagten tätig geworden ist und dieser sich nicht auf freiem Fuß befand. Dass der
Beschwerdeführer im Vorverfahren noch nicht als Pflichtverteidiger beigeordnet worden
war, steht der Festsetzung dieser Vorverfahrensgebühr nicht entgegen. Denn gemäß §
48 Abs. 5 RVG erhält der Verteidiger, wenn er im ersten Rechtszug beigeordnet worden
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ist, wie es hier der Fall war, eine Pflichtverteidigervergütung auch für seine Tätigkeit vor
dem Zeitpunkt seiner Bestellung, in Strafsachen einschließlich seiner Tätigkeit vor
Erhebung der öffentlichen Klage.
Damit ergibt sich folgender Pflichtverteidigervergütungsanspruch:
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bereits festgesetzter Betrag (ohne Umsatzsteuer) 1.825,45 €
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zusätzliche Terminsgebühren nach
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Nr. 4116 VV RVG 216,00 €
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Verfahrensgebühr nach Nr. 4104
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mit Zuschlag (Nr. 4105) VV RVG 137,00 €
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Summe: 2.178,45 €
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zuzüglich Umsatzsteuer 348,55 €
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2.527,00 €.
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Auf diese Vergütung sind bereits ausgezahlte Gebühren anzurechnen.
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