Urteil des OLG Hamm vom 03.04.2008

OLG Hamm: abgabe, vertreter, verkündung, sachprüfung, form, pflichtverteidiger, anmerkung, ausländer, verbindlichkeit, rechtsmittelbelehrung

Oberlandesgericht Hamm, 2 Ws 97/08
Datum:
03.04.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 97/08
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 23 Ns 250 Js 951/07 II 30/08 JK.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten (§ 473 Abs.
1 StPO) verworfen.
Gründe:
1
I.
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Das Amtsgericht hat den Angeklagten durch Urteil vom 04. Dezember 2007 wegen
vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen verwarnt und einen Dauerarrest von zwei
Wochen verhängt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines
Verteidigers vom 05. Dezember 2007 Berufung eingelegt. In diesem Schriftsatz hat der
Angeklagte u. a. dargelegt, dass er einen Rechtsmittelverzicht nach der Verkündung des
Urteils in der Hauptverhandlung vom 04. Dezember 2007 nicht abgegeben habe. Auch
sein Vater habe auf Rechtsmittel nicht verzichtet. Das Landgericht hat durch den
angefochtenen Beschluss die Berufung des Angeklagten als unzulässig verworfen.
Hiergegen richtet sich nunmehr die sofortige Beschwerde des Angeklagten. Die
Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu
verwerfen.
3
II.
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Das Rechtsmittel ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Antrag, die sofortige Beschwerde als
unbegründet zu verwerfen, wie folgt begründet:
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"Die gem. § 322 Abs. 2 StPO statthafte sofortige Beschwerde des Angeklagten ist
zulässig, insbesondere fristgemäß eingelegt, in der Sache ist ihr der Erfolg jedoch
zu versagen.
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Der Umstand, dass auch die Staatsanwaltschaft Bochum gegen das Urteil des
Amtsgerichts Recklinghausen Berufung eingelegt hat, stand der Verwerfung der
Berufung des Angeklagten im Beschlusswege nicht entgegen, da zwar grds. über
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mehrere Berufungen betreffend einer Tat desselben Angeklagten nur durch
denselben Beschluss oder dasselbe Urteil entschieden werden kann, es aber
zulässig ist, die eine Berufung nach § 322 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verwerfen und
die andere zur Hauptverhandlung zu bringen (zu vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50.
Aufl., § 322, Rdnr. 4).
Das Landgericht – Auswärtige Strafkammer Recklinghausen – Bochum hat die
Berufung des Angeklagten zu Recht als unzulässig verworfen, da dieser wirksam
auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet hat.
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Ausweislich des Wortlauts des Hauptverhandlungsprotokolls haben sowohl der
Angeklagte als auch sein Vater nach Verkündung des Urteils und erfolgter
Rechtsmittelbelehrung erklärt:"Wir nehmen das Urteil an." Diese Erklärung wurde
laut vorgelesen und von dem Angeklagten und seinem Vater sodann genehmigt.
Dieser Vermerk nimmt gem. §§ 273 Abs. 3, 274 StPO an der Beweiskraft des
Protokolls teil.
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Zwar ist es mit der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts unvereinbar, auf die
Abgabe von Erklärungen hinzuwirken, deren Tragweite und Verbindlichkeit der
Erklärende nicht überschaut, wenn also einem nicht durch einen Verteidiger
vertretenen Angeklagten zugemutet wird, unter dem unmittelbaren Eindruck der
Hauptverhandlung und Urteilsverkündung auf prozessuale Rechte zu verzichten,
soweit nicht gesichert ist, dass der Angeklagte die Bedeutung seiner Erklärung in
allen Konsequenzen – insbesondere hinsichtlich der Unwiderruflichkeit –
erwogen hat. (zu vgl. BGH St 18, 257; 260; Brandenburgisches OLG, Beschluss
vom 04.06.2004, - 1 Ws 50/04 – m.w.N.). Dies muss im Besonderen für
Jugendliche, Heranwachsende oder der deutschen Sprache nicht mächtige
Ausländer ohne anwaltlichen Beistand gelten. Es ist daher dafür Sorge zu tragen,
dass eine solche Verzichtserklärung nicht unüberlegt und vorschnell abgegeben
wird.
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Schon der im Protokoll festgehaltene Vorgang und die gewählte Formulierung
legen indes nahe, dass der Anfechtungsberechtigte zu einer gründlichen und
durchdachten Prüfung des Für und Wider eines Rechtsmittels veranlasst worden
ist, um ihn vor übereilten Erklärungen zu bewahren.
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Dies ergibt sich insbesondere auch aus der dienstlichen Stellungnahme des
Vorsitzenden vom 28.12.2007 (Bl. 81 d. A.). Danach sind sowohl dem
Angeklagten als auch – mit dessen Übersetzung – seinem gesetzlichen Vertreter
die Problematik eines Verzichts auf Einlegung von Rechtsmitteln und dessen
Bedeutung klar gemacht und ist inbesondere darauf hingewiesen worden, dass
das Urteil damit endgültig sei.
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Anhaltspunkte dafür, dass dem Angeklagten und seinem gesetzlichen Vertreter
die Tragweite des Verzichts zum Zeitpunkt der Abgabe, z. B. aufgrund
sprachlicher Schwierigkeiten oder im Hinblick auf die geistige Entwicklung des
Angeklagten, nicht bewusst gewesen wäre, dass er in seiner freien
Willensbildung unzulässig beeinflusst gewesen wäre oder dass der erklärte
Rechtsmittelverzicht nicht dem wirklich Gewollten entsprochen hätte, bestehen
daher nicht. Letzterem steht auch der Umstand entgegen, dass der Angeklagte die
ihm zur Last gelegten Taten in der Hauptverhandlung eingeräumt und sein Vater
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um ein mildes Urteil gebeten hat.
Der Rechtsmittelverzicht ist auch nicht unwirksam, weil der Angeklagte vor der
Abgabe seiner Erklärung keine Gelegenheit zur Rücksprache mit einem
Verteidiger hatte. Ein Fall der notwendigen Verteidigung lag nicht vor. Die
Bestellung eines Pflichtverteidigers ist gemäß § 688 Abs. 1 Nr. 1 JGG i. V. m. §
140 Abs. 2 StPO erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen
Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers
geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst
verteidigen kann. Hierbei beurteilt sich die Schwere der Tat unter
Berücksichtigung der Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten vor allem nach der
zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, wobei die obergerichtliche
Rechtsprechung die diesbezügliche – nicht starre – Grenze bei einer Jugendstrafe
ab einem Jahr ansetzt (zu vgl. OLG Hamm, Urteil vom 14.05.2003, - 3 Ss 1163/02
– m. w. N.).
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Im vorliegenden Verfahren vor dem Jugendrichter bestand für den Angeklagten,
gegen den bislang freiheitsentziehende Maßnahmen noch nicht verhängt wurden,
eine entsprechende Straferwartung nicht. Auch die Sach- und Rechtslage des
Falles weist Schwierigkeiten nicht auf, so dass die Mitwirkung eines Verteidigers
nicht geboten war.
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Eine wirksam erklärter Rechtsmittelverzicht ist indes grundsätzlich unwiderruflich
und nicht anfechtbar (zu vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 302 Rdnr. 21 m. w. N.; BGH
NStZ 1984, 181)."
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Diesen überzeugenden Ausführungen tritt der Senat nach eigener Sachprüfung bei und
macht sie zum Gegenstand seiner Entscheidung. Auch nach der Rechtsprechung des
Senats war die Bestellung eines Pflichtverteidigers für den Angeklagten im
erstinstanzlichen Verfahren nicht erforderlich. Dazu hat der Senat letztmalig in seinem
Beschluss vom 19. November 2007 (2 Ss 322/07 OLG Hamm) Stellung genommen. Auf
den wird verwiesen. Der Senat verweist außerdem auf die Entscheidung vom 16.
August 2007 (2 Ws 228/07 OLG Hamm). Dort ist die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers bei einem gegen den Angeklagten des dortigen Verfahrens erkannten
Zuchtmittel in Form eines Freizeitarrestes abgelehnt worden. Dahin stehen kann die
Frage, ob dem Angeklagten ggf. für das Berufungsverfahren ein Pflichtverteidiger
beizuordnen ist. Insoweit weist der Senat allerdings darauf hin, dass die
Staatsanwaltschaft nach der Berufungsbegründung mit ihrer Berufung nunmehr die
Verhängung einer Jugendstrafe erstrebt.
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Der Vermerk des Tatrichters vom 28. Dezember 2007 gibt dem Senat Anlass zu
folgender Anmerkung:
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Nach Auffassung des Senats ist die Stellungnahme und die Begründung des
Schriftsatzes des Verteidigers des Angeklagten vom 05. Dezember 2007 in keiner
Weise zu beanstanden. Es handelt sich weder um "juristische Akrobatik", noch wird
versucht, "auf Biegen und Brechen" ein Abrücken vom Rechtsmittelverzicht zu
erreichen. Der Verteidiger hat vielmehr in sachlich angemessener Weise die Rechtslage
aus seiner Sicht dargelegt. Die Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten ist in
keiner Weise zu beanstanden.
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